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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kamener Splitter

  1. Wir sind arm. Mein Vater ist Berg­mann, obwohl er viel zu schwach ist für die har­te Arbeit vor Koh­le. Für die Arbeit im Loch, wie mei­ne Mut­ter sagt. Son­der­schich­ten, die gut bezahl­te Arbeit als Hau­er direkt vor Koh­le, das alles kommt für ihn nicht in Fra­ge. Aber wir las­sen uns nichts gefal­len. Wir besit­zen ein altes Fach­werks­haus, brau­ne Bal­ken, gel­be Fel­der. Nein, wir müs­sen uns nicht ver­stecken. Sowie­so weh­ren wir uns, wenn uns Unrecht geschieht.

Der Rek­tor der Volks­schu­le, die ich besu­che, gibt mir in Rech­nen ein »Ziem­lich gut«. Mei­ne Mut­ter ist empört. »Unser Heinz­ken ist nicht ziem­lich gut, der ist rich­tig gut!«

Sie muss nur die Stra­ße über­que­ren, dann ist sie schon auf dem Schul­hof. Dort führt mein Klas­sen­leh­rer gera­de Auf­sicht. Es ist Jür­gen Gir­gen­sohn, der spä­ter als Kul­tus­mi­ni­ster mein ober­ster Chef wur­de. Er macht ihr Mut: »Ja, beschwe­ren Sie sich, Frau Peuck­mann. Heinz ist gut.«

Der Rek­tor, Anzug mit Flie­ge, ver­gleicht mei­ne Rechen­lei­stung mit Mit­schü­lern aus mei­ner Klas­se. Ja, er ist bes­ser als die­ser oder jener, aber Ket­ten­auf­ga­ben löst ein ande­rer schnel­ler als er.

»Kommt es denn aufs Tem­po an?«, will mei­ne Mut­ter wis­sen, »wich­tig ist doch, dass das Ergeb­nis stimmt.«

Der Rek­tor gibt schließ­lich nach. Er streicht das »Ziem­lich« und doku­men­tiert es durch das Kür­zel sei­ner Unter­schrift am Rand des Zeugnisses.

Mei­ne Mut­ter kommt tri­um­phie­rend zurück. »Hier, das kommt jetzt in die Map­pe zu den ande­ren Zeug­nis­sen. Wir las­sen uns nichts gefal­len.« Sie schaut mich durch­drin­gend an.

»Nein Mama, tun wir nicht.«

*

  1. Wir sind Selbst­ver­sor­ger. Im Stall neben dem Hof hal­ten wir ein Schwein. Wenn ich sein Fut­ter in den Trog fül­le, streckt es die Schnau­ze und schlab­bert hek­tisch alles weg.

»Lass dir Zeit«, sage ich, »je schnel­ler du fett bist, desto frü­her kommt dein Ende.« Aber das Schwein hört nicht. Eines Tages, als ich von der Schu­le kom­me, hängt es zwei­ge­teilt auf der Lei­ter. Bin ich trau­rig, weil ich es doch gefüt­tert habe? Nein, bin ich nicht. Wir haben jetzt Fleisch für vie­le Wochen. Ich tre­te an das Schwein her­an. »Habe ich dich nicht gewarnt«, sage ich. »Aber du woll­test ja nicht hören und hast gefres­sen so viel du konn­test. Jetzt hängst du hier. Geschieht dir recht.«

Gegen­über vom Schwei­ne­stall gibt es zwei Boxen. Dar­in hiel­ten mei­ne Groß­el­tern frü­her zwei Zie­gen. Milch für die Kin­der, also auch für mei­nen Vater. Zwei Berg­manns­kü­he, wie sie genannt wur­den. Aber die gibt es schon lan­ge nicht mehr. Und auch das Schwein ist das letz­te, das wir fett­füt­tern. Alles zu viel Arbeit.

Im Gar­ten hin­ter dem Hof zie­hen wir Gemü­se. Kohl, Wir­sing, Kar­tof­feln, alles, was wir brau­chen. Mei­ne Mut­ter wühlt in dem Gar­ten, nichts darf ver­der­ben. Manch­mal muss ich hel­fen und Rau­pen ein­sam­meln, die alles auf­fres­sen. Aber nicht zu lan­ge, ich soll ler­nen. Ich soll es mal bes­ser haben, wofür sonst quält sie sich.

Ein klei­ner städ­ti­scher Beam­ter, meint sie, kann ich doch wer­den. Nein, Mama, das bin ich nicht gewor­den. Schrift­stel­ler bin ich gewor­den, und die Anfän­ge mei­ner Aner­ken­nung hast du noch mit­ge­kriegt. Gott sei Dank, du hast dich nicht ver­geb­lich gequält.

Im Gar­ten ste­hen Obst­bäu­me, steht ein Birn­baum mit saf­ti­gen, festen Bir­nen, steht ein Pflau­men­baum und jemand aus der Gene­ra­ti­on vor uns hat sogar einen Pfir­sich­baum gepflanzt, obwohl es für den bei uns viel zu kalt ist. Aber manch­mal, in war­men Som­mern, trägt er ein paar Früch­te. Ich ver­ste­he den­je­ni­gen, der ihn gepflanzt hat. Alles ist dem rei­nen Zweck unter­wor­fen, da muss man sich ein­mal etwas extra leisten.

Auch die Blu­men­stau­den sind nicht einem Zweck unter­wor­fen. Sie sind ein­fach nur schön. Vor allem die Hor­ten­si­en, die mei­ne Mut­ter so liebt und die auch ich lie­be. Bis heu­te ste­hen sie vor mei­ner Haus­tür. Es muss etwas geben, das nicht nur dem Zweck unter­wor­fen ist.

*

  1. Wir las­sen uns nichts gefal­len, wir sind selbst­be­wusst. Gott sei Dank sind wir das. Es ist eine Ein­stel­lung, die mich mein Leben lang beglei­tet. Aber da ist etwas, das wir nicht in den Griff krie­gen. Vor allem mei­ne gut­mü­ti­ge Mut­ter ist dem hilf­los aus­ge­lie­fert. Es han­delt sich um mei­ne Oma, die Mut­ter mei­nes Vaters. Die alte Frau Peuck­mann, heißt es in unse­rer Stra­ße, ist ein Dra­chen. Ja, das ist sie. Mich mag sie. Ich bin ihr letz­tes Enkel­kind, gleich­zei­tig mit mir wird sie zum ersten Mal Urgroß­mutter. Ich igno­rie­re ihre Übel­lau­nig­keit, ihre Abnei­gung gegen alle ande­ren. Ich bin ger­ne fröh­lich. Wenn sie wütend ist, und das ist sie oft, lässt sie ihre wul­sti­ge Unter­lip­pe hän­gen und schimpft los. Über jede Klei­nig­keit kann sie sich auf­re­gen. Mein Groß­va­ter, ihr Ehe­mann, starb früh an der Spa­ni­schen Grip­pe, sie hei­ra­te­te noch mal, einen Berg­mann, Fried­rich Zippan. Ich fra­ge irgend­wann eine ent­fern­te Ver­wand­te, lan­ge nach ihrem Tod, wie sie mit mei­nem Stie­fo­pa umge­gan­gen ist, der mich zu den Tref­fen mit sei­nen Kum­pels nach der Schicht zum Post­teich mitnahm.

»Heinz«, sag­te sie, »sie hat nur in Aus­ruf­sät­zen mit ihm gesprochen.«

Ich glau­be das. Aus­ruf­sät­ze mit wul­sti­ger Unter­lip­pe. Nur gegen einen kommt mei­ne Oma nicht an. Gegen ihren Sohn, mei­nen Vater. Wenn sie wie­der mal bös­ar­tig zu mei­ner Mut­ter war, dann griff mein Vater ein. Laut­stark, so dass es selbst die Nach­barn hören konn­te, schimpf­te er mit ihr. Schimpf­wör­ter fie­len, wie sie einer Mut­ter gegen­über viel­leicht nicht fal­len dürf­ten, aber sei­ne Mut­ter war ein Son­der­fall. Mei­ne Mut­ter ging dann in Deckung, mein Vater ließ sich nicht unter­bre­chen. Wenn mei­ne Oma sel­ber laut wer­den woll­te, wur­de er noch lau­ter. Dem war selbst mei­ne Oma nicht gewach­sen. Ich fand mei­nen Vater gut, ein­fach, weil ich mei­ne Mut­ter liebte.

Ja, wir las­sen uns nichts gefal­len. Wo Unrecht geschieht, wer­den wir laut. Aber alles kön­nen wir nicht verhindern.

*

  1. Ich bin gut in der Schu­le, bekom­me Zeug­nis­se mit »gut« in allen Fächern. Aber als es dar­auf ankommt, zu wel­cher wei­ter­füh­ren­den ich gehen soll, kommt mei­ne Her­kunft zum Tra­gen. Ich bin Berg­ar­bei­ter­sohn. Von den über 40 Schü­lern mei­ner Klas­se gehen immer vier zum Gym­na­si­um oder zur Real­schu­le. Zum Gym­na­si­um gehen die Söh­ne eines Refe­rats­lei­ters einer Ver­si­che­rung und der Sohn eines Stei­gers. Der eine wird spä­ter Chef­arzt an einem Kran­ken­haus in Unna, der ande­re wird Offi­zier bei der Bun­des­wehr und fliegt den Star­figh­ter. Sei­ne größ­te Lei­stung ist es, dass er das über­lebt hat und nicht abstürzt.

Ja, und ich? Was ist mit mir? Ich gehe zur Real­schu­le, ent­schei­det der Rek­tor. Zum Gym­na­si­um dür­fen nur Kin­der, deren Eltern Eng­lisch oder Eng­lisch­nach­hil­fe bezah­len kön­nen. Bei­des trifft auf mei­ne Eltern nicht zu. Mei­ne Mut­ter ist trotz­dem nicht unzufrieden.

Ein klei­ner städ­ti­scher Beam­ter, das kann er doch wer­den, urteilt sie. Das reicht. War­um zu den Ster­nen grei­fen, wenn man sie doch nicht errei­chen kann.

Also mache ich die Auf­nah­me­prü­fung für die Real­schu­le Ober­aden und wer­de zum Fahr­schü­ler. Die Bus­fahr­ten nut­ze ich, um die Haus­auf­ga­ben zu machen. Dann kann ich nach der Rück­kehr sofort raus­ge­hen und Fuß­ball spie­len. Spä­ter, sehr viel spä­ter rech­ne ich nach. Die Hälf­te aus mei­ner Klas­se damals holt das Abitur nach, geht einen krum­men Weg wie auch ich ihn gehe.

Mir gibt der Rek­tor der Real­schu­le den ent­schei­den­den Tipp. Irgend­wann ruft er mich in sein Büro und erzählt, dass es in Unna ein Auf­bau­gym­na­si­um gebe. Dort­hin könn­te ich nach der sech­sten oder sieb­ten Klas­se wech­seln und doch noch das Abitur machen. Er wis­se doch, dass das mein Wunsch sei.

Also fährt mei­ne Mut­ter nach Unna zum Auf­bau­gym­na­si­um und mel­det mich dort an. Wie­der muss ich eine Auf­nah­me­prü­fung bestehen. Mei­ne gro­ße Chan­ce, viel mehr Chan­cen wird es in mei­nem Leben nicht geben, davon bin ich überzeugt.

Im Dik­tat bin ich, wie vie­le Arbei­ter­kin­der, nicht gut, aber rech­nen kann ich und auch Auf­sät­ze schrei­ben, denn ich habe Fan­ta­sie. Dann aber folgt eine Prü­fungs­stun­de, die mein spä­te­rer Leh­rer Schla­bach, der sel­ber Hör­spie­le schreibt, abhält; er nimmt mich dau­ernd dran. Ich bin irri­tiert. War­um tut er das?

»Ich glau­be, du stehst auf Kip­pe«, sagt ein Jun­ge aus der Prü­fungs­klas­se. »Der will wis­sen, ob du es schaf­fen kannst oder nicht.«

Ein paar Wochen lang zit­te­re ich. Hat es gereicht, bekom­me ich die Chance?

Im Nach­hin­ein bin ich froh, dass mich mein Schul­weg nach Unna zum Gym­na­si­um geführt hat. Dort gibt es Klas­sen­ka­me­ra­den, die mit ihren Eltern Haus­mu­sik ver­an­stal­ten. Von so etwas hat­te ich noch nie gehört. In Kamen, in mei­ner Stra­ße, las kaum jemand, und schrei­ben tat erst recht kei­ner. Krum­mer Weg, aber eine neue Welt.

 Anmer­kung der Redak­ti­on: Hein­rich Peuck­mann, lang­jäh­ri­ger Ossietzky-Beglei­ter, ist in der Nacht zum 3. März gestor­ben (sie­he den fol­gen­den Nach­ruf von Gabrie­le Gil­len). Ein schwer zu ver­win­den­der Ver­lust. Nur weni­ge Wochen vor sei­nem Tod, als wir die­sen Text wegen eines Nach­rufs auf Hein­rich Han­no­ver »schie­ben« muss­ten, schrieb er: »Rich­tig, er hat es ver­dient.« Und Hein­rich hat es ver­dient, dass wir die­ses Heft nun mit sei­nem Text begin­nen. Unser tie­fes Mit­ge­fühl gilt sei­nen Ange­hö­ri­gen und Freunden.