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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Epizentrum der iranischen Schiiten

Plötz­lich recken alle ihre Häl­se, schau­en neu­gie­rig aus den Fen­stern des Flug­zeu­ges, Foto­ap­pa­ra­te klicken. Ich sit­ze am Gang und kann im Dun­kel der Nacht nur gel­be Lich­ter unter uns erken­nen. »Es sieht aus wie ein rie­si­ger gel­ber Stern, der in der Mit­te weiß leuch­tet«, mel­det mei­ne Frau Caro­la, die eine Rei­he hin­ter mir am Fen­ster freie Sicht nach unten hat.

Nach gut drei Stun­den Flug befin­den wir uns um halb zwei Uhr in der Frü­he im Lan­de­an­flug auf die Drei-Mil­lio­nen-Metro­po­le Mash­had im Nord­osten des Irans nahe der Gren­ze zu Turk­me­ni­stan. Mei­ne Sitz­nach­barn, ein ira­ni­sches Ehe­paar, das in San Fran­cis­co lebt und die Fami­lie daheim besu­chen will, hat mich gleich nach dem Start in Istan­bul dafür beglück­wünscht, dass ich mit meh­re­ren Freun­den von Mash­had aus zu einer Tour in den Süden des rie­si­gen Lan­des star­ten will. Lei­der, so bedau­ern sie, sei es ihnen bis­her nicht gelun­gen, ihre Nach­barn in Kali­for­ni­en davon zu über­zeu­gen, dass der Iran ein fas­zi­nie­ren­des und siche­res Rei­se­land sei. Die­se posi­ti­ve Erfah­rung hat­ten mei­ne Freun­de und ich bereits 2014 gemacht, als wir im Klein­bus die tou­ri­sti­sche Haupt­rou­te von Tehe­ran über Kas­han, Isfa­han, Yazd bis Per­se­po­lis und Shiraz gefah­ren waren. Land und Leu­te hat­ten uns so begei­stert, dass wir beschlos­sen, nun den etwas abge­le­ge­ne­ren Osten des Irans für uns zu ent­decken. Sor­gen berei­te­ten uns die Kriegs­dro­hun­gen der US-Regie­rung, die den Iran ver­teu­felt und seit ihrer völ­ker­rechts­wid­ri­gen Kün­di­gung des Atom­ver­tra­ges erneut ver­sucht, das Land mit Sank­tio­nen wirt­schaft­lich zu erdrosseln.

Als das Flug­zeug gelan­det ist, begin­nen die mei­sten weib­li­chen Pas­sa­gie­re sich umzu­klei­den. Sie bin­den Kopf­tü­cher um ihre bis dahin unbe­deck­ten Haa­re, zie­hen lang­ärm­li­ge Blu­sen oder Staub­män­tel über, um den Klei­dungs­vor­schrif­ten der isla­mi­schen Repu­blik zu genü­gen. »Kann ich das so tra­gen?« fragt mich Caro­la unsi­cher mit Hin­weis auf ihr Kopf­tuch. »That’s okay«, beru­higt sie mein Sitznachbar.

»Wel­co­me to Mash­had!« Nach kur­zem Blick in Pass und Visum heißt mich der Beam­te der »Immi­gra­ti­on Poli­ce« in der rie­si­gen Emp­fangs­hal­le des Flug­ha­fens freund­lich will­kom­men, weist mir den Weg zu den Kof­fer­bän­dern ent­lang eines Spruch­ban­des in ara­bi­scher Schrift, das von zwei gro­ßen Por­traits flan­kiert wird: Das eine zeigt Aya­tol­lah Kho­mei­ni, den ver­stor­be­nen Füh­rer der Revo­lu­ti­on von 1979, auf dem ande­ren lächelt Aya­tol­lah Kha­men­ei, das aktu­el­le poli­tisch-reli­giö­se Ober­haupt des Landes.

Am Aus­gang zur Stra­ße müs­sen alle Rei­sen­den durch einen Sicher­heits­check. Unse­re Kof­fer wer­den durch­leuch­tet, und auch wir durch­schrei­ten einen Detek­tor, wer­den auf Waf­fen abge­ta­stet. Das alles geht ent­spannt und zügig über die Büh­ne, so dass wir bald dar­auf die Hän­de von Hart­mut Nie­mann schüt­teln, unse­rem Rei­se­lei­ter. Der 1,95 Meter gro­ße Hüne mit sei­nen wal­len­den grau­en Zot­tel­haa­ren ist nicht zu über­se­hen. Nie­mann ist Kopf und Herz der Göt­tin­ger Agen­tur »Ori­ent Express«, mit der er seit 25 Jah­ren Rei­sen in den Iran und nach Zen­tral­asi­en organisiert.

Nie­mann hat­te Anfang der 1970er Jah­re in Göt­tin­gen erst sei­ne Lie­be zu einer lin­ken Exil-Ira­ne­rin ent­deckt und danach sei­ne Lei­den­schaft für die per­si­sche Kul­tur. Der gelern­te Buch­händ­ler, der Anfang der 1970er Jah­re zum Werk­zeug­ma­cher umge­schult hat­te, sat­tel­te ein wei­te­res Mal um und stu­dier­te an der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen Ira­ni­stik. Vor 40 Jah­ren, aus­ge­rech­net auf dem Höhe­punkt der Revo­lu­ti­on im Jahr 1979, berei­ste Nie­mann den Iran zum ersten Mal, seit­dem ist er mehr­mals im Jahr im Land, kennt dort inzwi­schen fast jeden Win­kel und vie­le Men­schen, mit denen er freund­schaft­lich ver­bun­den ist; er spricht flie­ßend Farsi.

In Tehe­ran hat Nie­mann für unse­re Rei­se einen Klein­bus gemie­tet, der gleich mit gemie­te­te ira­ni­sche Fah­rer begrüßt uns herz­lich: ein jovia­ler Mitt­vier­zi­ger namens Mans­ur, der uns zum Hotel fährt. Mit an Bord sind auch zwei Mit­ar­bei­ter der Göt­tin­ger Rei­se­agen­tur, das frisch ver­hei­ra­te­te Paar Moj­ta­bah und Fate­meh, zwei jun­ge Aze­ris aus der ira­ni­schen Pro­vinz Aser­bai­dschan, Nie­manns Assi­sten­ten, die uns auf­merk­sam umsor­gen und mit denen wir uns auf Deutsch und Eng­lisch verständigen.

Unter gelb leuch­ten­den Stra­ßen­la­ter­nen fah­ren wir auf einem brei­ten Bou­le­vard bald direkt auf das wei­ße Licht zu, das Caro­la aus der Luft gese­hen hat. Hier ist der Mit­tel­punkt von Mash­had: Flut­licht taucht eine gol­de­ne Kup­pel in glei­ßen­de Hel­le. Die Kup­pel wur­de Ende des 16. Jahr­hun­derts errich­tet. Sie krönt das Mau­so­le­um des Imam Reza, des ach­ten Imam der Schii­ten, der im Jahr 815 von einem Hand­lan­ger des Bag­da­der Kali­fen ermor­det wur­de. Der Tat­ort im dama­li­gen Dörf­chen San­a­bad war schnell zur Wall­fahrts­stät­te gewor­den, das Dorf wuchs nicht zuletzt wegen der Pil­ger zur rei­chen Groß­stadt. Heu­te ist das meh­re­re hun­dert Hekt­ar gro­ße Hei­lig­tum das Epi­zen­trum schii­ti­scher Geist­lich­keit im Iran. Unfass­ba­re 27 Mil­lio­nen Pil­ger besu­chen Jahr für Jahr die Stadt, erfah­ren wir am näch­sten Mor­gen im Info­zen­trum des reli­giö­sen Schreins. Für so viel Zuspruch haben Mul­lahs gesorgt, als sie irgend­wann beim Frei­tags­ge­bet ver­kün­de­ten, ein Besuch an Rez­as Grab ver­schaf­fe 70.000 mal mehr Gna­de, als eine Wall­fahrt zur Kaa­ba in Mekka.

Neben der gol­de­nen Kup­pel ragen vier gold-glän­zen­de und im unte­ren Bereich blau geka­chel­te Mina­ret­te in den Him­mel. Dane­ben erhebt sich eine grö­ße­re tür­kis-blaue Kup­pel von erha­be­ner Schön­heit. Sie gehört der Moschee Gowhar-Shad, einem beson­ders ein­drucks­vol­len archi­tek­to­ni­schen Schmuck­stück im hei­li­gen Bezirk.

Als wir schließ­lich nach vier­zig­mi­nü­ti­ger Fahrt müde im Hotel Tehr­an ein­checken, einem klei­nen, kom­for­ta­blen Drei-Ster­ne-Hotel unweit des Schreins, sind vor dem Hotel Män­ner in roten Over­alls aktiv: Die Stra­ßen­rei­ni­gung leert Abfall­kör­be, fegt den Bürgersteig.

Nach kur­zer Nacht und kur­zem Fuß­marsch mel­det uns Nie­mann am Mor­gen im Büro für inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen des Hei­lig­tums als Grup­pe an. Von einer schat­ti­gen Ecke aus beob­ach­ten wir der­weil den Zug der Pil­ger, die auch uns beäu­gen. Farb­lich domi­nie­ren die von uns despek­tier­lich »Raben« genann­ten Frau­en in ihren über­wie­gend schwar­zen Tscha­dors, wei­ten Umhän­gen, die über den Kopf bis zu den Knö­cheln rei­chen und nur Gesicht und Hän­de unbe­deckt las­sen. Ein Wäch­ter diri­giert den Men­schen­strom mit einem lan­gen blau­en Staub­we­del zu einem der Ein­gän­ge. Dank des Wedels muss er dabei nie­man­den anfas­sen. Wir geben Taschen und Foto­ap­pa­ra­te in einem Wäch­ter­häus­chen ab, dür­fen aber in dem für Nicht-Mus­li­me erlaub­ten Teil des Harams (»ver­bo­te­ner Ort«) mit unse­ren Han­dys Fotos schie­ßen. Zuvor geht es – Frau­en und Män­ner räum­lich getrennt – durch eine Sicher­heits­kon­trol­le, wo wir mit einem lächeln­den »Wel­co­me« auf Waf­fen abge­ta­stet wer­den. Unse­re Frau­en erhal­ten einen hel­len Tscha­dor, eine Art geblüm­tes Betttuch, das sie um Kopf und Kör­per hül­len müs­sen, ein Anblick, der bei uns Hei­ter­keit hervorruft.

Ein älte­rer Herr mit gestutz­tem Voll­bart tritt auf uns zu. Eine Mes­sing­pla­ket­te an sei­nem anthra­zit­far­be­nen Anzug weist ihn als Gui­de aus – als einen von 30.000 frei­wil­li­gen Hel­fern, die jeweils an einem Tag in der Woche die Pil­ger und Besu­cher unent­gelt­lich betreu­en und ver­kö­sti­gen. Im Schein der sehr war­men Okto­ber­son­ne que­ren wir einen wei­ten Vor­hof, der ist meh­re­re Fuß­ball­fel­der groß, rund ein Drit­tel sei­ner Flä­che ist mit Tep­pi­chen für Beten­de aus­ge­legt. Dane­ben sta­peln sich wei­te­re Tep­pi­che. Von dem Vor­hof gehen ver­wir­rend vie­le wei­te­re Höfe und Ein­gän­ge zu dut­zen­den Bau­wer­ken ab.

Im Lau­fe der Jahr­hun­der­te sind um die Grab­stät­te des Imam unzäh­li­ge Gebäu­de errich­tet wor­den – Moscheen, Med­re­sen, Gäste­häu­ser, Armen­kü­chen, ein Kran­ken­haus, eine Biblio­thek, Bäcke­rei­en und meh­re­re Muse­en. Hohe Krä­ne zei­gen an, dass auch heu­te noch Neu­es gebaut wird. Alle Gebäu­de ziert rei­cher Fay­en­cen­schmuck. Geschmack­voll kom­bi­nie­ren die Kacheln Orna­men­te und Schrift­zei­chen, farb­lich har­mo­nie­ren Blau, Weiß, Gold, Ocker und Schwarz. Eine unglaub­li­che Pracht!

Kreuz und quer lei­tet uns der Füh­rer über das Gelän­de. Trepp­ab­wärts geht es in gro­ße mit Tep­pi­chen aus­ge­leg­te Gebets­hal­len und Räu­me für reli­giö­se Unter­wei­sun­gen, die jeweils von Män­nern oder Frau­en getrennt geräusch­voll bevöl­kert wer­den. Wir müs­sen unse­re Schu­he aus­zie­hen und in Pla­stik­tü­ten mit uns tragen.

Wän­de und Decken der hell erleuch­te­ten Hal­len sind mit glit­zern­den Spie­gel­ele­men­ten aus­ge­klei­det, gera­de so als habe die für sol­che Arbei­ten bekann­te fran­zö­si­sche Künst­le­rin Niki de Saint Phal­le hier auf den Ein­satz von Bunt­glas ver­zich­tet. Wir erfah­ren, dass sich unter die­sen Hal­len noch ein Tief­ge­schoss erstreckt: eine kilo­me­ter­lan­ge Ring­stra­ße, in die die stern­för­mig auf das Hei­lig­tum zulau­fen­den Bou­le­vards seit den 1990er Jah­ren mün­den. Tau­sen­de Park­plät­ze säu­men die­se Magi­stra­le unter der Erde.

Nach zwei­stün­di­ger Füh­rung durch immer dich­ter wer­den­de Pulks von Gläu­bi­gen ste­hen wir am Rand eines lan­gen Beckens, einer Was­ser­an­la­ge mit vie­len Häh­nen, aus denen das Nass für ritu­el­le Waschun­gen strömt.

Durch das offe­ne Fen­ster eines Gebäu­des kön­nen wir einen Teil eines gol­de­nen Git­ters erken­nen, hin­ter dem sich das Grab des Imam befin­det. Wir haben dort kei­nen Zutritt. Ziel der Pil­ger sei es, erläu­tert Nie­mann, das Git­ter zu berüh­ren und dabei drei from­me Wün­sche zu äußern. Er kön­ne das ger­ne für uns über­neh­men, bie­tet unser Füh­rer an. Als wir kei­nen Bedarf anmel­den, guckt er etwas ent­täuscht. Auf dem Weg zum Aus­gang kreu­zen uns eilig schrei­ten­de Män­ner, dahin­ter fol­gen Frau­en: eine Trau­er­ge­mein­de, die einen Leich­nam zur Beer­di­gung in eine Hal­le trägt. Eine Beer­di­gung in der Nähe des Gra­bes von Imam Reza kön­nen sich nur wohl­ha­ben­de Ira­ner lei­sten, erfah­ren wir, als wir wie­der in unse­ren Bus steigen.

Fort­set­zung in der näch­sten Aus­ga­be: Am Grab des per­si­schen Homer und bei muti­gen jun­gen Leuten