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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gefühlskälte durch Schuldumkehr

Es ist für mich, der ich in eine über­le­ben­de jüdi­sche Fami­lie hin­ein gebo­ren wur­de, unfass­bar, mit wel­cher Gefühls­käl­te angeb­lich christ­li­che Poli­ti­ker, Kir­chen­leu­te und ver­meint­lich gebil­de­te Redak­teu­re der Leit­me­di­en, ja, selbst einst mehr oder weni­ger, lin­ke Frie­dens­be­weg­te, sich heu­te die Waf­fen­lo­gik des Krie­ges zu eigen machen und nur noch die Spra­che des mili­tä­ri­schen Sie­ges und der Mil­li­ar­den ver­schlin­gen­den Auf­rü­stung ken­nen! Ein demo­kra­ti­scher Dia­log, auf Augen­hö­he, über die tie­fe­ren histo­ri­schen Hin­ter­grün­de des Ukrai­ne-Krie­ges ist der­zeit voll­stän­dig blockiert. Die­se Hal­tun­gen der Nato-Poli­ti­ker glei­chen der Ver­göt­te­rung des Krie­ges und des Tötens, nicht aber der durch Ver­nunft und reli­giö­se Gebo­te gefor­der­ten Got­tes­lie­be, Näch­sten­lie­be, die es bekannt­lich ohne Selbst­lie­be nicht gibt. Sol­che ani­ma­li­schen Zustän­de: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, ohne die gering­ste Empa­thie für die Kriegs­to­ten und Kriegs­flücht­lin­ge, exi­stie­ren schon seit Men­schen­ge­den­ken. Sie offen­bar­ten sich, mit Blick auf Deutsch­land, bekannt­lich beson­ders im 20. Jahr­hun­dert mit Mil­lio­nen Toten und unsag­ba­ren Zerstörungen.

Hier scheint sich an Gefühls­käl­te und histo­ri­schen Fehl­ein­schät­zun­gen bei den poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen sowie in der Mit­te der Gesell­schaft nach 1945 kaum etwas geän­dert zu haben, wenn wir die öffent­lich domi­nan­ten Reak­tio­nen zum Ukrai­ne-Krieg und den unre­flek­tier­ten Rus­sen-Hass beden­ken, die alle Sor­gen und Beden­ken, alle nach Frie­den suchen­den Gegen­dar­stel­lun­gen nur ver­ächt­lich machen, mar­gi­na­li­sie­ren und ins Lee­re lau­fen las­sen wollen.

Ohne die uner­bitt­li­che Kriegs­stra­te­gie aller Sei­ten zu recht­fer­ti­gen, die bis­her nicht eine Ver­hand­lungs­lö­sung prio­ri­sie­ren kön­nen, liegt das tie­fe­re Geheim­nis der ideo­lo­gi­schen Apo­loge­tik die­ses Krie­ges m. E. in der ukrai­nisch-west­li­chen »Täter-Opfer-Umkehr«, der Schuld­um­kehr (»Vik­tim bla­ming« nach Wil­liam Ryan). Die Haupt­schuld des Krie­ges wird den ursprüng­lich, rus­si­schen Opfern zuge­schrie­ben, die eine radi­ka­le Abspal­tung der Ukrai­ne von Russ­land nicht akzep­tie­ren woll­ten und dafür Jah­re lang beschos­sen wur­den. Anstatt ernst­haf­ten Bei­stand und Hil­fe für eine fried­li­che Koexi­stenz von Rus­sen und Ukrai­nern zu lei­sten, erfah­ren nur die Rus­sen Ankla­ge und Beschuldigung.

Ich fra­ge mich schon seit lan­gem: Wie ist ein sol­ches sei­ten­ver­kehr­tes Geschichts­bild mög­lich? Was läuft bereits in der emo­tio­na­len und histo­ri­schen Erzie­hung bei Kin­dern und Jugend­li­che grund­ver­kehrt, dass eine zuneh­men­de Gefühls­käl­te um sich greift, obwohl gleich­zei­tig behaup­tet wird, dass die »Wür­de des Men­schen unan­tast­bar« sei, wie es im Arti­kel 1 des Grund­ge­set­zes heißt. Auch die­ses Gebot hat sich doch längst als pure Ideo­lo­gie ent­larvt, wenn wir nur dar­an den­ken, wie repres­siv mit Anti­fa­schi­sten einer­seits und nach­sich­tig mit Nazis ande­rer­seits seit 1945 in der Bun­des­re­pu­blik umge­gan­gen wur­de und wie vie­le Men­schen heu­te noch zu Opfern frem­den- und frau­en­feind­li­cher Aktio­nen wer­den, oder wel­che repres­si­ve Ton­la­ge in den Arbeits- und Miet­ver­hält­nis­sen an der Tages­ord­nung ist.

Ich den­ke, dass die­se, in Arm und Reich, in Mäch­ti­ge und Macht­lo­se zutiefst gespal­te­te, angeb­lich »freie« Gesell­schaft, in der ein unbarm­her­zi­ges Lei­stungs­prin­zip herrscht, sich auch in vor­herr­schen­den Erzie­hungs­prin­zi­pi­en in Fami­li­en, im Bil­dungs­we­sen, in der Poli­tik und in den Medi­en repro­du­ziert. So steht nicht huma­ni­sti­sche Näch­sten- und Selbst­lie­be im Mit­tel­punkt der Erzie­hung und Gesell­schafts­pra­xis, son­dern die Ver­mitt­lung uni­ver­sel­ler Ratio­na­li­tät und dis­zi­pli­nier­te, ja, mili­tan­te Unter­ord­nung und Selbst­be­haup­tung im Exi­stenz­kampf jeder gegen jeden. Der Lei­stungs­sport, der Kampf im Auto­ver­kehr auf den Stra­ßen etwa, der Umgang mit Flücht­lin­gen, die über das Mit­tel­meer kom­men, aber auch die unver­meid­li­chen Kri­mi­nal­se­ri­en, unter­bro­chen von Wer­be­spots, in den TV-Pro­gram­men, alles das sind Abbil­der die­ser bein­har­ten Klas­sen­ge­sell­schaft, die dem natio­na­li­sti­schen Rechts­ra­di­ka­lis­mus Vor­schub lei­stet. Doch die­se krie­ge­ri­schen Zustän­de wer­den meist als völ­li­ge Nor­ma­li­tät, ja, sogar als span­nen­de Unter­hal­tung in den Medi­en prä­sen­tiert. Da ist es nicht ver­wun­der­lich, mit wel­cher Gefühls­käl­te Poli­ti­ker und Medi­en hier täg­lich über Lie­fe­run­gen von Tod brin­gen­den Waf­fen­gat­tun­gen aller Art gegen Rus­sen schwa­dro­nie­ren, ohne die natio­na­li­sti­schen ukrai­ni­schen Macht­ha­ber und ihre Hin­ter­män­ner genau­er zu analysieren.

Sich die­sen über­mäch­ti­gen, inhu­ma­nen Gesell­schafts­bil­dern zu ent­zie­hen, emp­fin­de ich im All­tag und in der eige­nen Lebens­ge­schich­te als eine kaum zu bewäl­ti­gen­de Her­aus­for­de­rung und emo­tio­na­le Bela­stung, auf­grund mei­ner Fami­li­en­ge­schich­te. Was also kön­nen wir tun, um uns die­ser selbst­zer­stö­re­ri­schen Gefühls­käl­te in der fami­liä­ren und gesell­schaft­li­chen Sphä­re zu ent­zie­hen, ja, mit lei­den­schaft­li­cher Warm­her­zig­keit ent­ge­gen­zu­stel­len? Offen­bar sind die schein­bar ver­nünf­ti­gen mora­li­schen und gesetz­li­chen Gebo­te, das Grund­ge­setz oder sogar die Char­ta der Ver­ein­ten Natio­nen mit ihrer Erklä­rung der Men­schen­rech­te über­wie­gend mora­li­sie­ren­de Wunsch­vor­stel­lun­gen, die in einer sozi­al und natio­nal gespal­te­ten, kapi­ta­li­sti­schen Lei­stungs­ge­sell­schaft nicht ein­ge­hal­ten wer­den und kaum ein­ge­hal­ten wer­den kön­nen, auf­grund der uni­ver­sel­len gesell­schaft­li­chen Zwän­ge und deren ideo­lo­gi­sche Rechtfertigungen.

Ein wohl nütz­li­ches Umden­ken könn­te bereits in der Erzie­hung von Kin­dern und Jugend­li­chen begin­nen. Die Bil­dungs­zie­le in Eltern­häu­sern und Bil­dungs­we­sen ste­hen viel­fach auf dem Kopf: Es soll­te ein Pri­mat der emo­tio­na­len vor der ratio­na­len Erzie­hung exi­stie­ren und nicht umge­kehrt! D. h. die Ver­mitt­lung von künst­le­ri­schen Fächern, von sozia­len und poli­ti­schen Kom­pe­ten­zen, von Empa­thie und Her­zens­wär­me soll­ten zunächst ein nach­hal­ti­ges, huma­ni­sti­sches Fun­da­ment und Gesell­schafts­bild ver­mit­teln, ehe eine Spe­zia­li­sie­rung auf natur­wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche Fächer usw. erfolgt. Aber auch hier herrscht das Prin­zip des »Nürn­ber­ger Trich­ters«, der oft nur Schul­stress und Schul­ver­wei­ge­rung ver­ur­sacht, anstatt soli­des Grund­la­gen­wis­sen und sozia­le Kom­pe­ten­zen zu vermitteln.

Es ist auch viel stär­ker zu hin­ter­fra­gen, ob die öffent­lich-recht­li­chen Medi­en ihrem Kul­tur­auf­trag und der demo­kra­ti­schen Mei­nungs­viel­falt wirk­lich gerecht wer­den. Anstatt etwa wert­vol­le, gesell­schafts­kri­ti­sche Fil­me aus der reich­hal­ti­gen deut­schen und inter­na­tio­na­len Film­ge­schich­te zu zei­gen, wer­den viel­fach ame­ri­ka­ni­sche oder ame­ri­ka­ni­sier­te Kri­mi­nal­se­ri­en gebo­ten oder bil­li­ge Quiz- und Talk­sen­dun­gen. So wer­den kon­for­me Men­schen­bil­der ver­mit­telt, die die Zuschau­er zu blo­ßen Kon­su­men­ten einer Welt machen, in der tat­säch­li­che oder schein­bar pro­mi­nen­te und gut­ver­die­nen­de Lei­stungs­trä­ger als durch­set­zungs­star­ke Vor­bil­der vor­ge­führt wer­den, die sich in der aggres­si­ven Kon­kur­renz­ge­sell­schaft erfolg­reich her­vor­ge­tan haben.

Schließ­lich ist zu hin­ter­fra­gen, ob die gesell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen und Par­tei­en aus­rei­chend nie­der­schwel­li­ge Treff­punk­te anbie­ten, damit sich mehr Men­schen in Wohn­nä­he poli­tisch enga­gie­ren und ihr demo­kra­ti­sches Mit­spra­che­recht aktiv aus­üben und auch erler­nen kön­nen. Da vie­le Orga­ni­sa­tio­nen in Stadt­tei­len und Gemein­den gar kei­ne ent­spre­chen­den Räu­me haben oder unter­hal­ten kön­nen, ist es nicht ver­wun­der­lich, dass rela­tiv weni­ge Men­schen ihr Men­schen­recht auf gesell­schaft­li­che Mei­nungs­bil­dung und Mit­ge­stal­tung aktiv wahr­neh­men und vie­le gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen und Par­tei­en an Mit­glie­der­schwund leiden.

Ich weiß, dass alle die­se Vor­schlä­ge in den Wind geschrie­ben und gespro­chen sind. Aber im digi­ta­len Zeit­al­ter hät­ten gera­de Gewerk­schaf­ten und auch lin­ke Par­tei­en wohl eine erneu­te Chan­ce, nicht nur von »Oben« nach »Unten« zu agie­ren, son­dern umge­kehrt: die Mei­nungs­bil­dung von »Unten« nach »Oben« demo­kra­tisch zu orga­ni­sie­ren, indem sie Sor­gen und Nöte der Men­schen im All­tag, gera­de auch, was exi­sten­zi­el­len Fra­gen von Krieg oder Frie­den für das All­tags­le­ben vie­ler Men­schen bedeu­ten, viel stär­ker als bis­her beach­ten. Solch demo­kra­ti­scher Über­tra­gungs­pro­zess ist m. E. nach­hal­tig gestört, wenn über 50 Pro­zent der Bevöl­ke­rung hier­zu­lan­de gegen den Kon­fron­ta­ti­ons­kurs der Regie­ren­den durch immer mehr Waf­fen­lie­fe­run­gen und für Ver­hand­lun­gen sind, sich aber dadurch an der Kriegs­trei­be­rei nichts ändert, son­dern die­se mit unfass­ba­rer Gefühls­käl­te immer wei­ter­ge­trie­ben wird, und das von allen Par­tei­en, die einst mit ihrer pro­gram­ma­ti­schen »Frie­dens­po­li­tik« auf Wäh­ler­fang gingen.

Zudem wird täg­lich ein ver­lo­ge­nes, har­mo­ni­sie­ren­des Gesell­schafts­bild ver­mit­telt, dass hier­zu­lan­de und anders­wo angeb­lich Klas­sen­un­ter­schie­de längst ein­ge­eb­net wur­den und des­halb ein natio­na­les Gemein­schafts­ge­fühl besteht, dass durch die herr­schen­den Poli­ti­ker und Leit­me­di­en ver­tre­ten wird. In Wirk­lich­keit lähmt die­ses Trug­bild Men­schen, sich gegen die bestehen­den Klas­sen- und Natio­nen-Spal­tun­gen auf­zu­leh­nen, um mit­zu­hel­fen, sie wei­ter aktiv zurück­zu­drän­gen. Das ist die größ­te Schwä­che der Sozi­al­de­mo­kra­tie und auch der Grü­nen, die gleich­falls das ideo­lo­gi­sche Zerr­bild ver­mit­teln, dass wir letzt­lich alle in einem Boot säßen. Damit läh­men sie selbst ihre eige­ne Kampf­kraft und den Zulauf aus der Bevöl­ke­rung. Das trifft lei­der in noch viel stär­ke­rem Maße auch auf ihre selbst­mör­de­ri­sche Außen­po­li­tik zu, die den Schul­ter­schluss mit den reak­tio­när­sten Kräf­ten der USA und der Nato sucht, um das Modell ihrer sozi­al unge­rech­ten, eis­kal­ten Gesell­schafts­ord­nung gewalt­sam mög­lichst auf die gan­ze Welt zu über­tra­gen, und uns glau­ben machen will, dass das die wah­re »Volks­herr­schaft« sei. Mich erin­nern die Vasal­len-Aus­sa­gen von SPD-Scholz, wonach die Bezie­hun­gen zwi­schen Deutsch­land und den USA heu­te so gut wie lan­ge nicht mehr sind, an die Kriegs­aus­sprü­che von Hin­den­burg: »Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur.«

Doch von die­ser Kriegs­ideo­lo­gie der »wei­ßen« und »christ­li­chen« Kolo­ni­al­her­ren las­sen sich die gepei­nig­ten und Jahr­hun­der­te lang aus­ge­beu­te­ten und gemor­de­ten Völ­ker nicht so ohne wei­te­res auf Dau­er täu­schen, wie die Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­dert beweist. Das ist und bleibt mei­ne ein­zi­ge Hoffnung.