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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Meine siebzig Jahre

Es ist ein wich­ti­ger Tag. Nicht für die Welt – für die ist er nichts Beson­de­res. Aber für mich! Vor sieb­zig Jah­ren habe ich in Panik mei­ne US Army-Jacke und -Schu­he ins Was­ser gewor­fen und bin dann sel­ber in Linz, im noch besetz­ten Öster­reich, in die Donau gesprun­gen, die die USA-Zone von der UdSSR-Zone teil­te. Und ich schwamm durch den Strom – aller­dings in die für fast alle Ame­ri­ka­ner fal­sche Richtung!

Es war für mich kei­ne ganz freie Ent­schei­dung. 1950 leg­te das McCar­ran-Gesetz fest, dass sich alle Mit­glie­der einer lan­gen Liste von Ver­ei­ni­gun­gen der »Kom­mu­ni­sti­schen Front« sofort als »aus­län­di­sche Agen­ten« poli­zei­lich regi­strie­ren muss­ten. Ich war in einem Dut­zend die­ser Grup­pen gewe­sen: Ame­ri­can Youth for Demo­cra­cy, Anti-Fascist Spa­nish Refu­gee Com­mit­tee, Sou­thern Negro Youth Con­gress (ich hat­te ihnen einen Dol­lar gespen­det), die Ame­ri­can Labor Par­ty, Young Pro­gres­si­ves und – schlim­mer als alles ande­re – die Com­mu­nist Par­ty. Wer sich nicht mel­de­te, muss­te mit einer emp­find­li­chen Stra­fe rech­nen – bis zu fünf Jah­ren Gefäng­nis für jeden Tag des nicht Regi­strie­rens! Weder ich noch ande­re sind die­ser Pflicht zur Selbst­an­zei­ge nachgekommen.

Als ich dann im Janu­ar 1951, wäh­rend des Korea­kriegs, zur Armee ein­ge­zo­gen wur­de, ver­lang­te man von jedem neu­en Rekru­ten, eine Erklä­rung zu unter­schrei­ben, kei­ner der inkri­mi­nier­ten Grup­pen jemals ange­hört zu haben. Soll­te ich durch mein Geständ­nis ris­kie­ren, Jah­re lang im Gefäng­nis zu lan­den? Oder unter­schrei­ben und hof­fen, die zwei Jah­re Armee ohne Über­prü­fung durch­zu­kom­men? Ich habe unterschrieben.

Zum Glück schick­te man mich nicht nach Korea, son­dern nach Bay­ern. Aber gecheckt haben sie doch! Jahr­zehn­te spä­ter beleg­ten 1100 Sei­ten Akten vom FBI, dass die Jungs von J. Edgar Hoo­ver mich ganz genau beob­ach­tet hat­ten, sowohl als lin­ken Har­vard-Stu­den­ten (die Namen von sie­ben Infor­man­ten wur­den geschwärzt) als auch als Arbei­ter in Buf­fa­lo, wo ich hel­fen woll­te, die weni­gen noch kämp­fe­ri­schen lin­ken Gewerk­schafts­ver­bän­de doch zu retten.

Im August 1952 bekam ich Post vom Pen­ta­gon; sie­ben mei­ner Mit­glied­schaf­ten wur­den auf­ge­li­stet, und mir wur­de befoh­len, »am Mon­tag beim Mili­tär­rich­ter zu erschei­nen«. Damals kamen vie­le Kom­mu­ni­sten ins Zucht­haus. Ich hat­te nie­man­den, der mich bera­ten konn­te – und fuhr dann mit fal­schem Pass an die Donau.

Auf der ande­ren Fluss­sei­te, in einer über­ra­schend ruhi­gen, in kei­ner Wei­se an einen »Eiser­nen Vor­hang« gemah­nen­den Sonn­tags­land­schaft traf ich auf kei­ne sowje­ti­schen Wach­po­sten. Öster­rei­chi­sche Poli­zi­sten lie­fer­ten mich dann bei der Roten Armee ab. Man hielt mich für zwei unsi­che­re Wochen lang in einer klei­nen Zel­le fest, dann brach­te man mich Rich­tung Nor­den, in die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik. Dort ließ man mich frei. Ich hat­te Glück. Die DDR war der erfolg­reich­ste und unbe­schwer­te­ste von den »Ostblock«-Staaten. Mit mei­nen ame­ri­ka­ni­schen Augen beob­ach­te­te ich in den fol­gen­den acht­und­drei­ßig Jah­ren –aus einer lin­ken, aber undog­ma­ti­schen Per­spek­ti­ve – die Ent­ste­hung, spä­ter den Nie­der­gang die­ses west­li­chen Vor­po­stens des Sozia­lis­mus. Ich fand weder Uto­pia noch, damals oder je, den Hun­ger, die Armut und das all­ge­mei­ne Elend, wie es von den ame­ri­ka­ni­schen Medi­en geschil­dert wur­de. Selbst im kri­ti­schen Jahr 1952/​53, weni­ger als acht Jah­re nach dem Krieg, war das Waren­an­ge­bot in den Läden zwar begrenzt, oft fehl­te aus­ge­rech­net das, wonach man such­te, man­che Grup­pen wie Rent­ner hat­ten es nicht leicht, doch gab es für alle eine war­me Mahl­zeit und ein Dach über den Kopf. Ost­deutsch­land war viel klei­ner und an Res­sour­cen ärmer als West­deutsch­land, das Land trug über 90 Pro­zent der Kriegs­ent­schä­di­gun­gen, und es fehl­ten die Inve­sti­ti­ons­mög­lich­kei­ten der Kriegs­ver­bre­cher­kon­zer­ne wie Krupp, Sie­mens, Bay­er oder BASF, deren Fabri­ken im Osten natio­na­li­siert wur­den. Es gab auch nicht die poli­tisch gepräg­te För­de­rung des Mar­shall-Plans. Vie­le der mehr­heit­lich nazi­freund­li­chen Wis­sen­schaft­ler, Füh­rungs­kräf­te und Aka­de­mi­ker waren in den Westen geflo­hen und mach­ten an Rhein und Ruhr bald wie­der Kar­rie­re. Das schwäch­te die Wirt­schafts­kraft der jun­gen DDR enorm, aber als glü­hen­der (und jüdi­scher) Anti­fa­schist war ich froh, dass die Kriegs­ver­bre­cher weg waren.

Im Gegen­satz zur BRD waren Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten, Gerichts­hö­fe, Poli­zei­be­hör­den vom Haken­kreuz­mob befreit wor­den. Das bedeu­te­te natür­lich, dass die Stel­len mit kaum geschul­tem Per­so­nal besetzt wur­den, wie im Fall mei­nes Schwie­ger­va­ters, ein Zim­mer­mann, der zum ersten Bür­ger­mei­ster ernannt wur­de, oder mei­ner zwei Schwa­ger, die plötz­lich Leh­rer waren. Natür­lich gab es unzäh­li­ge Pro­ble­me in einem Land, das zwölf Jah­re lang von Hit­ler & Co. regiert wor­den war. Aber von Anfang an wur­den anti­fa­schi­sti­sche Lin­ke und nach Sta­lins Tod auch lin­ke jüdi­sche Emi­gran­ten zu wich­ti­gen Per­sön­lich­kei­ten in der gesam­ten Poli­tik- und Kul­tur­sze­ne. Abge­se­hen von drei oder vier gehör­ten Wort­über­bleib­seln bin ich in allen Jah­ren in der DDR nicht auf Anti­se­mi­tis­mus gestoßen.

Was mich als Ame­ri­ka­ner am mei­sten beein­druck­te: kei­ne Ent­las­sun­gen, kei­ne Arbeits­lo­sig­keit; es gab Arbeit für alle. Mie­ten betru­gen meist weni­ger als 10 Pro­zent der Gehäl­ter; Räu­mun­gen waren gesetz­lich ver­bo­ten; kei­ner schlief auf der Stra­ße oder bet­tel­te; »Tafeln« für Bedürf­ti­ge gab es nicht, nicht mal das Wort kann­te ich damals; auch den Begriff Stu­den­ten­schul­den kann­te nie­mand. Bil­dung auf allen Stu­fen war völ­lig umsonst, und monat­li­che Sti­pen­di­en deck­ten Grund­la­gen­ko­sten und mach­ten das Job­ben unnö­tig. So vie­le Äng­ste waren völ­lig unbe­kannt! Das mei­ste davon ist heu­te in den USA noch immer nur ein Traum.

Ich erleb­te vie­le Milieus: kurz als Indu­strie­ar­bei­ter im Wag­gon­bau, Dreh­erlehr­ling, dann Jour­na­li­stik­stu­dent, Ver­lags­lek­tor, Rund­funk­re­dak­teur, Lei­ter eines neu­en Paul/​Eslanda Robe­son-Archivs und zuletzt als selb­stän­di­ger Jour­na­list, Autor und Vor­trags­red­ner. Ich und mei­ne wun­der­ba­re ober­lau­sit­zer Frau Rena­te waren nie­mals reich; es blieb bei Tra­ban­ten – und ohne Dat­scha. Doch ging es uns all­mäh­lich immer bes­ser. Und ande­ren, die ich beim Her­um­tin­geln traf, meist auch. War­um also ris­kier­ten denn eini­ge das Leben, um weg zu gehen? War­um wur­de eine Mau­er gebaut? War­um woll­ten sich so vie­le mit West­deutsch­land ver­ei­ni­gen und die DDR begraben?

Es gab ver­schie­de­ne Grün­de. Beson­ders in den acht­zi­ger Jah­ren wur­de es schwie­ri­ger, von Wachs­tum war kaum etwas zu spü­ren. Die Sowjet­uni­on hat­te eige­ne Pro­ble­me und half uns nicht. Wirt­schafts­pro­ble­me kom­men bei vie­len Län­dern der Welt vor und wer­den irgend­wie über­stan­den. Hier aber wur­de jeden Abend im West-Fern­se­hen eines der reich­sten Län­der der Welt prä­sen­tiert – und alle hie­si­gen Män­gel oder Feh­ler geschickt auf­ge­bauscht. Es ging ganz offen dar­um, das Land – samt der ver­lo­re­nen Fabri­ken und Län­de­rei­en – »zurück­zu­ho­len«, um von da aus wei­ter nach Osten zu zie­hen: Mali, Hin­du­kusch, viel­leicht Don­bass. Die Staats­si­cher­heit oder »Sta­si«, die geschaf­fen wor­den war, um sol­che Ver­su­che zu bekämp­fen, hat all­zu sehr das Gegen­teil geför­dert – wie auch die plum­pen Medien.

Und trotz­dem kam die DDR näher als jedes ande­re Land an das legen­dä­re Ziel der Armuts­ab­schaf­fung. Nur gegen die immensen Ver­lockun­gen des Westens – Obst, Mode, Elek­tro­nik, Fahr­zeu­ge und Rei­sen – konn­te das Länd­le nicht kon­kur­rie­ren. Die DDR-Bür­ger nah­men all ihre sozia­le Vor­tei­le für selbst­ver­ständ­lich und träum­ten von Bana­nen und Opels, ohne die Nach­tei­le für die »Unte­ren« mit­zu­be­grei­fen – und erst recht nicht, dass höhe­re Lebens­stan­dards nur auf Kosten der Kin­der­ar­mut in West­afri­ka oder Bra­si­li­en, der aus­ge­beu­te­ten Pflücker auf den anda­lu­si­schen oder kali­for­ni­schen Obst­fel­dern und Gär­ten mög­lich waren.

Ich schaue auf mei­ne sieb­zig Jah­re als Aus­wan­de­rer zurück, begrei­fe mich aber wei­ter­hin als ame­ri­ka­ni­schen Patrio­ten – nie für die USA von Lock­heed oder Ama­zon, aber für die von John Brown, Har­riet Tub­man, Euge­ne Debs und Gur­ley Flynn, DuBo­is, Robe­son, Mal­colm und Mar­tin. Ich lie­be auch gro­ße Deut­sche: Karl Marx, Fried­rich Engels, Karl Lieb­knecht, die gro­ße deutsch-pol­ni­sche Rosa Luxem­burg – oder groß­ar­ti­ge Schrift­stel­ler: Les­sing, Goe­the, Hein­rich Hei­ne, Tho­mas Mann, Ber­tolt Brecht. Und ich respek­tie­re und füh­le mich auch soli­da­risch mit Men­schen von über­all, mei­nen Brü­dern und Schwe­stern von Guam und Gua­te­ma­la bis nach Gaza.

Ich kann nur hof­fen, dass neue Gene­ra­tio­nen von den Irr­tü­mern und Ein­schrän­kun­gen der DDR ler­nen, die aus ihrer Geschich­te und ihrer Angst ent­stan­den sind. Sie wird immer noch stän­dig geschmä­lert und ver­leum­det – vor allem aus Angst, dass sie noch nicht aus­rei­chend aus­ge­löscht ist. Trotz der Ver­zweif­lung, sogar Wut über fal­sche Wege und ver­pass­te Chan­cen, die ich manch­mal in jenen Jah­ren emp­fun­den habe, schaue ich mit einer Mischung aus Sehn­sucht, Bedau­ern und sogar Stolz auf ihre hart erkämpf­ten Erfol­ge im Bereich der Kul­tur und des Zusam­men­le­bens. Ich erin­ne­re an unse­re Erfol­ge bei der Ver­mei­dung von Krieg und in dem Bemü­hen für ein Leben ohne Angst oder Hass. Im Gro­ßen und Gan­zen waren es gute Jah­re. Ich bin froh, ich habe sie gelebt.

Aus dem Eng­li­schen von Tere­sa Sciacca

 Anmer­kung der Redak­ti­on: Vor einer Woche, am 11. März 2023, hat unser Autor im Kreis vie­ler Freun­de sei­nen 95. Geburts­tag gefei­ert. Herz­li­chen Glückwunsch!