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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Rendite statt Utopie

Sie hat vie­le Bücher über Ber­lin geschrie­ben, aber »die Stadt ist [ihr] seit dem Jahr 2015 so fremd wie nie zuvor«. Sie, das ist Annett Grösch­ner, die in ihrem neu­en Buch »Ber­li­ner Bürger*Stuben. Palim­pse­ste und Geschich­ten« beschreibt, war­um. Es sind nicht die Flücht­lin­ge, die seit die­sem Jahr vor dem LaGeSo-Gelän­de (dem Lan­des­amt für Gesund­heit und Sozia­les) in der Moa­bi­ter Turm­stra­ße aus­har­ren muss­ten, Tag und Nacht, weil der Ber­li­ner Senat über­for­dert war. Um zu hel­fen, ent­stand der Ver­ein Wir machen das, ein Netz­werk von Frau­en, die Ber­lin als Arche sehen woll­ten. 2015 ver­än­der­te sich man­ches. Die Volks­büh­ne am Rosa-Luxem­burg-Platz, die zu der Gegend gehört wie sonst nichts, sie stand für Kunst mit poli­ti­schem Anspruch. 2015 kam die Ankün­di­gung des Raus­wurfs von Frank Cas­torf, der das Thea­ter geprägt hat­te. Es stand wie auf­er­stan­den gegen den »tren­di­gen Life­style, der die Stadt in ein Schau­fen­ster ver­wan­del­te«, in dem Vier­tel, »dem das Volk abhan­den­ge­kom­men« war. Mit dem Weg­gang von Cas­torf wur­de auch das Ensem­ble zerstört.

Ver­nich­tet wur­den vor allem: Woh­nun­gen, die noch bezahl­bar waren. Auch Annett Grösch­ner muss­te aus­zie­hen – nicht wegen der Geflüch­te­ten. Eine der ein­drucks­voll­sten Pas­sa­gen im Buch beschreibt, wie so etwas geht, wel­che Tricks ange­wen­det wer­den, um die Ent­mie­tung zu errei­chen. Der Mak­ler ruft im Auf­trag der Bank an. Dann kommt der Woh­nungs­ver­mes­ser. Alles soll nun in Eigen­tums­woh­nun­gen ver­wan­delt wer­den. Miet­ver­trag hin oder her. Dann kom­men die Besich­ti­gungs­tou­ren. Weh­ren kann sich ein Mie­ter nicht. Grösch­ner: »Mei­ne Wut wuchs.« Nicht so sehr gegen den Mak­ler, »son­dern dage­gen, dass es über­haupt mög­lich war, dass der intim­ste Raum des Men­schen, die Woh­nung, eine Ware sein konn­te. Ich weiß nicht«, die Autorin denkt zurück, »hät­te mich einer zu DDR-Zei­ten nach Para­graph sound­so aus der Woh­nung geschmis­sen, ich hät­te die ZDF-Sen­dung ›Kenn­zei­chen D‹ im Westen ange­ru­fen. Und sicher hät­ten sie einen Bei­trag über die Unver­letz­lich­keit der Woh­nung gebracht, die in der DDR mit Füßen getre­ten wer­de. Ich kann mich aber nicht erin­nern«, sin­niert sie wei­ter, »dass es so einen Fall damals gege­ben hät­te. Man flog nicht mal raus, wenn man ein Jahr lang die Mie­te nicht bezahlt hatte.«

Den Him­mel über Ost­ber­lin erlebt die Autorin am Jah­res­wech­sel 1988/​89 über den Dächern. Das letz­te Mal. Spä­ter wur­de oben alles mit Sta­chel­draht und Vor­hän­ge­schlös­sern ver­ram­melt, die Böden sind in teu­re Dach­ge­schoss­woh­nun­gen ver­wan­delt, da, wo frü­her die Wäsche hing. Die Demo zum 4. Novem­ber 1989 am Alex­an­der­platz lässt die Autorin von vie­len Stim­men beschrei­ben: enthu­sia­sti­sche, skep­ti­sche. Eine Stim­me über die Trau­er, die sie beim Den­ken an das Ereig­nis ergreift: »Seit dem Groß­pla­kat ›Wir waren das Volk‹ vor zehn Jah­ren am Haus des Leh­rers ist eigent­lich alles dazu gesagt.«

Eine ande­re Demo. Am 3. Okto­ber 1990 rie­fen auf dem Koll­witz­platz im Prenz­lau­er Berg 10.000 Men­schen die »Auto­no­me Repu­blik Uto­pia« als Gegen­re­pu­blik zur BRD aus. Vie­le, die dabei waren, muss­ten inzwi­schen weg­zie­hen, oder sie sind gestor­ben. »Es ging schon bald nicht mehr um Uto­pie, son­dern um Ren­di­te« – das Fazit der Autorin. Sie schreibt: »Die fröh­li­chen Habe­nicht­se muss­ten einer immo­bi­li­en­be­sit­zen­den Klas­se wei­chen.« Künstler/​innen wer­den ver­trie­ben. Der Maler Kon­rad Kne­bel, der kurz vor sei­nem 80. Geburts­tag sein Ate­lier ver­las­sen muss­te, ein Haus, in dem er seit 1963 wohn­te und arbei­te­te. Das Umschlag­mo­tiv des Buches stammt von ihm. 2009 erhielt er den Hannah-Höch-Preis.

Eine der weni­gen Abbil­dun­gen im Buch zeigt das Foto einer jun­gen Frau, »Ramo­na«, die vor einer bekrit­zel­ten Wand steht, etwas ver­le­gen. Die Foto­gra­fin Hel­ga Paris nahm es 1982 in der Koll­witz­stra­ße auf. Ein paar Sei­ten wei­ter, ein Gemäl­de von Ann­emirl Bau­er: »Madon­na vom Prenz­lau­er Berg«, 1974 ent­stan­den und in den Rah­men eines Grün­der­zeit­spie­gels ein­ge­passt, auch er bemalt. Die Madon­na ist schwan­ger. Die Male­rin schrieb dazu: »Mut­ter im 3. Monat, Kind sicht­bar, ein­ge­bet­tet in para­die­si­sche Voll­kom­men­heit, die nach mensch­li­chem Wil­len unter­bro­chen wer­den kann. Mut­ter ein­ge­bet­tet in unvoll­kom­me­ne Umwelt …«Ann­emirl Bau­er wohn­te in einer unbe­heiz­ba­ren Laden­woh­nung mit Näs­se und Schwamm am Helm­holtz­platz. Sie hat­te eine klei­ne Toch­ter. Sie schrieb 1969 an Lot­te Ulb­richt eine Ein­ga­be wegen der unhalt­ba­ren Zustän­de. Erst 20 Jah­re spä­ter erhielt sie eine schö­ne Ate­lier­woh­nung, die sie nicht mehr nut­zen konn­te, weil sie in dem Jahr starb, da war sie 50.

Annett Grösch­ner gibt mit ihren Geschich­ten, die – mit Aus­nah­men – alle schon ein­mal in ver­schie­de­nen Medi­en ver­öf­fent­licht wur­den, Ein­blicke in eher unbe­kann­te Lebens­be­rei­che. So in den Beruf der Anklei­de­rin beim Thea­ter – nicht Kostüm­bild­ne­rin. Hier das Deut­sche Thea­ter – aus einem ande­ren Blick­win­kel her­aus gese­hen. Sie schil­dert, was es mit den Gesän­gen im Fuß­ball­sta­di­on kurz vor Weih­nach­ten auf sich hat. Weih­nachts­sin­gen beim 1. FC Uni­on. Klein­gärt­ner in Ost und West haben Pro­ble­me. Die mei­sten Schutz­fri­sten für Klein­gar­ten­an­la­gen sol­len 2020 aus­lau­fen. Fried­hö­fe dage­gen wer­den auch schon mal als »Grün­an­la­gen« bezeich­net in den Beschrei­bun­gen der Woh­nungs­mak­ler. Eine lan­ge Geschich­te nennt sich: »Die Bau­ak­te des Grund­stücks Fasa­nen­stra­ße 23«, es exi­stie­ren fünf Bän­de: Akten zu dem heu­ti­gen Lite­ra­tur­haus im Westen Berlins.

Ein Rück­blick auf die nie ver­wirk­lich­te Auto­no­me Repu­blik Uto­pia, auf dem Koll­witz­platz aus­ge­ru­fen. Im sel­ben Jahr, als der Eini­gungs­ver­trag Rück­ga­be von Eigen­tum statt Ent­schä­di­gung vor­sah. »Dass die­ses Gebiet fast kom­plett ent­mischt wor­den ist, dass es noch nicht ein­mal wie­der­ver­ei­nigt, son­dern am Ende ein­fach erobert wor­den ist«, wie die Autorin erkennt, sei »eine der trau­rig­sten Vol­ten der Geschichte.«

 

Annett Grösch­ner: »Ber­li­ner Bürger*Stuben. Palim­pse­ste und Geschich­ten«, Edi­ti­on Nau­ti­lus, 328 Sei­ten, 20