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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gedanken und Thesen zum Corona-Regime

Sich an bestimm­te Regeln zu hal­ten, um sei­ne Mit­men­schen und sich selbst so gut wie mög­lich zu schüt­zen, dürf­te ange­sichts der Coro­na-Epi­de­mie sinn­voll sein – wenn damit die Aus­brei­tung des Virus ver­lang­samt, das krank gespar­te Gesund­heits­we­sen vor Über­la­stung bewahrt und das Leben beson­ders gefähr­de­ter Per­so­nen geschützt wer­den kann. Den­noch soll­ten wir die gegen­wär­ti­ge alp­traum­haf­te Situa­ti­on im Gefol­ge des Coro­na­vi­rus und diri­gi­sti­scher staat­li­cher Zwangs­maß­nah­men kri­tisch hin­ter­fra­gen sowie auf Ver­hält­nis- und Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit über­prü­fen. Schließ­lich gehört das zu einer leben­di­gen Demokratie.

Die fol­gen­den skep­ti­schen Gedan­ken und zuspit­zen­den The­sen sol­len dazu bei­tra­gen, die kom­ple­xe und unüber­sicht­li­che Pro­ble­ma­tik eini­ger­ma­ßen in den Griff zu bekom­men und bür­ger­recht­li­che Ori­en­tie­rung zu bie­ten für eine offe­ne und kon­tro­ver­se Debat­te – eine Debat­te, die aktu­ell immer noch unter Angst, Ein­sei­tig­keit und Kon­for­mi­täts­druck leidet.

Erstens: Das Coro­na­vi­rus gefähr­det nicht allein Gesund­heit und Leben von Men­schen, son­dern schä­digt auch ver­brief­te Grund- und Frei­heits­rech­te, Rechts­staat und Demo­kra­tie – »dank« der obrig­keits­staat­li­chen Abwehr­maß­nah­men, die tief in das Leben aller Men­schen ein­grei­fen: Abwehr­maß­nah­men, die schwer­wie­gen­de gesell­schaft­li­che, kul­tu­rel­le und wirt­schaft­li­che Kosten und dra­ma­ti­sche Lang­zeit­fol­gen verursachen.

Zwei­tens: Wir erle­ben einen gesund­heits­po­li­ti­schen Aus­nah­me­zu­stand in Echt­zeit und auf unbe­stimm­te Dau­er. Wie noch nie seit Bestehen der Bun­des­re­pu­blik wer­den durch die zwangs­be­wehr­ten Kon­takt- und Ver­samm­lungs­ver­bo­te ele­men­ta­re Grund- und Frei­heits­rech­te mas­siv ein­ge­schränkt, teil­wei­se voll­kom­men unter­drückt: All­ge­mei­nes Per­sön­lich­keits­recht, Recht auf Frei­zü­gig­keit, auf Hand­lungs­frei­heit, auf Bil­dung, auf Ver­samm­lungs-, Mei­nungs-, Kunst- und Reli­gi­ons­frei­heit sowie die Frei­heit der Berufs­aus­übung, die Gewer­be- und Rei­se­frei­heit. Prak­tisch das gesam­te pri­va­te, sozia­le, wirt­schaft­li­che, kul­tu­rel­le und reli­giö­se Leben eines gan­zen Lan­des mit 83 Mil­lio­nen Bewoh­nern kommt weit­ge­hend zum Erlie­gen – um Gesund­heit und Leben zu schüt­zen. Schutz­gü­ter, denen anson­sten nicht immer so viel Wert­schät­zung zuteil wird, den­ken wir nur etwa an Agrar­gif­te, Umwelt­be­la­stung, Ver­kehrs­to­te durch Rase­rei, 25.000 Tote pro Jahr durch mul­ti­re­si­sten­te Kran­ken­haus-Kei­me, Zig­tau­sen­de ertrun­ke­ne Flücht­lin­ge im Mit­tel­meer, Waf­fen­ex­por­te in Kri­sen­ge­bie­te und an Dik­ta­tu­ren, ver­hee­ren­de Wirt­schafts­sank­tio­nen oder Kriegsbeteiligungen.

Drit­tens: Unter sol­chen Bedin­gun­gen des Aus­nah­me­zu­stands ist jede orga­ni­sier­te Gegen­wehr und kol­lek­ti­ve Mei­nungs­äu­ße­rung im öffent­li­chen Raum tabu – ob in Form von Pro­te­sten, Demon­stra­tio­nen oder Streiks. So etwa Demos gegen den Aus­nah­me­zu­stand, gegen die Ent­wick­lung zum »tota­li­tä­ren Staat«, gegen die exi­stenz­be­dro­hen­den Fol­gen einer bevor­ste­hen­den Wirt­schafts­kri­se oder aber gegen die kol­lek­ti­ve Ver­drän­gung der kata­stro­pha­len Zustän­de in grie­chi­schen Flücht­lings­la­gern. So wird poli­ti­sche und sozia­le Teil­ha­be weit­ge­hend aus­ge­bremst, so wer­den Ver­samm­lungs­frei­heit und Streik­recht per All­ge­mein­ver­fü­gung aus­ge­he­belt und damit in ihrem Wesens­kern ver­letzt – in der Regel selbst dann, wenn die Akti­vi­sten Sicher­heits- und Abstands­re­geln beachten.

Vier­tens: Auch bei gro­ßer Gefahr sind staat­li­che Instan­zen gehal­ten, geset­zes- und ver­fas­sungs­ge­mäß zu han­deln – was jedoch in Zei­ten der »Coro­na-Kri­se« und unter dem Pri­mat der Gesund­heits­vor­sor­ge (»über­ra­gen­des Schutz­gut der mensch­li­chen Gesund­heit und des Lebens«) nicht mehr in Gän­ze zu gel­ten scheint. Doch auch in sol­chen Zei­ten sind die sozia­len Ver­wer­fun­gen und gesund­heit­li­chen Lang­zeit­fol­gen der Beschrän­kun­gen des täg­li­chen Lebens in die Abwä­gung zwi­schen Frei­heits­rech­ten, Gesund­heit und Leben ein­zu­be­zie­hen – was der­zeit offen­bar nicht geschieht. Denn in einem demo­kra­ti­schen Rechts­staat müs­sen sich die Bürger*innen auch in einer Kri­se dar­auf ver­las­sen kön­nen, dass in die Frei­heits­rech­te nicht unver­hält­nis­mä­ßig, nicht rechts- und ver­fas­sungs­wid­rig ein­ge­grif­fen wird.

Fünf­tens: Doch genau das pas­siert im Früh­jahr 2020 – sowohl mit dem ver­schärf­ten Infek­ti­ons­schutz­ge­setz als auch mit All­ge­mein­ver­fü­gun­gen und Ver­ord­nun­gen der Bun­des­län­der: In man­chen Län­dern ist etwa das Ver­las­sen der Woh­nung ohne trif­ti­gen Grund unter­sagt – was die Pri­vat- und Intim­sphä­re tan­giert. In Ber­lin wird schon das Lesen eines Buches auf einer ein­sa­men Park­bank oder Pick­nick mit zwei Per­so­nen poli­zei­lich geahn­det. In Sach­sen dür­fen sich Bewoh­ner nur im Umfeld ihrer Woh­nun­gen bewe­gen. Sol­che Ver­bo­te sind weder aus epi­de­mio­lo­gi­scher Sicht not­wen­dig, noch sind sie ver­hält­nis­mä­ßig. Sie gren­zen an Schi­ka­ne und Will­kür und müss­ten, eben­so wie die Schlie­ßung klei­ner Geschäf­te, unver­züg­lich auf­ge­ho­ben werden.

Sech­stens: Die mei­sten Anord­nun­gen des Bun­des und der Län­der dürf­ten hin­sicht­lich Kon­takt- und Ver­samm­lungs­ver­bo­ten ohne­hin nicht ver­fas­sungs­ge­mäß sein, weil dafür eine taug­li­che Rechts­grund­la­ge fehlt. So sieht es unter ande­rem auch die Staats­recht­le­rin Andrea Eden­har­ter: Das Infek­ti­ons­schutz­ge­setz erlau­be indi­vi­du­ell, zeit­lich und räum­lich nur »eng ein­ge­grenz­te Beschrän­kun­gen«. Wochen­lan­ge Ein­schrän­kun­gen der Bewe­gungs­frei­heit für das gesam­te Land und sei­ne gesam­te, über­wie­gend gesun­de Bevöl­ke­rung lie­ßen sich dar­aus nicht ablei­ten; das ver­let­ze den Ver­fas­sungs­grund­satz der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit (FR 26.3.2020). Der­zeit wer­den meh­re­re Kla­gen gegen die erlas­se­nen Ver­ord­nun­gen und Maß­nah­men vorbereitet.

Sieb­tens: Auch die par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie lei­det in der »Coro­na-Kri­se«: Die Oppo­si­ti­on scheint lahm­ge­legt, die demo­kra­ti­sche Kon­trol­le aus­ge­he­belt. Die Ver­schär­fung des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes, auf das die Kon­takt­ver­bots­maß­nah­men gestützt wer­den, erfolg­te im Schnell­ver­fah­ren – ohne Exper­ten-Anhö­run­gen und ohne Poli­tik­fol­gen­ab­schät­zung. Obwohl es sich um exi­sten­ti­el­le Maß­nah­men von gro­ßer Trag­wei­te han­delt. Jetzt kann der Bun­des­tag befri­stet die soge­nann­te epi­de­mi­sche Lage von natio­na­ler Trag­wei­te aus­ru­fen, sobald eine »ernst­haf­te Gefahr für die öffent­li­che Gesund­heit« fest­ge­stellt wird – mit der Fol­ge, dass weit­rei­chen­de Macht- und Ent­schei­dungs­be­fug­nis­se vom Par­la­ment auf den Bun­des­ge­sund­heits­mi­ni­ster über­tra­gen wer­den. Die­sen Gesund­heits­not­stand hat der Bun­des­tag gleich am 26. März öffent­lich deklariert.

Ach­tens: Nach dem novel­lier­ten Infek­ti­ons­schutz­ge­setz kann der Bun­des­ge­sund­heits­mi­ni­ster per Dekret Gren­zen schlie­ßen las­sen, Mel­de­pflich­ten anord­nen, Qua­ran­tä­ne-Bestim­mun­gen erlas­sen, Vor­ga­ben zur Ver­sor­gung mit Medi­ka­men­ten und Schutz­aus­rü­stung machen, Ein­schrän­kun­gen der Bewe­gungs- und Rei­se­frei­heit sowie Auf­ent­halts- und Kon­takt­ver­bo­te ver­fü­gen, eben­so Tätig­keits­ver­bo­te für bestimm­te Berufs­grup­pen, Ver­bo­te von Ver­an­stal­tun­gen bis hin zur Schlie­ßung öffent­li­cher und pri­va­ter Ein­rich­tun­gen et cete­ra. Die Ver­bo­te sind mit Poli­zei­ge­walt durch­setz­bar, Zuwi­der­hand­lun­gen wer­den mit dra­sti­schen Buß­gel­dern und Stra­fen bedroht. Außer­dem kann der Mini­ster Aus­nah­men von gel­ten­den Geset­zen ver­fü­gen, etwa um Medi­ka­men­te oder Impf­stof­fe unter erleich­ter­ten Bedin­gun­gen zuzu­las­sen. Mit die­sen Rege­lun­gen wird die ver­fas­sungs­recht­li­che Bin­dung der Regie­rung an Geset­ze unter­lau­fen. Sol­che zen­tra­li­sier­ten Blan­ko-Ermäch­ti­gun­gen der Exe­ku­ti­ve ohne par­la­men­ta­ri­sche Kon­trol­le und Län­der­mit­wir­kung unter­mi­nie­ren die Ver­fas­sungs­grund­sät­ze der Gewal­ten­tei­lung und des Föde­ra­lis­mus, wes­halb die­se Ermäch­ti­gungs­nor­men nach Auf­fas­sung etli­cher Verfassungsrechtler*innen auch ver­fas­sungs­wid­rig sein dürften.

Neun­tens: In der Kri­se besteht dar­über hin­aus die Gefahr, dass ohne­hin pro­ble­ma­ti­sche Trends noch ver­stärkt wer­den: So die Mili­ta­ri­sie­rung der »Inne­ren Sicher­heit« sowie die zuneh­men­de staat­li­che Über­wa­chung. Bun­des­ge­sund­heits­mi­ni­ster Jens Spahn (CDU) strebt wei­ter­hin die Ortung von Han­dys an: Auf die­se Wei­se könn­ten auto­ma­ti­siert Bewe­gungs- und Ver­hal­tens­mu­ster der Mobil­funk-Nut­zer erstellt wer­den, um fest­zu­stel­len, mit wel­chen Per­so­nen Infi­zier­te Kon­takt hat­ten. Das wäre ein schwe­rer Ver­stoß gegen das Grund­recht auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung. Die Wei­ter­ga­be anony­mer Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­da­ten unter ande­rem durch die Tele­kom an das Robert-Koch-Insti­tut erfolgt bereits seit Län­ge­rem. Und künf­tig sol­len es Apps auf Han­dys rich­ten, die über Blue­tooth sämt­li­che Kon­tak­te zu ande­ren Han­dys mit Apps in der Nähe regi­strieren und für bestimm­te Zeit spei­chern. Damit könn­ten im Fal­le der Infi­zie­rung eines der Han­dy­be­sit­zer die ande­ren infor­miert wer­den. Dies sol­le auf »frei­wil­li­ger Basis und anony­mi­siert« gesche­hen. Ob das wirk­lich funk­tio­niert, ist frag­lich, vor allem wenn nicht eine star­ke Mehr­heit von Han­dy­be­sit­zern sol­che Apps instal­liert. Im Übri­gen ist Vor­sicht gebo­ten, weil die digi­ta­le Über­wa­chung sozia­ler Kon­tak­te mehr als hei­kel wäre – und mög­li­cher­wei­se ein Ein­falls­tor für wei­te­re Begier­den. So wer­den von eini­gen Gesund­heits­be­hör­den bereits ille­gal per­sön­li­che Daten von Coro­na-Infi­zier­ten und Kon­takt­per­so­nen an die Poli­zei gemel­det. Whist­le­b­lower Edward Snow­den warn­te ange­sichts der Coro­na-Über­wa­chungs­phan­ta­sien bereits vor einem wei­te­ren Schritt in den Überwachungsstaat.

Zehn­tens: Noch eine Trend-Ver­stär­kung droht im Zuge der »Coro­na-Kri­se«: Die Bun­des­wehr wird bereits im Logi­stik- und Sani­täts­be­reich und für Des­in­fek­ti­ons­auf­ga­ben unter­stüt­zend ein­ge­setzt – was sicher sinn­voll ist. Sie hat bereits 15.000 Sol­da­ten für den Inlands­ein­satz zur Unter­stüt­zung von Län­dern und Kom­mu­nen mobi­li­siert, berei­tet sich aber auch auf die Unter­stüt­zung der Poli­zei vor. Doch poli­zei­ähn­li­che Exe­ku­tiv­be­fug­nis­se des Mili­tärs im Inland sind ver­fas­sungs­recht­lich umstrit­ten, da Poli­zei und Mili­tär, ihre Auf­ga­ben und Befug­nis­se strikt zu tren­nen sind – eine wich­ti­ge Leh­re aus der deut­schen Geschich­te. Die Bun­des­wehr ist kei­ne natio­na­le Sicher­heits­re­ser­ve im Inland, schon gar nicht mit hoheit­li­chen Kom­pe­ten­zen und mili­tä­ri­schen Mit­teln. Sol­da­ten sind kei­ne Hilfs­po­li­zi­sten, sie sind nicht für poli­zei­li­che Auf­ga­ben nach dem Grund­satz der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit, son­dern zum Krieg­füh­ren aus­ge­bil­det und mit Kriegs­waf­fen aus­ge­rü­stet; und sie sind auch nicht dafür da, per­so­nel­le Defi­zi­te der Poli­zei auszugleichen.

Elf­tens: Inzwi­schen sind die wirt­schaft­li­chen Fol­gen der ver­ord­ne­ten Ein­schrän­kun­gen in den Fokus gera­ten und sol­len mit einem umfang­rei­chen und mil­li­ar­den­schwe­ren Hilfs­pa­ket der Bun­des­re­gie­rung abge­mil­dert wer­den – was jedoch beruf­li­che Exi­stenz­ver­lu­ste nicht ver­hin­dern wird. Weit weni­ger im Blick der öffent­li­chen Dis­kus­si­on sind die dro­hen­den sozia­len Ver­wer­fun­gen – beson­ders bedroh­lich für sozi­al Benach­tei­lig­te, Arme, Obdach­lo­se und Geflüch­te­te. Auch die gesund­heit­li­chen Lang­zeit­schä­den wer­den zum gesell­schaft­li­chen Pro­blem: Denn das wochen-, mög­li­cher­wei­se mona­te­lan­ge Kon­takt- und Ver­samm­lungs­ver­bot kann zu Ver­ein­sa­mung und sozia­ler Ver­elen­dung füh­ren, zu exi­sten­ti­el­lem Stress und psy­chi­schen Stö­run­gen, zu Spiel- und Alko­hol­sucht, zu Depres­sio­nen und Sui­zid­ge­fahr, aber auch zu Aggres­sio­nen und häus­li­cher Gewalt. All das sind Risi­ko­fak­to­ren für Krank­heits­häu­fig­keit und höhe­re Sterb­lich­keit. »Wenn jetzt ein­zel­ne Todes­fäl­le ver­hin­dert wer­den, sich dafür aber in den näch­sten Jah­ren die Gesamt­sterb­lich­keit in der Bevöl­ke­rung erhöht, wäre die Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der Mit­tel nicht gewahrt«, mahnt Ste­fan Wil­lich, der Direk­tor des Insti­tuts für Sozi­al­me­di­zin, Epi­de­mio­lo­gie und Gesund­heits­öko­no­mie der Ber­li­ner Cha­ri­té (Tages­spie­gel 24.3.2020).

Zwölf­tens: Dass in angst­er­füll­ten Zei­ten der »Coro­na-Kri­se« und der poli­tisch und mas­sen­me­di­al stark befeu­er­ten Unsi­cher­heit nur weni­ge nach dem hohen Preis rigi­der staat­li­cher Ein­grif­fe fra­gen, ist ange­sichts der gesund­heit­li­chen Gefähr­dun­gen zwar auf den ersten Blick nach­voll­zieh­bar, aber auf Dau­er kurz­sich­tig. Denn lang­fri­stig könn­ten sich Abwehr­maß­nah­men die­ser Art auf die Gesell­schaft zer­stö­re­ri­scher aus­wir­ken als die Abwehr­grün­de selbst. »Ansteckend ist Coro­na und ansteckend ist die Angst davor«, schreibt Heri­bert Prantl (Süd­deut­sche Zei­tung) Mit­te März: »Angst macht süch­tig nach allem, was die Angst zu lin­dern ver­spricht.« Aber man müs­se doch fra­gen, »was ange­rich­tet wird, wenn Grund­rech­te und Grund­frei­hei­ten still­ge­legt und das gesell­schaft­li­che Mit­ein­an­der aus­ge­setzt wer­den«. Doch wenn Gefahr und Ver­un­si­che­rung nur groß genug erschei­nen, dann nimmt der Groß­teil der Bevöl­ke­rung gesell­schaft­li­che und indi­vi­du­el­le Ein­schrän­kun­gen offen­bar zustim­mend, resi­gnie­rend oder aber will­fäh­rig hin, teil­wei­se auch in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam. Anschei­nend bekommt die Sehn­sucht nach auto­ri­tä­rer Füh­rung und auto­ri­tä­ren »Lösun­gen«, nach kla­ren Ansa­gen und Anord­nun­gen sowohl in Zei­ten des Ter­rors als auch in Zei­ten von Coro­na – über­haupt in Zei­ten von Kri­sen, Kata­stro­phen und Unsi­cher­heit – erheb­li­chen Auf­wind. Der hilf­lo­se Schrei nach dem star­ken auto­ri­tä­ren Staat ist unüberhörbar.

Drei­zehn­tens: Das zeigt die rie­sen­gro­ße Akzep­tanz der immer dra­sti­sche­ren Ein­schrän­kungs­maß­nah­men, mit denen extre­me Ein­grif­fe in die Frei­heits­rech­te ver­bun­den sind: 88 Pro­zent der Befrag­ten sind damit ein­ver­stan­den. Jeder Drit­te wünscht sich sogar noch här­te­re Ein­schrän­kun­gen, Zwei­drit­tel erwar­ten noch wei­te­re Ver­bo­te zur Ver­mei­dung zwi­schen­mensch­li­cher Kon­tak­te. Nur acht Pro­zent der Bun­des­deut­schen hal­ten die Maß­nah­men für über­zo­gen (SZ 26.3.2020). Der Histo­ri­ker René Schlott spricht von »erschüt­tern­der Bereit­wil­lig­keit sei­tens der Bevöl­ke­rung«, die Außer­kraft­set­zung von Rech­ten als alter­na­tiv­los hin­zu­neh­men, »die in Jahr­hun­der­ten müh­sam erkämpft wor­den sind«. Er spricht ange­sichts der Kon­takt­sper­ren und Ver­samm­lungs­ver­bo­te vom »Ren­dez­vous mit dem Poli­zei­staat« und warnt davor, die »offe­ne Gesell­schaft zu erwür­gen, um sie zu ret­ten« (Augs­bur­ger All­ge­mei­ne 18.3.2020; Spie­gel 1.4.2020).

Vier­zehn­tens: Doch trotz grund­sätz­li­cher Akzep­tanz in der Bevöl­ke­rung wächst all­mäh­lich Unmut. Tat­säch­lich wäre es abso­lut unver­hält­nis­mä­ßig und damit ver­fas­sungs­wid­rig, die gan­ze Bevöl­ke­rung für Mona­te weit­ge­hend ein­zu­sper­ren – oder gar so lan­ge, bis ein Impf­stoff gefun­den wird. Der frü­he­re Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, Hans-Jür­gen Papier, warnt vor der »Ero­si­on des Rechts­staats«, soll­ten sich die »extre­men Ein­grif­fe in die Frei­heit aller« noch lan­ge hin­zie­hen (faz.net 2.4.2020). Poli­tik und Ver­wal­tung müss­ten des­halb immer wie­der prü­fen, ob weni­ger ein­schnei­den­de Maß­nah­men mög­lich sei­en. Doch eine trag­fä­hi­ge und nach­voll­zieh­ba­re Exit-Stra­te­gie, die aus der Läh­mung des öffent­li­chen Lebens her­aus­füh­ren könn­te, gibt es bei Ossietzky-Redak­ti­ons­schluss immer noch nicht – auch wenn der Ruf nach einem abge­stuf­ten Aus­stiegs­sze­na­rio lau­ter wird.

Fünf­zehn­tens: Die Coro­na-Not­stands­maß­nah­men füh­ren mit Sicher­heit in eine schar­fe Wirt­schafts-, Gesell­schafts-, Demo­kra­tie- und Ver­fas­sungs­kri­se. Und es besteht die Gefahr, dass sie einen Beschleu­ni­gungs- und Gewöh­nungs­ef­fekt aus­lö­sen in Rich­tung der Nor­ma­li­sie­rung von Aus­nah­me­recht. Und so fragt Heri­bert Prantl zu Recht, ob die Coro­na-Kri­se wohl »zur Blau­pau­se für das Han­deln in ech­ten oder ver­meint­li­chen Extrem­si­tua­tio­nen« wer­den könn­te. Und womög­lich nicht nur in Extrem­si­tua­tio­nen, son­dern auch im All­tag. Denn der moder­ne Aus­nah­me­zu­stand ten­diert dazu, zum recht­li­chen Nor­mal­zu­stand der Kri­sen­ver­hü­tung und Kri­sen­be­wäl­ti­gung zu mutie­ren. Wie im Zuge der Anti­ter­ror-Auf­rü­stungs­po­li­tik nach 9/​11, als der Aus­nah­me­zu­stand nach und nach ver­recht­licht wur­de – mit Geset­zen, die Frei­heits­rech­te beschnei­den und längst schon als »Not­stands­ge­set­ze für den All­tag« qua­li­fi­ziert wer­den kön­nen. Nun folgt also die Ver­recht­li­chung des Gesund­heits­not­stands; und auch hier droht der Aus­nah­me­zu­stand zum Nor­mal­zu­stand zu wer­den – wie es der Sozio­lo­ge Ulrich Beck ange­sichts der Ent­wick­lung einer »Risi­ko­ge­sell­schaft« schon Mit­te der 1980er Jah­re pro­gno­sti­zier­te. Jetzt ist höch­ste Wach­sam­keit gefragt, damit sich der Aus­nah­me­zu­stand nicht all­mäh­lich nor­ma­li­siert und die auto­ri­tä­re Wen­de sich nicht verfestigt.