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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zerschlagung und Privatisierung der S-Bahn

Sie ver­su­chen es schon wie­der: Die Ber­li­ner Lan­des­re­gie­rung steht kurz davor, eine ihrer wich­tig­sten Daseins­vor­sor­ge­ein­rich­tun­gen zu pri­va­ti­sie­ren: die S-Bahn. Im Zuge einer bis zu acht Mil­li­ar­den Euro umfas­sen­den Aus­schrei­bung sol­len zwei Drit­tel des Betriebs pri­va­ti­siert wer­den sowie die Beschaf­fung und Instand­hal­tung aller neu­en Züge. Die neue Aus­schrei­bung soll eine Reak­ti­on auf das S-Bahn-Cha­os von 2008/​09 sein. Die DB hat­te auf ihrer ver­meint­li­chen Fahrt zur Bör­se die S-Bahn-Züge und auch das Netz so her­un­ter­ge­wirt­schaf­tet, dass zeit­wei­lig nur noch die Hälf­te der Wagen fah­ren konn­te. Ein wei­te­res Argu­ment ist, dass das Wett­be­werbs­recht die Aus­schrei­bung zwin­gend ver­lan­ge. Die Kon­se­quenz wäre eine der größ­ten Pri­va­ti­sie­run­gen in Deutsch­land seit vie­len Jah­ren. Zugleich wür­de das zwar durch die Miss­wirt­schaft der DB ange­grif­fe­ne, aber in den Grund­la­gen intak­te Ver­kehrs­sy­stem S-Bahn zer­schla­gen. Dage­gen regt sich Widerstand.

Ist die Grund­an­nah­me falsch, kann man nicht zum rich­ti­gen Ergeb­nis kom­men, selbst wenn man im Wei­te­ren logisch ver­fährt. Der neu­en Aus­schrei­bung lie­gen zwei fal­sche Annah­men zugrun­de: der Mono­po­li­sten­irr­tum und der Wett­be­werbs­ge­setz­feh­ler. Irri­ger Wei­se wird zum einen davon aus­ge­gan­gen, es sei 2008 zum Cha­os gekom­men, weil die S-Bahn GmbH ein Mono­po­list ist. Ver­gibt man im Wett­be­werb und an meh­re­re, so die Schluss­fol­ge­rung, dann kön­ne so etwas nicht mehr pas­sie­ren. Es gibt bei der S-Bahn aber kei­nen Kun­den­wett­be­werb. Die Ber­li­ne­rIn­nen, die mit der Stadt­bahn zur Arbeit müs­sen, kön­nen nicht als Alter­na­ti­ve mit der S2 nach Ber­nau fah­ren. Bei Schie­nen­net­zen spricht man von einem soge­nann­ten natür­li­chen Mono­pol. Bezüg­lich des Ver­kehrs auf die­sen Net­zen geht es – wenn man Infra­struk­tur und Ver­kehr trennt – um Mono­po­le auf lan­ge Zeit, hier min­de­stens für 15 Jah­re. Trennt man auch noch die Instand­hal­tung der Züge ab und ver­gibt sie in einem ÖPP-Vor­ha­ben für drei­ßig Jah­re an Drit­te, so schafft man ein wei­te­res Mono­pol. Es ist in der klas­si­schen Volks­wirt­schaft Kon­sens, dass Mono­po­le in der Daseins­vor­sor­ge am besten vom Staat bezie­hungs­wei­se von der öffent­li­chen Hand ver­wal­tet wer­den. Hat man dar­in einen pri­vat­wirt­schaft­li­chen Akteur, fan­gen die Pro­ble­me an. Die S-Bahn Ber­lin GmbH und die DB Netz AG haben im Vor­griff auf pri­va­te Gewin­ne, die an der Bör­se gene­riert wer­den soll­ten, die Aus­beu­tung von Per­so­nal, Wagen­ma­te­ri­al und Infra­struk­tur mas­siv erhöht. Obwohl in Bun­des­ei­gen­tum, agie­ren sie nicht nach ver­kehrs­po­li­ti­schen, son­dern nach unter­neh­mens­po­li­ti­schen Vor­ga­ben. Bei Aus­schrei­bun­gen der Ver­keh­re ist der soge­nann­te Wett­be­werb nur ein Wett­be­werb um den Markt. In Ber­lin gene­riert der Senat für 15 bezie­hungs­wei­se 30 Jah­re drei oder vier Mono­po­li­sten statt einem. Nach der Unter­schrift unter den Ver­kehrs­ver­trag wer­den die neu­en Betrei­ber zu genau dem, was die S-Bahn Ber­lin 2008 war und – infol­ge ver­fehl­ter Poli­tik der DB – im Grun­de auch heu­te noch ist.

Pri­va­ti­sie­rung im Detail

Ein pri­va­ter Betrei­ber kann gemäß der Aus­schrei­bung für 15 Jah­re den Betrieb der Nord-Süd-Strecken S1, S2, S25 und S26 bekom­men. Man kann die­sen Akteur zur Ver­an­schau­li­chung auch die »Wir ver­spre­chen alles und kön­nen nichts«-GmbH nen­nen. Die­ser Betrei­ber soll einen eige­nen Werk­statt­zu­gang in einer kom­plett neu zu bau­en­den Werk­statt bekom­men, an der Schö­ner­lin­der Stra­ße. Ein ande­rer pri­va­ter Betrei­ber soll für 15 Jah­re den Zuschlag für den Betrieb der Stadt­bahn (Ost-West-Strecken S3, S5, S7, S75 und S9) erhal­ten, er wird im Fol­gen­den die »Wir sind gleich pleite«-GmbH genannt. Die­ser Betrei­ber soll ent­we­der einen eige­nen Werk­statt­zu­gang in einer kom­plett neu zu bau­en­den Werk­statt in Waß­manns­dorf bekom­men oder einen Zugang zur oben bereits erwähn­ten Werk­statt an der Schö­ner­lin­der Stra­ße. In die­sem Fall muss zusätz­lich eine Dia­go­nal­que­rung des Karower Kreu­zes mit drei Über­wer­fungs­bau­wer­ken errich­tet wer­den – ein teu­res Vor­ha­ben (min­de­stens 300 Mil­lio­nen Euro), das zudem den wich­ti­gen Schie­nen­kno­ten im Nor­den Ber­lins zehn Jah­re in eine Bau­stel­le ver­wan­deln könn­te. Und ein drit­ter pri­va­ter Anbie­ter soll mit der Beschaf­fung von ins­ge­samt 1300 Wagen beauf­tragt wer­den. 1300 Wagen ent­spre­chen der Anzahl von Wagen, die der­zeit im Ber­li­ner S-Bahn-Netz fah­ren. Der­sel­be pri­va­te Anbie­ter soll oben­drein für 30 Jah­re den Auf­trag bekom­men, die­se Wagen instand zu hal­ten, eine klas­si­sche öffent­lich-pri­va­te Part­ner­schaft (ÖPP). Wegen der hohen Quo­te von Wei­ter­ver­käu­fen im Bereich von ÖPPs (im Schnitt alle 6,7 Jah­re) wird der Instand­hal­ter als die »GmbH, die am Tag nach Ver­trags­un­ter­zeich­nung an Black­Rock ver­kauft wird« bezeichnet.

Die mit der Pri­va­ti­sie­rung ver­bun­de­nen Risi­ken sind aus zahl­rei­chen Nega­tiv­bei­spie­len bekannt. In Groß­bri­tan­ni­en begann die Bahn­pri­va­ti­sie­rung mit der Aus­grün­dung und dem schnell fol­gen­den Aus­ver­kauf des Wagen­ma­te­ri­als (in rol­ling stock com­pa­nies, ROS­COs, zusam­men­ge­fasst). Eine bri­ti­sche Stu­die des hou­se of com­mons zu den ROS­COs zeigt, dass dort Mil­li­ar­den Pfund aus dem System an rei­ne Kapi­tal­an­le­ger (dar­un­ter die Bank of Scot­land) abwan­dern, ohne zu Reinve­sti­tio­nen zu füh­ren. Das bri­ti­sche Wagen­ma­te­ri­al ist über­al­tert, teil­wei­se über 40 Jah­re alt und fast schrott­reif, rele­van­te Neu­ent­wick­lun­gen gibt es so gut wie keine.

Alle drei genann­ten GmbHs wer­den Eigen­tü­mer, die ihre jeweils eige­nen Ren­di­te­vor­stel­lun­gen pfle­gen. Man­che davon möch­ten schnell Geld machen. Man­che haben vor, ihrem Wett­be­wer­ber DB AG so viel zu scha­den wie mög­lich. Man­che haben ihren Sitz in Steu­er­oa­sen wie Luxem­burg. Man­che sind dar­auf spe­zia­li­siert, öffent­li­che Auf­trag­ge­ber im Ver­trags­zeit­raum mit Hil­fe von Lücken in den Ver­trä­gen (die not­wen­di­ger­wei­se unvoll­stän­dig sind) und/​oder mit Insol­venz­dro­hun­gen zu erpressen.

Zer­schla­gung im Detail

In der oben Wett­be­werbs­ge­setz­feh­ler genann­ten fal­schen Grund­an­nah­me geht der Senat davon aus, Ber­lin sei gesetz­lich ver­pflich­tet, die S-Bahn zu zer­schla­gen, um dadurch ver­schie­de­ne Betrei­ber zu ermög­li­chen. Tat­säch­lich gibt es so eine Vor­ga­be nicht. Die Zer­schla­gung wäre so weit­rei­chend, dass die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des Gan­zen dadurch wesent­lich ein­ge­schränkt oder gefähr­det wür­de. Die Ber­li­ner S-Bahn ist ein­zig­ar­tig. Mit Aus­nah­me der Spur­brei­te ist alles spe­zi­ell. Man kann nicht mit sei­nen Wagen aus Nord­rhein-West­fa­len oder Ham­burg kom­men, um sie in Ber­lin zu betrei­ben. Die S-Bahn-Züge und das Netz bil­den eine Ein­heit. Um die Aus­schrei­bung über­haupt zu ermög­li­chen, sol­len Dop­pel-, teil­wei­se Drei­fach­struk­tu­ren errich­tet wer­den – aus Steu­er­gel­dern. Zwei neue Wer­ke sol­len an der Schö­ner­lin­der Stra­ße und in Waß­manns­dorf gebaut wer­den. Zum Ver­gleich: Zu den zwei neu­en Wer­ken müs­sen (min­de­stens) zwei neue Aus­fahr­ten gebaut wer­den. Die S-Bahn hat der­zeit vier Wer­ke (Schö­ne­wei­de, Fried­richs­fel­de, Wann­see und Grün­au) und zwei Instand­hal­tungs­stütz­punk­te (Erkner und Ora­ni­en­burg). Dar­in sol­len dem­nach künf­tig nur noch ein Drit­tel der Ber­li­ner Wagen instand­ge­hal­ten wer­den – sie sol­len also ver­fal­len oder schlie­ßen? Es wer­den neue Nacht­ab­stell­mög­lich­kei­ten für 1300 Wagen benö­tigt. Zur Ver­an­schau­li­chung: Ein S-Bahn-Wagen ist cir­ca 18,5 Meter lang, dem­entspre­chend haben 1300 Wagen zusam­men eine Län­ge von 24 Kilo­me­tern. Das ist kei­ne Klei­nig­keit, zumal zu beden­ken ist, dass zur Nacht­ab­stel­lung die Auf­ga­be des Van­da­lis­mus­schut­zes gehört. Es wer­den zudem auch mobi­le Instand­hal­tungs­ein­hei­ten benötigt.

Es ent­ste­hen im Zuge der Zer­schla­gung zahl­rei­che neue Schnitt­stel­len. Die neu­en Betrei­ber fah­ren nicht das eige­ne Zug­ma­te­ri­al. Was pas­siert im Streit­fall mit der Fir­ma, die die Instand­hal­tung macht? Ent­we­der wirft der Betrei­ber dem Instand­hal­ter vor, zu schlecht zu war­ten. Oder der Instand­hal­ter wirft dem Betrei­ber vor, schlecht mit dem Wagen­ma­te­ri­al umzu­ge­hen. Jeder der Vor­wür­fe lan­det vor Gericht.

Per­so­nal kann nicht mehr ein­fach umge­setzt wer­den, wenn zum Bei­spiel krank­heits­be­dingt kurz­fri­stig Aus­fäl­le auf­tre­ten. Der Betrieb liegt in ver­schie­de­nen Händen.

Die DB Netz AG stellt nun den neu­en Betrei­bern die Infra­struk­tur zur Ver­fü­gung. Wird sie die eige­ne Schwe­ster-Gesell­schaft S-Bahn GmbH und die Kon­kur­renz gleich behan­deln? Die neu­en Betrei­ber fah­ren nicht allein auf den von ihnen genutz­ten (»Miet«-)Strecken, son­dern tei­len sich Strecken und Bahn­hö­fe auch mit ande­ren, ins­be­son­de­re den S-Bahn-Ring. Was pas­siert im Stö­rungs­fall? Umge­kehrt wol­len alle der DB Netz die Schuld für Stö­run­gen und Ver­spä­tun­gen anhän­gen. Mög­lichst auch vor Gericht. Dann gibt es auch noch die »teil­los­über­grei­fen­den Ser­vice- und Ver­triebs­lei­stun­gen für das gesam­te Ber­li­ner S-Bahn-Netz«, soge­nann­te Quer­schnitts­lei­stun­gen. Das sind die Fahr­gast­in­for­ma­ti­on, der Sicher­heits­dienst, der Kun­den­ser­vice, der Ticket­ver­kauf, die Fahr­aus­weis­kon­trol­len und das Mar­ke­ting für die S-Bahn-Ver­keh­re. Wer macht das künf­tig für wen? Und zu wel­chen Kosten? Es wird ersicht­lich, dass eine Zer­split­te­rung der S-Bahn in Teil­auf­ga­ben vie­le Risi­ken birgt. Das Gesetz gegen Wett­be­werbs­be­schrän­kun­gen (GWB) ver­langt eine Aus­schrei­bung, aber nicht die Zer­schla­gung in drei oder mehr Tei­le. Die wich­tig­ste Aus­nah­me­re­gel im Gesetz, die expli­zi­te Mög­lich­keit öffent­lich-öffent­li­cher Zusam­men­ar­beit, wird im Wett­be­werbs­ge­setz­feh­ler zudem völ­lig aus­ge­klam­mert. Danach könn­te der S-Bahn-Betrieb durch ein lan­des­ei­ge­nes Unter­neh­men erfol­gen. Ber­lin ist sogar bei den Ener­gie­net­zen schon ein­mal so vor­ge­gan­gen und hat ein eige­nes Stadt­werk gegrün­det, um mit­tel­fri­stig die Ber­li­ner Net­ze selbst betrei­ben zu kön­nen. Man weiß beim Senat also, wor­um es auch bei der S-Bahn gehen könnte.

Pri­va­ti­sie­rung im Zei­chen von Rot-Rot-Grün

Ber­lins Regie­ren­der Bür­ger­mei­ster Micha­el Mül­ler (SPD) schlägt eine Pri­va­ti­sie­rungs­brem­se nach Bre­mer Vor­bild vor. Jede Pri­va­ti­sie­rung soll dem­nach im Refe­ren­dum per Zwei­drit­tel-Mehr­heit bestä­tigt wer­den. Als die Lin­ke auf ihrem Lan­des­par­tei­tag 2017 den Ein­stieg in die Schul­pri­va­ti­sie­rung beschloss, war auch so eine Pri­va­ti­sie­rungs­brem­se ein wich­ti­ges Ablen­kungs­the­ma. Es steht sogar so etwas Ähn­li­ches im Koali­ti­ons­ver­trag. Wenn es dem Senat und dem Abge­ord­ne­ten­haus ernst damit ist, könn­te man doch dort gleich mal über die S-Bahn abstim­men las­sen. Was die regie­ren­den Par­tei­en betrifft, so muss gefragt wer­den: Wol­len die Grü­nen in Zei­ten von Kli­ma­wan­del und »Fri­days for Future«-Bewegung wirk­lich ein weit­ge­hend intak­tes, aus­bau­fä­hi­ges Nah­ver­kehrs­sy­stem zer­schla­gen? Will die SPD für das Jahr 2021 damit Wahl­kampf machen, dass sie gute Arbeits­plät­ze durch Lohn­dum­ping im Zuge der Aus­schrei­bung zer­stört hat? Und dass sie vie­le Mil­lio­nen Euro Steu­er­geld für Bau­maß­nah­men ver­schwen­det, die den Fahr­gä­sten kei­ner­lei Nut­zen brin­gen? Und will sich die Lin­ke nach der fol­gen­schwe­ren Pri­va­ti­sie­rung der GSW-Woh­nun­gen und dem Ein­stieg in die Pri­va­ti­sie­rung des Schul­baus in Ber­lin nun auch noch die S-Bahn-Pri­va­ti­sie­rung aufs Gewis­sen laden?

Wider­stand regt sich

Das Bünd­nis Bahn für Alle, das bereits erfolg­reich gegen den Bör­sen­gang der DB AG vor­ge­gan­gen ist, und die pri­va­ti­sie­rungs­kri­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on Gemein­gut in Bür­ge­rIn­nen­hand (GiB) haben den Kampf gegen die Zer­schla­gung und Pri­va­ti­sie­rung der Ber­li­ner S-Bahn auf­ge­nom­men. Eine Pres­se­kon­fe­renz in der ver­gan­ge­nen Woche bil­de­te den Auf­takt für eine Auf­klä­rungs­kam­pa­gne. Denn noch hat sich bei den Ber­li­ne­rIn­nen nicht her­um­ge­spro­chen, wel­ches neue S-Bahn-Desa­ster auf sie zurollt. Als Ziel defi­nie­ren die Akteu­re eine S-Bahn in öffent­li­cher Hand.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen: www.bahn-fuer-alle.de und www.gemeingut.org