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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Klare Absage?

Der Sude­ten­deut­sche Tag, das tra­di­tio­nel­le Pfingst­tref­fen der orga­ni­sier­ten »Ver­trie­be­nen« aus der frü­he­ren Tsche­cho­slo­wa­kei, fand 2019 in Regens­burg statt. Regens­burg digi­tal, Ste­fan Aigners kri­ti­sche Online-Tages­zei­tung für Regens­burg, berich­te­te unge­wohnt posi­tiv dar­über. »Der 70. Sude­ten­deut­sche Tag in Regens­burg mar­kiert erneut den Wan­del der Sude­ten­deut­schen Lands­mann­schaft weg von ehe­mals revi­sio­ni­sti­schen For­de­run­gen hin zu einer Ver­söh­nung mit Tsche­chi­en«, heißt es gleich im Vor­spann. Als trei­ben­de Kraft die­ses Wan­dels wird Bernd Pos­selt, CSU-Poli­ti­ker und Vor­sit­zen­der der Sude­ten­deut­schen Lands­mann­schaft (SL), vor­ge­stellt; er ste­he »für einen pan­eu­ro­päi­schen Kurs, der ein fried­li­ches und geein­tes Euro­pa anstrebt«. Posi­tiv ver­merkt Regens­burg digi­tal auch, dass weder dem völ­ki­schen Witiko­bund noch der AfD erlaubt wur­de, sich wäh­rend des zwei­tä­gi­gen Events mit einem Info­stand zu prä­sen­tie­ren. »Für die Sude­ten­deut­sche Lands­mann­schaft und Pos­selt«, fasst der Bericht­erstat­ter sei­nen Ein­druck zusam­men, »stellt die AfD in jedem Fall eine Orga­ni­sa­ti­on dar, mit der man nichts zu tun haben möch­te und erteil­te auch wäh­rend des Regens­bur­ger ST dem Natio­na­lis­mus a lá AfD eine kla­re Absa­ge.« (sic) Eine kla­re Absa­ge? Und Ver­söh­nung? Da muss man genau­er hinschauen.

Der Natio­nal­staat als uneu­ro­päi­sche Erfindung

Bernd Pos­selt sagt, er sei schon von sei­nen Eltern anti-natio­na­li­stisch erzo­gen wor­den und Geg­ner jedes Natio­na­lis­mus. Sein Vater stamm­te aus Böh­men, sei­ne Mut­ter aus der Stei­er­mark, bei­de Gebie­te gehör­ten einst zum Habs­bur­ger­reich. Ein »Klein-Euro­pa« sei das gewe­sen, schwärmt der Sohn, der 1956 in Pforz­heim gebo­ren wur­de. Ein Unglück, dass es 1918 in etli­che Natio­nal­staa­ten zer­schla­gen wor­den sei. Einer davon war die Tsche­cho­slo­wa­kei. Drei­ein­halb Mil­lio­nen »Deut­sche« sei­en unfrei­wil­lig zu Bür­gern des neu­en Staa­tes gewor­den, bis sie 1945/​46 ver­trie­ben wor­den sei­en. Schon im 19. Jahr­hun­dert hät­ten die Tsche­chen begon­nen, von einem unab­hän­gi­gen tsche­chi­schen Natio­nal­staat zu träu­men, und schon beim Sla­wen­kon­gress 1848 – lan­ge vor Hit­ler und dem Zwei­ten Welt­krieg – sei die Ver­trei­bung der Deut­schen geplant wor­den. Die »Erfin­dung« der Natio­nal­staat­lich­keit sei Aus­druck des Natio­na­lis­mus gewe­sen, der sich in Fol­ge der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on wie eine Seu­che über ganz Euro­pa ver­brei­tet habe, »mit ver­hee­ren­den Fol­gen«. Einen Zusam­men­hang zwi­schen der Bil­dung von Natio­nal­staa­ten und der rea­len öko­no­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung sieht Pos­selt nicht, für ihn ist das Auf­kom­men von Natio­nal­staa­ten ein­fach eine Fra­ge abwe­gi­ger Ideen. Über vie­le Jahr­hun­der­te sei in Euro­pa nicht der Natio­nal­staat, son­dern das über­na­tio­na­le, föde­ra­li­stisch orga­ni­sier­te Reich die herr­schen­de Staats­form gewe­sen. Heu­te gehe es dar­um, zu die­ser eigent­li­chen euro­päi­schen Form zurück­zu­fin­den. Beson­ders wich­tig ist ihm dabei, dass das künf­ti­ge Euro­pa eine zusätz­li­che föde­ra­tiv orga­ni­sier­te Ebe­ne der »Regio­nen und Volks­grup­pen« haben soll. Dafür setzt er sich seit Jahr­zehn­ten im Euro­pa­par­la­ment ein, von 1979 bis 1994 als Assi­stent des CSU-Abge­ord­ne­ten Otto von Habs­burg, danach zwan­zig Jah­re mit eige­nem Man­dat. 2014 und 2019 ver­fehl­te er knapp den Wie­der­ein­zug in die hei­li­gen Straß­bur­ger Hal­len. Er nimmt den­noch an der par­la­men­ta­ri­schen Arbeit teil, fährt zu jeder Sit­zungs­wo­che hin, schreibt Reden und Anträ­ge, die ande­re vor­tra­gen müs­sen. Sei­ne Kampf­li­nie: »An die Stel­le des alten Rechts-Links-Sche­mas tritt zuneh­mend der Gegen­satz zwi­schen jenen, die eine über­na­tio­na­le euro­päi­sche Föde­ra­ti­on befür­wor­ten, und jenen, die in den umzäun­ten Schre­ber­gar­ten der Natio­nal­staat­lich­keit zurück­keh­ren wol­len.« In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa, wie Pos­selt sie sich vor­stellt, müs­sen die wich­ti­gen poli­ti­schen Fra­gen per Mehr­heits­be­schluss für alle ver­bind­lich ent­schie­den wer­den; Ziel muss sein, Euro­pa einen vor­de­ren Platz im Macht­ge­fü­ge der Welt zu sichern. Natio­na­list ist für Pos­selt jeder, der da aus der Rei­he tanzt.

Wie Andor­ra

Bernd Pos­selt wur­de im Jahr 2000 zum Bun­des­vor­sit­zen­den der SL und im Jahr 2008 zum »Spre­cher der Sude­ten­deut­schen Volks­grup­pe« gewählt. Seit 2014 hat er bei­de Ämter gleich­zei­tig inne. Sein Enga­ge­ment für die Pan­eu­ro­pa-Uni­on (PEU) begann weit frü­her. 1975, als 19-Jäh­ri­ger, grün­de­te er, in enger Zusam­men­ar­beit mit Otto von Habs­burg, dem letz­ten Kron­prin­zen der Habs­burg-Dyna­stie und Prä­si­den­ten der Inter­na­tio­na­len PEU, und dem vehe­men­ten Geg­ner der sozi­al­li­be­ra­len »neu­en Ost­po­li­tik« Franz Josef Strauß (CSU), die Pan­eu­ro­pa-Jugend. Deren Vor­sit­zen­der war er bis 1990. 1984 ver­öf­fent­lich­te er einen Arti­kel mit dem Titel »Wohin geht der Weg der Ver­trie­be­nen?« Dar­in geht es um Model­le für die Rea­li­sie­rung des »Rechts auf die Hei­mat« in der Zukunft, ohne neue Ver­trei­bung oder Grenz­krie­ge: »Soll die jun­ge Gene­ra­ti­on das Recht auf die Hei­mat ernst neh­men, so muß ihr gesagt wer­den, wie es in einem frei­en Gesamt­eu­ro­pa ver­wirk­licht wer­den könn­te.« Die Pan­eu­ro­pa-Jugend habe ver­sucht, ein der­ar­ti­ges Modell zu ent­wickeln, schreibt Pos­selt, »indem sie eine Abkehr vom zen­tra­li­sti­schen Natio­nal­staats­ge­dan­ken des 19. Jahr­hun­derts pro­pa­gier­te … Sie for­dert statt des­sen ein Euro­pa der Völ­ker und Volks­grup­pen, Staa­ten und Regio­nen«. Der spä­te­re SL-Spit­zen­funk­tio­när ent­wirft schon hier das Kon­zept, das er nach dem EU-Bei­tritt Tsche­chi­ens (2004) sowohl im Euro­pa­par­la­ment hart­näckig pro­pa­gie­ren als auch in der SL gegen den erbit­ter­ten Wider­stand der älte­ren Ver­trie­be­nen­funk­tio­nä­re (ins­be­son­de­re des Witiko­bun­des) durch­set­zen wird. Das pro­vo­ka­to­ri­sche Mot­to des Sude­ten­deut­schen Tages 2006 »Ver­trei­bung ist Völ­ker­mord – dem Recht auf die Hei­mat gehört die Zukunft« wird er benut­zen und wie­der fal­len las­sen. Die For­de­rung, Prag müs­se das »Unrecht der Ver­trei­bung« aner­ken­nen und direk­te Gesprä­che dar­über mit der SL-Spit­ze auf­neh­men, wird er zurück­stel­len. Das Ziel der »Wie­der­ge­win­nung der Hei­mat« wird er aus der SL-Sat­zung strei­chen las­sen. Statt­des­sen wird er immer öfter von der »gemein­sa­men Hei­mat von Tsche­chen und Sude­ten­deut­schen« und von »Ver­söh­nung« spre­chen. Den Sude­ten­deut­schen wird er emp­feh­len, nicht als Indi­vi­du­en in die alte Hei­mat zurück­zu­keh­ren, son­dern auf die Rück­kehr »als Volks­grup­pe« zu set­zen. Er wird für ein »euro­päi­sches Volks­grup­pen­recht« strei­ten, das der SL ein Mit­spra­che­recht jen­seits der deutsch-tsche­chi­schen Gren­ze ver­schaf­fen soll. In sei­nem Arti­kel von 1984 heißt es: »Eine sol­che über­na­tio­na­le Rechts­ord­nung, die auf die Tra­di­ti­on des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches zurück­geht und gemischt­na­tio­na­le, gemischt­spra­chi­ge Ter­ri­to­ri­en ermög­licht, könn­te dem frucht­lo­sen Streit um natio­na­le Sou­ve­rä­ni­täts­rech­te und Staats­gren­zen ein Ende berei­ten. Sol­che mul­ti­na­tio­na­len Regio­nen könn­ten ent­we­der wie Andor­ra unter der Ober­ho­heit bei­der Nach­bar­staa­ten ste­hen oder im Inne­ren nach einem Volks­grup­pen­recht ent­spre­chend dem Mäh­ri­schen Aus­gleich der k. u. k. Mon­ar­chie orga­ni­siert sein oder ›reichs­un­mit­tel­bar‹ direkt der euro­päi­schen Ebe­ne unter­ste­hen.« Ein schlau­es Kon­zept, das Prag dazu brin­gen soll, auf die vol­le Sou­ve­rä­ni­tät über einen Teil des tsche­chi­schen Staats­ge­bie­tes zu ver­zich­ten. Nichts deu­tet dar­auf hin, dass Pos­selt die­ses Kon­zept ver­las­sen hät­te. Eine Absa­ge an einen Natio­na­lis­mus à la AfD ist das durch­aus. Eine Poli­tik der Ver­söh­nung oder eine Absa­ge an einen deut­schen Natio­na­lis­mus, der sich um den Aus­bau einer Vor­macht­stel­lung in Euro­pa bemüht, wird man es nicht nen­nen können.