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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Krieg der Großmächte

Vor der Bevöl­ke­rung in Deutsch­land und Euro­pa wird ver­schwie­gen, dass die­ser als »Putin-Krieg« gegen die Ukrai­ne bezeich­ne­te Kon­flikt eine neue Stu­fe der mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung kapi­ta­li­sti­scher Groß­mäch­te um mehr Macht in Euro­pa dar­stellt. Nutz­nie­ßer, Pro­vo­ka­teur und Aus­lö­ser des Krie­ges sind nicht iden­tisch. Die »Kriegs­be­richts­er­stat­tung« der öffent­lich-recht­li­chen Medi­en ist undif­fe­ren­ziert und ein­sei­tig – das gilt für die rus­si­schen Medi­en nicht min­der –, um nicht zu sagen poli­tisch-ideo­lo­gisch gleich­ge­schal­tet: Putin ein »Kriegs­ver­bre­cher«, ein »Bar­bar«, dazu stig­ma­ti­sie­ren­de Ver­glei­che mit Hit­ler. USA-Prä­si­dent Biden for­der­te am 26. März 2022 öffent­lich, Putin müs­se weg, wor­auf ein Fern­seh­kom­men­ta­tor mein­te, Putin müs­se mit einem Ende wie Gad­da­fi rech­nen. Die­se bei­spiel­lo­se Hetz­kam­pa­gne erin­nert mich an deut­sche Radio­sen­dun­gen vor 1945. Und dann schau­dert es mich.

Doch mit Emo­tio­nen kann man geschicht­li­che Zusam­men­hän­ge für Krie­ge nicht erklä­ren. Krie­ge haben ihre Vor­ge­schich­te. Zur Vor­ge­schich­te des rus­si­schen Über­falls auf die Ukrai­ne gehö­ren die Krie­ge der USA und Nato nach 1991 gegen Staa­ten, die wie Jugo­sla­wi­en, Afgha­ni­stan, Irak, Liby­en oder Syri­en die Vor­herr­schaft der USA ablehn­ten. In die­sen Krie­gen wur­den tau­sen­de Men­schen getö­tet, Wohn­vier­tel zer­stört, die Staats­füh­rer ermor­det, Boden­schät­ze geraubt und ein Cha­os hin­ter­las­sen. In kei­nem Fall wur­den die USA als »Kriegs­ver­bre­cher« ange­klagt oder gar ver­ur­teilt bzw. mit Sank­tio­nen belegt. Die­se Dop­pel­mo­ral von Poli­ti­kern und Medi­en in den Nato-Län­dern muss selb­stän­dig den­ken­den Men­schen doch auf­fal­len und Fra­gen nach den Hin­ter­grün­den für die hass­erfüll­ten Aus­fäl­le gegen Russ­lands Prä­si­den­ten Putin auf­wer­fen. Für eine sach­ge­rech­te Ant­wort muss man die Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts bemü­hen und die poli­ti­schen Zie­le der damals zum Krie­ge trei­ben­den Groß­mäch­te ansehen.

In der ersten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts führ­te die ver­hee­ren­de deut­sche Kom­bi­na­ti­on von Anti­kom­mu­nis­mus, Anti­bol­sche­wis­mus und Anti­se­mi­tis­mus zum 2. Welt­krieg. Mit der »Tru­man-Dok­trin« und der 1948 auf der Lüge von »Sta­lins Marsch bis zum Rhein« beru­hen­den Grün­dung der Nato wur­de Russ­land­feind­lich­keit als Anti­so­wje­tis­mus und Kal­ter Krieg zwi­schen Sozia­lis­mus und Kapi­ta­lis­mus fort­ge­setzt. Die vom ersten BRD-Bun­des­kanz­ler Ade­nau­er über­nom­me­nen Beam­ten der Nazi-Mini­ste­ri­en und ihre Nach­fol­ger fun­gier­ten als Kon­ser­va­to­ren natio­na­li­sti­schen Den­kens. Zur Bun­des­tags­wahl 1965 stell­te die Neo­na­zi­par­tei NPD in 247 Wahl­krei­sen (von 248) eige­ne Kan­di­da­ten auf. Ein Jahr spä­ter hat­te die NPD bereits 25 000 ein­ge­tra­ge­ne Mitglieder.

Die deut­sche Ver­ei­ni­gung 1990, die Auf­lö­sung von Sowjet­uni­on und War­schau­er Pakt 1991 waren eine ein­schnei­den­de Wen­de im inter­na­tio­na­len Kräf­te­ver­hält­nis. Die Umfunk­tio­nie­rung der KSZE von 1975 in Instru­men­te von Nato bzw. EU und der mili­tä­ri­sche Über­fall mit poli­ti­scher Zer­schla­gung des Viel­völ­ker­staa­tes Jugo­sla­wi­en durch die Nato been­de­ten die euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung der KSZE von 1975 (Fried­li­che Koexi­stenz). USA und Nato haben 1997 zuerst den Krieg nach Euro­pa zurück­ge­bracht. Ein euro­pa­wei­ter Rechts­ruck stieß auf wenig Widerstand.

Neo­fa­schi­sti­sche Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen in Euro­pa hat­ten kaum ernst­haf­te Hin­der­nis­se mehr. Nicht nur in der BRD sind sie in öffent­li­che Insti­tu­tio­nen ein­ge­zo­gen und in Par­la­men­te gewählt wor­den. Das durch die abrup­te Auf­lö­sung der UdSSR in den Sowjet­re­pu­bli­ken ent­stan­de­ne Macht­va­ku­um nutz­ten natio­na­li­sti­sche Kräf­te für ihre Inter­es­sen. In der Ukrai­ne erleb­te im Kon­text des Mai­dan-Auf­stands 2013/​2014 der Neo­fa­schis­mus einen beson­ders maka­bren Höhe­punkt. In der Haupt­stadt Kiew wur­de am 1. Janu­ar 2020 eine lebens­gro­ße Sta­tue von Ste­pan Ban­de­ra ein­ge­weiht, angeb­lich zu sei­nem 111. Geburts­tag. Ban­de­ra war wäh­rend der deut­schen Beset­zung von 1941 bis 1945 einer der blu­tig­sten Anfüh­rer der Nazi-Kol­la­bo­ra­teu­re in der Ukrai­ne, die Juden und Kom­mu­ni­sten ver­ra­ten und bei ihrer Ermor­dung mit­ge­hol­fen haben. Der gegen­wär­ti­ge Bot­schaf­ter der Ukrai­ne in der BRD soll an die­sem Denk­mal Blu­men nie­der­ge­legt haben. In der West­ukrai­ne wur­den Stra­ßen und Plät­ze nach sol­chen Kol­la­bo­ra­teu­ren umbe­nannt. Eine Regie­rung, die sol­che Denk­ma­le zulässt, ist nach innen und außen faschi­sti­schen Den­kens und Han­delns verdächtig.

Aus die­sen ver­än­der­ten inter­na­tio­na­len Bedin­gun­gen ent­wickel­te der Prä­si­den­ten­be­ra­ter Zbi­gniew Brze­zin­ski 1997 in sei­nem Buch »Die ein­zi­ge Welt­macht« Ame­ri­kas Stra­te­gie der Vor­herr­schaft. In der Ein­lei­tung kon­sta­tiert er, nach dem Zusam­men­bruch der UdSSR sei­en die USA »zur ersten und ein­zi­gen Welt­macht« auf­ge­stie­gen. Für die USA gel­te das Gebot, »kei­nen eura­si­schen Her­aus­for­de­rer auf­kom­men zu las­sen, der den eura­si­schen Kon­ti­nent unter sei­ne Herr­schaft brin­gen und damit auch für Ame­ri­ka eine Bedro­hung dar­stel­len könnte«.

Der eura­si­sche Kon­ti­nent reicht von der Nord- und Ost­see bis zum chi­ne­si­schen Meer und vom Nord­po­lar­meer bis zum Indi­schen Oze­an. Auf die­sem von Euro­pa und Asi­en domi­nier­ten Kon­ti­nent haben die USA kei­ne Land­gren­ze, wol­len aber über alle Ent­wick­lun­gen ent­schei­den, obwohl dort die Groß­mäch­te Russ­land (kapi­ta­li­stisch), die VR Chi­na (sozia­li­stisch) sowie Indi­en bestehen. Der Macht­kampf der USA, Nato und EU gegen Russ­land und Chi­na ist in vol­lem Gan­ge, gegen Russ­land – von Putin aus­ge­löst – in die mili­tä­ri­sche Pha­se über­ge­gan­gen. In der EU soll Deutsch­land die Füh­rungs­rol­le haben, in der Nato liegt sie bei den USA. Nach Vor­stel­lung der USA soll Deutsch­land die euro­päi­schen Nato-Län­der anfüh­ren, um Russ­lands Rol­le als euro­päi­sche Groß­macht ein­zu­schrän­ken. Eine der übel­sten Auf­ga­ben, die Deutsch­land zuge­dacht ist. Die gegen­wär­ti­ge deut­sche Regie­rung hat mit zusätz­lich 100 Mil­li­ar­den Euro für die Bun­des­wehr eine neue Auf­rü­stungs­wel­le ein­ge­lei­tet, die nega­ti­ve Fol­gen für die Lebens­be­din­gun­gen vie­ler Völ­ker haben wird. Der prie­ster­li­che Bun­des­prä­si­dent a. D. for­der­te die Bevöl­ke­rung auf, im näch­sten Win­ter ohne rus­si­sches Öl und Gas »für die Frei­heit zu frieren«.

Sol­che Absur­di­tä­ten resul­tie­ren aus der inhalt­li­chen Ver­dre­hung gän­gi­ger Begrif­fe der Außen­po­li­tik. Sie hat nur eine Auf­ga­be, fried­li­che Bezie­hun­gen zwi­schen Staa­ten her­zu­stel­len. Das setzt vor­aus, unter­schied­li­che Inter­es­sen vor allem von Nach­bar­staa­ten zu respek­tie­ren und zur Grund­la­ge von für bei­de Sei­ten ent­ste­hen­de Ver­pflich­tun­gen ver­trag­lich fest­zu­le­gen. So ent­stan­de­ne Ver­trä­ge schaf­fen Abhän­gig­kei­ten, sind aber kei­ne vom Stär­ke­ren auf­ge­zwun­ge­ne Kne­bel. Der Gas- und Ölkrieg um Impor­te aus Russ­land, den USA oder Ara­bi­schen Emi­ra­ten wider­spricht den Inter­es­sen des Vol­kes und ist abzu­leh­nen. Dar­un­ter haben die Völ­ker zu lei­den, um deren Men­schen­rech­te die­je­ni­gen zu kämp­fen vor­ge­ben, die sie am mei­sten ver­let­zen. Ich kann es nur Ver­dum­mung des Vol­kes nen­nen, wenn Poli­ti­ker glau­ben machen wol­len, in oder mit der Diplo­ma­tie Demo­kra­tie oder Men­schen­rech­te ver­tei­di­gen zu wol­len. Das Mis­sio­nie­ren soll­te reli­giö­sen Glau­bens­rich­tun­gen über­las­sen blei­ben. Inter­es­sen­ver­tre­tung für das eige­ne Volk ist schon anstren­gend genug.

Putins Über­fall auf die Ukrai­ne war aus mei­ner Sicht der sicher fol­gen­schwer­ste Feh­ler sei­ner Regent­schaft. Er han­del­te eben­so völ­ker­rechts­wid­rig wie bis­her die USA und ande­re Nato-Staa­ten. Erobe­rungs­krie­ge brin­gen Gräu­el für die Zivil­be­völ­ke­rung mit sich. Wenn zudem alle Män­ner von 18 bis 60 Jah­ren zum Wider­stand auf­ge­for­dert wer­den, dann ist der Häu­ser­kampf unver­meid­lich, bei dem zwi­schen Wohn­häu­sern und öffent­li­chen Gebäu­den wenig unter­schie­den wird. Schänd­lich ist, wenn Nato-Län­der mit den Lei­den von Frau­en, Kin­dern und alten Leu­ten einen auf Behaup­tun­gen beru­hen­den Medi­en­krieg füh­ren, bevor die Ver­ur­sa­cher nach­ge­wie­sen sind.

Die Aner­ken­nung von Russ­lands Sicher­heits­in­ter­es­sen und sei­nes Plat­zes als euro­päi­sche Groß­macht ist kom­pli­zier­ter gewor­den. Die poli­ti­schen Geg­ner USA und Nato haben über die Ukrai­ne Russ­land in Zug­zwän­ge ver­wickelt, die die Nato trotz inne­rer Wider­sprü­che gestärkt haben. Das Volk der Ukrai­ne ist nur der Ramm­bock der USA gegen Russ­land. Wenn Russ­land an inter­na­tio­na­lem Ein­fluss und Auto­ri­tät ver­liert, wer­den die frü­he­ren asia­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken bald in die Nato auf­ge­nom­men. Dann ist die West­flan­ke der VR Chi­na von USA-Satel­li­ten umge­ben und die gro­ße Frie­dens­idee der Volks­re­pu­blik, die neue Sei­den­stra­ße, Maku­la­tur. Was ist dage­gen zu tun?

»Die Waf­fen nie­der« for­der­te Ber­tha von Sutt­ner vor über ein­hun­dert Jah­ren. »Frie­den schaf­fen ohne Waf­fen« gehört zu den heu­ti­gen Losun­gen gegen jede Art von Auf­rü­stung. Der Krieg in der Ukrai­ne muss been­det wer­den. Kei­ne Waf­fen­lie­fe­run­gen, Söld­ner und Kriegs­dol­lar in die Ukraine.

Die Staa­ten Euro­pas müs­sen sich end­lich von der Vor­mund­schaft der USA frei­ma­chen. Die Erfah­run­gen und Erkennt­nis­se der KSZE von 1975 sind aktu­ell aufzubereiten.

Die EU soll­te dem ukrai­ni­schen Volk ohne natio­na­le­go­isti­sches Hin und Her hel­fen, die trau­ma­ti­schen Erleb­nis­se des Krie­ges zu über­win­den und es bei der Rück­kehr in ihre Hei­mat und beim Wie­der­auf­bau des Lan­des unterstützen.