Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Weißes Tischzeug

»In die­sem Morast gedeiht kei­ne Kunst mehr und kei­ne Wis­sen­schaft, vor allem aber kein wei­ßes Tisch­tuch mehr und kein gewa­sche­nes Gesicht« (Karl Emil Fran­zos, 1875).

Der vor 175 Jah­ren gebo­re­ne Karl Emil Fran­zos (1848-1904), Schrift­stel­ler, Jour­na­list und erster Her­aus­ge­ber der Wer­ke Georg Büch­ners, wur­de nicht müde zu beto­nen, dass er »den Osten weder ger­ma­ni­siert noch gal­li­siert« sich wün­sche, »bei­lei­be nicht!« Nein, er wünsch­te ihn sich »bloß kul­ti­vier­ter, als er der­zeit ist«, und sah kei­nen ande­ren Weg dazu, »als wenn sich der Ein­fluss und die wil­li­ge Pfle­ge west­li­cher Bil­dung und west­li­chen Gei­stes steigern«.

Ist, wenn es um den Schrift­stel­ler Fran­zos geht, von »deut­scher Kul­tur­mis­si­on« die Rede, wird der Blick auf einen Autor ver­engt, dem man vor­wirft, sei­nen Lands­leu­ten ledig­lich frem­de Kul­tur »über­stül­pen« zu wol­len, und greift zu kurz, wenn dabei vor »post­ko­lo­nia­lem Gedan­ken­gut« gewarnt wird.

Gewiss, Fran­zos bie­tet mit Äuße­run­gen wie: hier »Zivi­li­sa­ti­on« und dort »Bar­ba­rei« reich­lich Angriffs­flä­chen, wenn auch mehr aus heu­ti­ger Sicht. Es ging dem Mann des 19. Jahr­hun­derts im Kern um »Kunst, Wis­sen­schaft, Bil­dung« und »Gesit­tung«. Er ist ein Spät­auf­klä­rer, der aller­dings Ende der 1890er Jah­re beginnt, an sei­nen The­sen selbst zu zweifeln.

In den lite­ra­ri­schen Tex­ten wird deut­lich, dass Fran­zos, bei aller Ambi­va­lenz, sei­ne Lands­leu­te liebte.

Das bestä­tig­te mir, etwa ein­hun­dert Jah­re spä­ter, der ukrai­ni­sche Autor Juri Andrucho­wytsch in einem Gespräch, der einst sei­nen Vater frag­te, als er in den Feri­en am Schwar­zen Meer einen Roman von Fran­zos las, wer die­ser Autor denn sei, und vom Vater nur kurz zur Ant­wort bekam: Der liebt uns. Ein jüdisch-fran­zö­sisch-gali­zisch-deut­scher Autor liebt die Ukrainer!

Fran­zos erhielt in Czer­no­witz deut­sche Bil­dung, pro­mo­vier­te in Graz zum Dr. Juris und berei­ste Euro­pa. Doch zuvor präg­te ihn fürs Leben der Beruf des Vaters, der in Mün­chen und Erlan­gen Medi­zin stu­diert hat­te und daher wuss­te, dass die Ursa­che vie­ler Krank­hei­ten in den hygie­ni­schen Ver­hält­nis­sen wurzelt.

Karl Emil beglei­tet den Vater zu Kran­ken­be­su­chen in Czort­kow, lernt die Lebens­um­stän­de der Bevöl­ke­rung ken­nen, sieht, wo »wei­ßes Tisch­zeug, Bil­dung und Gesit­tung« zu fin­den sind und wo nicht.

Fran­zos beklag­te stets die unhy­gie­ni­schen Zustän­de »Halb-Asi­ens«, ver­ur­sacht durch Armut und Unwis­sen­heit, frem­des und eige­nes Ver­schul­den: »Wer auf schmut­zi­gen Tisch­tü­chern isst«, gehört einem »ande­ren Welt­teil« an. Hier muss für den Arzt­sohn die prak­ti­sche Auf­klä­rung anset­zen, die in Mit­tel­eu­ro­pa zu ent­schei­den­den Ver­bes­se­run­gen der Lebens­qua­li­tät in Städ­ten und Dör­fern geführt hat. Neben der Lite­ra­tur, ob Schil­ler, Les­sing oder auch Fon­ta­ne (der sich beklag­te, dass im Hotel in Han­no­ver der Nacht­topf drei Tage ver­ges­sen wor­den ist und die­sen vom Fen­ster direkt auf die Stra­ße ent­leer­te), neben Bil­dung und Pres­se, sind medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung und Hygie­ne­maß­nah­men ein zen­tra­ler Teil bür­ger­li­cher Auf­klä­rungs­kul­tur, für die Fran­zos das Bild vom »wei­ßen Tisch­zeug« fin­det. Ger­ma­ni­sten, Phi­lo­lo­gen oder Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler über­se­hen die­sen Zusam­men­hang leicht.

Aller­dings: Das wei­ße Tisch­tuch über­spann­te als zer­schlis­se­nes Toten­la­ken längst den Morast idea­li­sier­ten Bür­ger­tums. Fran­zos muss das in den letz­ten Lebens­jah­ren geahnt haben. Er sprach von »Mias­men«, die nicht nur Erd­grä­bern ent­stei­gen. Der Zwei­geist und Ten­denz­schrift­stel­ler Fran­zos hoff­te, dass es den Men­schen im »selt­sa­men Zwie­licht« des Ostens ein­mal bes­ser gehe, im auf­klä­ren­den Sin­ne, lei­den­schaft­lich, ambi­va­lent, kämp­fe­risch, wenn auch bis­wei­len mit ver­let­zen­dem Witz.