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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Grundrente – wird nun alles gut?

Hur­ra, die Grund­ren­te ist da! Hur­ra? Anfang Juli beschlos­sen Bun­des­tag und Bun­des­rat die Grund­ren­te. Über weni­ge Pro­jek­te hat­ten die Regie­rungs­ko­ali­tio­nä­re aus CDU/​CSU und SPD so sehr gestrit­ten wie über sie, die zuwei­len Lebens­lei­stungs­ren­te, Respekt­ren­te oder Soli­dar­ren­te genannt wur­de – wohl­klin­gen­de Namen, an denen sie sich mes­sen las­sen muss. Hoher Anspruch: Arbei­tern und Arbei­te­rin­nen, die 35 Jah­re und län­ger Bei­trä­ge in die Ren­ten­ver­si­che­rung gezahlt haben, im Alter den Gang zum Sozi­al­amt erspa­ren. Gehol­fen wer­den soll allen, die eine mick­ri­ge Alters­ren­te erhal­ten, klei­ner als die Sozi­al­hil­fe, obwohl sie ein Leben lang gear­bei­tet haben, dazu zäh­len Fri­seu­re, Paket­zu­stel­ler, Pfle­ge­kräf­te, Kraft­fah­rer, Ver­käu­fer in Super­märk­ten und Ser­vice­kräf­te … Die Grund­ren­te soll die kras­se Unge­rech­tig­keit behe­ben, die im Grenz­be­reich zwi­schen Grund­si­che­rung und Ren­te herrscht. Sozi­al­ver­si­cher­te Arbei­ter und Ange­stell­te, die im Nied­rig­lohn­sek­tor arbei­ten, zah­len jahr­zehn­te­lang Bei­trä­ge zur Ren­ten­ver­si­che­rung und bekom­men wenig her­aus. Ihre Ren­te liegt unter oder gera­de so auf dem Niveau der Grund­si­che­rung. Wer nicht gear­bei­tet hat, ist mate­ri­ell nicht schlech­ter dran.

Arbeits­mi­ni­ster Huber­tus Heil (SPD) über­trieb mäch­tig, als er die Grund­ren­te die »größ­te sozi­al­po­li­ti­sche Reform die­ser Legis­la­tur­pe­ri­ode« nann­te. Sie soll ab Janu­ar 2021 aus­ge­zahlt wer­den. Ange­sichts der Coro­na-Kri­se bezwei­fel­ten CDU und CSU noch Mit­te Mai wäh­rend der ersten Lesung im Bun­des­tag, ob das Pro­jekt finan­ziert wer­den kann, und for­der­ten, es zu ver­schie­ben. Die Grund­ren­te soll aus Steu­ern finan­ziert wer­den. Finanz­mi­ni­ster Scholz dach­te an die Ein­nah­men aus der geplan­ten Finanz­trans­ak­ti­ons­steu­er. Aber auch die ist Mit­te des Jah­res 2020 kei­nes­wegs sicher. Die Finan­zie­rung der Grund­ren­te wür­de erleich­tert, wenn der gesetz­li­che Min­dest­lohn auf zwölf Euro ange­ho­ben wür­de, heißt es von lin­ker Sei­te. Höhe­re Löh­ne bedeu­ten ein höhe­res Beitragsaufkommen.

Die Grund­ren­te soll etwa zehn Pro­zent über dem per­sön­li­chen Sozi­al­hil­fe-niveau lie­gen, der Sum­me aus Hartz-IV-Regel­satz und der Warm­mie­te. Der Regel­satz für Allein­ste­hen­de beträgt aktu­ell 432 Euro. Bei einer Warm­mie­te von 420 Euro ergibt sich ein Grund­si­che­rungs­ni­veau von 852 Euro. Die Ren­te wird mit soge­nann­ten Ent­gelt­punk­ten (EP) errech­net. Ein Durch­schnitts­ver­die­ner bekommt pro Jahr einen sol­chen Punkt. Wer weni­ger als der Durch­schnitt ver­dient, erhält weni­ger, wer mehr als das Durch­schnitts­ein­kom­men bezieht, erhält mehr als einen Ent­gelt­punkt. Die Grund­ren­te erhal­ten die, deren Zah­lung an die Ren­ten­kas­se zwi­schen 30 und 80 Pro­zent jener Zah­lun­gen gele­gen hat, die bei einem Durch­schnitts­ein­kom­men gelei­stet wer­den. 30 bis 80 Pro­zent des Durch­schnitts­ein­kom­mens ent­spre­chen 0,3 bis 0,8 Ent­gelt­punk­ten im Jahr. Durch die Grund­ren­te wer­den Ent­gelt­punk­te bei jenen ver­dop­pelt, die im Schnitt der 35 Jah­re nur zwi­schen 0,3 und 0,8 Punk­te pro Jahr ange­sam­melt haben – aller­dings nur auf maxi­mal 0,8 Punk­te pro Jahr. Die Auf­stockung erfolgt damit bis maxi­mal 80 Pro­zent der Durch­schnitts­ren­te. Der so berech­ne­te Ren­ten­auf­schlag wird in einem wei­te­ren Schritt um 12,5 Pro­zent ver­rin­gert. CDU/​CSU setz­ten die Kür­zung durch.

Seit Juli 2020 gibt es pro Ent­gelt­punkt im Westen 34,19 Euro und im Osten 33,23 Euro Ren­te. Bei­spiel: Eine Fri­seu­rin mit 40 Jah­ren Lohn auf einem Niveau von 40 Pro­zent des Durch­schnitts käme im Schnitt auf 0,4 Ent­gelt­punk­te pro Jahr. 40 mal 0,4 = 16 EP. 16 EP mal 34,10 Euro pro EP = 547,04 Euro. Ihre bis­he­ri­ge monat­li­che Ren­te wür­de im Westen damit 547,04 Euro betra­gen. Nach dem beschrie­be­nen Ver­fah­ren wür­den ihre Ent­gelt­punk­te für 35 der 40 Jah­re um 0,4 pro Jahr erhöht (Rech­nung: 35 x 0,4 x 34,19 Euro = 478,66 Euro) – und von die­sem Zuschlag dann 12,5 Pro­zent abge­zo­gen. Damit läge der Grund­ren­ten-Zuschlag in ihrem Fall bei 418,83 Euro. Ins­ge­samt käme die Frau also auf 965,87 Euro Ren­te. Davon gehen Bei­trä­ge zur Kran­ken­ver­si­che­rung und Pfle­ge­ver­si­che­rung in Höhe von 11,25 Pro­zent ab. Das ergibt eine Net­to­ren­te von 857,21 Euro, die knapp ober­halb des Sozi­al­hil­fe­sat­zes liegt

Anspruch auf eine Grund­ren­te soll haben, wer 35 Jah­re Bei­trä­ge gezahlt hat. Denen, die 33 oder 34 Jah­re errei­chen, wird sie gekürzt. Ange­rech­net wer­den neben der ver­si­che­rungs­pflich­ti­gen Beschäf­ti­gung auch Zei­ten für eine nicht­er­werbs­mä­ßi­ge Pfle­ge und für die Kin­der­er­zie­hung, sofern man sie bean­tragt; die ersten zehn Jah­re eines Kin­des zäh­len als »Kin­der­be­rück­sich­ti­gungs­zeit«. Zei­ten der Arbeits­lo­sig­keit wer­den nicht berück­sich­tigt, auch wenn Arbeits­lo­sen­geld oder in der Ver­gan­gen­heit Arbeits­lo­sen­hil­fe gezahlt wur­de, und berück­sich­tigt wer­den auch kei­ne »Zurech­nungs­zei­ten«, wie sie etwa Erwerbs­min­de­rungs­rent­ner erhalten.

Arbeits­mi­ni­ster Heil woll­te ursprüng­lich kei­ne Bedürf­tig­keit prü­fen las­sen. Er konn­te sich nicht durch­set­zen. Die von CDU und CSU gewoll­te Prü­fung der Bedürf­tig­keit soll es aber nur zum Teil geben. Der aktu­el­le Kom­pro­miss sieht vor, nur das Ein­kom­men zu prü­fen, nicht wie bei der Sozi­al­hil­fe auch das Ver­mö­gen und den Immo­bi­li­en­be­sitz. Die Über­prü­fung der Ein­kom­men soll auto­ma­tisch zwi­schen der Ren­ten­ver­si­che­rung und den Finanz­be­hör­den erfol­gen. Der dafür benö­tig­te Ver­wal­tungs­auf­wand wird hoch sein. Daher wird damit gerech­net, dass sich die erst­ma­li­ge Zah­lung der Grund­ren­te ver­zö­gern wird – even­tu­ell bis Ende 2022. Sie soll dann rück­wir­kend kom­men. Dass der Prüf­auf­wand aus­ge­rech­net von denen beklagt wird, die ihn zu ver­ant­wor­ten haben, den Uni­ons­po­li­ti­kern, zeigt, wie gro­tesk die Dis­kus­si­on des Vor­ha­bens ver­lief. Die Grund­ren­te erhal­ten Allein­ste­hen­de mit einem Ein­kom­men bis zu 1250 Euro und Paa­re mit einem Ein­kom­men bis zu 1950 Euro. Ein­künf­te bis zu 1600 Euro bei Ein­zel­per­so­nen und 2300 Euro bei Paa­ren – zum Bei­spiel Mie­ten oder Kapi­tal­erträ­ge – wer­den zu 60 Pro­zent auf die Grund­ren­te ange­rech­net, höhe­res Ein­kom­men zu 100 Pro­zent. Bei einem Ein­kom­men von 1500 Euro wür­de die Grund­ren­te des Allein­ste­hen­den um – 250 Euro mal 60 Pro­zent – 150 Euro gekürzt. Durch die­se Rege­lung ver­rin­gert sich die Zahl der in Fra­ge kom­men­den Per­so­nen von ursprüng­lich etwa vier bis fünf Mil­lio­nen auf 1,2 bis 1,4 Mil­lio­nen; für Mat­thi­as W. Birk­wald, ren­ten­po­li­ti­scher Spre­cher der Bun­des­tags­frak­ti­on der Par­tei Die Lin­ke, ist das skan­da­lös, der Begriff Grund­ren­te sei für das vor­ge­leg­te Kon­zept »grot­ten­falsch«. Er sprach von einem »büro­kra­ti­schen und stump­fen Schwert im Kampf gegen Armuts­ren­ten«. Sei­ne Par­tei will, dass Men­schen auch ohne Prü­fung der »Bedürf­tig­keit» schon nach 25 Bei­trags­jah­ren, der DGB nach 30 Jah­ren, eine Grund­ren­te erhal­ten, wenn sie im Nied­rig­lohn­sek­tor gear­bei­tet haben. Dabei müss­ten auch die Zei­ten der Arbeits­lo­sig­keit, für Mut­ter­schutz und die Zusatz­zei­ten bei der Erwerbs­min­de­rungs­ren­te berück­sich­tigt werden.

Vie­le Men­schen mit sehr nied­ri­gen Ren­ten errei­chen nicht die Zahl der gefor­der­ten Bei­trags­jah­re. Von denen, die ein gerin­ges Ein­kom­men haben, schlecht qua­li­fi­ziert sind, und von den Frau­en bleibt deut­lich mehr als die Hälf­te dar­un­ter. Damit fal­len aus­ge­rech­net jene aus dem Kreis der Berech­tig­ten, für die eine Grund­ren­te nötig und hilf­reich wäre. Im Kern ist die Grund­ren­te ein »Zuschlag an Ent­gelt­punk­ten für eine lang­jäh­ri­ge Ver­si­che­rung«. Eine Grund­ren­te, die den Namen ver­dient, sieht anders aus und muss für alle gel­ten. Ande­re Län­der machen es vor. So erhält in den Nie­der­lan­den jeder, der 50 Jah­re im Land gelebt hat, als Sin­gle min­de­stens eine Net­to­ren­te von 1158,22 Euro. Selbst dann, wenn er kei­nen Tag gear­bei­tet hat. Auch die Dänen bekom­men eine Ein­heits­ren­te, die wie in den Nie­der­lan­den höher ist als die deut­sche Durch­schnitts­ren­te, wenn sie 40 Jah­re im Land gelebt haben. Deut­sche Poli­ti­ker stem­men sich gegen eine sol­che groß­zü­gi­ge Rege­lung. Die »Ein­heits­ren­te« ver­sto­ße gegen das »Äqui­va­lenz­prin­zip«. Es hat Ver­fas­sungs­rang – eine hohe Hür­de – und bedeu­tet, dass die Höhe der Aus­zah­lun­gen in einem geord­ne­ten Ver­hält­nis zu den gelei­ste­ten Ein­zah­lun­gen ste­hen muss.

Mat­thi­as W. Birk­wald for­der­te in der Debat­te des Antra­ges der Links­frak­ti­on »Soli­da­ri­sche Min­dest­ren­te ein­füh­ren – Alters­ar­mut wirk­sam bekämp­fen und das Ren­ten­ni­veau anhe­ben« eine Armut ver­hin­dern­de Min­dest­ren­te. Die aktu­el­len Vor­schlä­ge zur Ein­füh­rung der Grund­ren­te grif­fen zu kurz. »Wir Lin­ken wol­len kei­ne Grund­ren­te, son­dern eine steu­er­fi­nan­zier­te, ein­kom­mens- und ver­mö­gens­ge­prüf­te Soli­da­ri­sche Min­dest­ren­te in Höhe von der­zeit 1050 Euro net­to, damit nie­mand im Alter von weni­ger leben muss, im Ein­zel­fall in teu­ren Städ­ten ergänzt um ein refor­mier­tes Wohn­geld. Wir for­dern für Men­schen ab 65 Jah­ren, deren Alters­ein­kom­men aus gesetz­li­cher Ren­te, Betriebs­ren­te und pri­va­ter Vor­sor­ge unter aktu­ell 1050 Euro liegt, einen Zuschlag, der die Ein­kom­mens­lücke bis dahin füllt. Im Novem­ber 2021 soll­te die Soli­da­ri­sche Min­dest­ren­te auf 1200 Euro ange­ho­ben wer­den. War­um? Ganz ein­fach: Arti­kel 1 unse­res Grund­ge­set­zes lau­tet: ›Die Wür­de des Men­schen ist unantastbar.‹«

Die Unge­rech­tig­keit wür­de mit der jetzt vor­ge­se­he­nen Grund­ren­te nicht beho­ben. Sie wür­de anders­wo neu auf­bre­chen. »Die neue Kluft wür­de sich aus­ge­rech­net im Kern der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Stamm­wäh­ler­schaft, bei den mit­tel­gut bezahl­ten Arbei­tern und Ange­stell­ten, auf­tun. Ein Drit­tel aller männ­li­chen Rent­ner und etwa jede fünf­te Rent­ne­rin bekommt im Monat zwi­schen 900 und 1.500 Euro Ren­te. Dahin­ter ver­ber­gen sich klas­si­sche Arbei­ter- und Ange­stell­te­n­er­werbs­bio­gra­fien von bis zu 45 Jah­ren in Voll­zeit. Wo bleibt der Respekt für die­je­ni­gen, die nach einem lan­gen Erwerbs­le­ben einen Anspruch nur knapp über dem geplan­ten neu­en Basis­ni­veau haben?«, fragt die Wirt­schafts­jour­na­li­stin Ursu­la Weidenfelder.

Hin­ter der Grund­ren­te steckt eine gute Absicht. Sie ist aber »besten­falls ein Mini-Schritt in die rich­ti­ge Rich­tung«, schreibt Tobi­as Wei­ßert (isw-wirt­schafts­in­fo 57, April 2020). Die Form, in der sie kom­men soll, ist unge­recht. Sie führt zu neu­en Unge­rech­tig­kei­ten und hilft nicht, Armut im Alter zu ver­hin­dern. Denn beson­ders armuts­ge­fähr­det sind Men­schen, die vie­le Jah­re arbeits­los gewe­sen sind und kei­ne sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­ge Tätig­keit aus­ge­übt haben – aber sie bekom­men kei­ne Grundrente.