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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Krieg und Frieden

So lau­tet bekannt­lich der Titel von meh­re­ren Fil­men, einer Fern­seh­se­rie und, ach ja, eines berühm­ten Buches, das auch wei­ter­hin zur Welt­li­te­ra­tur zählt, obwohl es von einem Rus­sen(!) geschrie­ben wur­de. Wie jede »gute Lite­ra­tur« hat der Roman die Zei­ten über­dau­ert und ist auch heu­te noch, trotz sei­nes rund 200 Jah­re alten Ambi­en­tes, von erschrecken­der Aktua­li­tät. Es geht dar­in um Russ­lands Kampf mit West­eu­ro­pa (sic!) und sei­nen unvor­her­seh­ba­ren Ver­lauf. Der Epo­chen­ro­man von Leo Tol­stoi zeigt am Bei­spiel der Napo­leo­ni­schen Krie­ge (1812 bis 1815) ein sich viel­fäl­tig über­la­gern­des, schwer durch­schau­ba­res histo­ri­sches, poli­ti­sches und psy­cho­lo­gi­sches Bedin­gungs­ge­fü­ge, das ein halb­wegs fried­li­ches Mit- oder Neben­ein­an­der in ein gewalt­sa­mes Gegen­ein­an­der umschla­gen lässt.

So jüngst auch in der Ukrai­ne, ein ehe­ma­li­ges »Bru­der­land«, das heu­te – nicht nur – aus rus­si­scher Sicht für »den Westen« steht. Die Lage dort, der Krieg, ist so unüber­schau­bar, dass es eines Tol­stois bedürf­te, um ansatz­wei­se einen Durch­blick zu gewin­nen. War­um hat sich das west­li­che »Ver­tei­di­gungs­bünd­nis« immer wei­ter nach Osten aus­ge­dehnt? Wie soll­te das von Russ­land anders ver­stan­den wer­den, denn als Bedro­hung sei­ner Sicher­heit? War­um hat sich die rus­si­sche Füh­rung ent­schie­den, dar­auf­hin nicht nur die West­gren­ze zu stär­ken, son­dern gleich das gan­ze Nach­bar­land anzu­grei­fen und mit Bom­ben und Rake­ten auf Wohn­häu­ser, Schu­len, Kran­ken­häu­ser, Thea­ter und Bahn­hö­fe zu zielen?

Die Lek­tü­re von »Krieg und Frie­den« hilft selbst­ver­ständ­lich wenig, um die­se kon­kre­ten Fra­gen zu beant­wor­ten. Sie kann aber die Auf­merk­sam­keit schär­fen, um das kom­ple­xe, von bei­der­sei­ti­ger Pro­pa­gan­da ver­dun­kel­te Gesche­hen bes­ser aus­zu­leuch­ten. »Du lie­ber Him­mel!«, hören ich die eine oder den ande­ren schon auf­stöh­nen: »über 1.500 Sei­ten? So genau wol­len wir es ja gar nicht wis­sen.« Aber eben das ist Teil des Pro­blems. Denn auch die­je­ni­gen, die Jour­na­li­stin­nen und Jour­na­li­sten, deren Beruf es eigent­lich ist, dass sie erst sich und dann ihre Leser wis­send machen, wol­len es offen­bar eben­falls nicht so genau wis­sen. Für den Ver­kauf ihrer »Nach­rich­ten­wa­re« ist Erre­gung zuträg­li­cher als Erkennt­nis. Also lie­fern sie uns in einer Art Live­be­richt­erstat­tung Tag für Tag unge­prüf­te Bil­der und Nach­rich­ten ins Haus, die uns tat­säch­lich die Fas­sung rau­ben. Aber wohin mit der Empö­rung? Der kür­ze­ste Weg, das wuss­te Leo Tol­stoi und lässt sich von ihm ler­nen, führt auf das Schlacht­feld. Am Ende auch uns.

Wenn sich an der Poli­tik nichts ändert – und momen­tan sieht es ganz gewiss nicht danach aus –, wenn statt­des­sen über­all nun wie­der die mili­tä­ri­sche Opti­on zur Ulti­ma Ratio erklärt und das etwa gegen­über Russ­land ohne­hin schon deut­lich über­le­ge­ne west­li­che Mili­tär­bünd­nis mas­siv auf­ge­rü­stet wird, kann es auf abseh­ba­re Zeit kei­nen Frie­den in Euro­pa geben. Das ist eine Kata­stro­phe mit glo­ba­len Aus­wir­kun­gen. »Wir«, die hoch­rü­sten­den Län­der, zer­stö­ren, was vor­geb­lich »geschützt« wer­den soll. Das alles dient weder der Frei­heit noch dem Wohl­stand noch den so gern bemüh­ten Men­schen­rech­ten. Gewalt, Hun­ger, Armut, sozia­le Ungleich­heit und Umwelt­zer­stö­run­gen wer­den zuneh­men, und am Ende wird es nur Ver­lie­rer geben; selbst die jet­zi­gen Pro­fi­teu­re des neu­en Rüstungs­wahn­sinns – etwa die Waf­fen- und Ener­gie­pro­du­zen­ten – sägen ja in Wahr­heit an dem Ast, auf dem sie sitzen.

Alt­kanz­ler Kohl sag­te ein­mal: »Ent­schei­dend ist, was hin­ten raus­kommt.« Rich­tig dar­an ist, dass man die Din­ge immer auch vom Ende her beden­ken muss. Aber macht sich irgend­wer an den »Schalt­stel­len der Macht« Gedan­ken dar­über, wohin die gegen­wär­ti­ge Ent­wick­lung führt, wo sie enden soll? Die nun in Gang gesetz­te Dyna­mik kann doch nur in all­ge­mei­ner Ver­wü­stung mün­den: sozi­al, wirt­schaft­lich, öko­lo­gisch. Dar­auf hin­zu­wei­sen, darf auch die­se Zeit­schrift nicht müde wer­den – auch wenn dies manch­mal sozu­sa­gen kon­train­tui­tiv anmu­tet, weil man doch gegen ein kon­kre­tes, aku­tes Unrecht »irgend­was« tun müsse.

Ja, das ist rich­tig. Aber die­ses »Irgend­was« dür­fen kei­ne Waf­fen sein, auch nicht mehr und mehr Waf­fen für die Ukrai­ne oder die rechts­extre­men ukrai­ni­schen Mili­zen. Waf­fen sind kei­ne Lösung, son­dern ver­schär­fen das Pro­blem. Hoff­nungs­voll unter­stellt, dass nie­mand (auf bei­den Sei­ten) ernst­haft erwägt, die Gegen­sei­te kom­plett zu ver­nich­ten, gibt es doch gar kei­ne ande­re Mög­lich­keit, als zu ver­han­deln. Wor­auf war­ten? In sol­che Ver­hand­lun­gen bringt man zunächst selbst­ver­ständ­lich sei­ne Maxi­mal­for­de­run­gen ein, beginnt sie aber doch nur, wenn man bereit ist, davon abzu­wei­chen. Andern­falls hät­ten Gesprä­che über­haupt kei­nen Sinn. Ein sol­ches Auf­ein­an­der-Zuge­hen ist bis­lang lei­der nicht zu erken­nen. Die poten­zi­el­len Ver­hand­lungs­füh­rer schei­nen gegen­wär­tig nur bemüht, mit immer mehr mili­tä­ri­schem Druck ihre Ver­hand­lungs­po­si­ti­on zu ver­bes­sern. Selens­kij erhöht zudem den öffent­li­chen Druck, indem er auf den Par­la­ments­büh­nen der west­li­chen Welt mit Stan­ding Ova­tions gefei­ert wird und sogar bei der Gram­my-Ver­lei­hung den Hel­den­mut der ukrai­ni­schen Sol­da­ten rüh­men darf. Ukro­ly­wood! Yeah! Wir dür­fen weder Putin noch Selens­kij, weder den rus­si­schen noch den ukrai­ni­schen Behaup­tun­gen auf den Leim gehen.

Ja, eine der Haupt­ur­sa­chen der in der Ukrai­ne eska­lie­ren­den Gewalt ist eine seit vie­len Jah­ren den »Nicht-Westen« pro­vo­zie­ren­de west­li­che Poli­tik. Ver­trä­ge wur­den gekün­digt, Abspra­chen gebro­chen, Ver­hand­lun­gen ver­wei­gert. Aber den »Westen« dafür – zurecht – anzu­kla­gen, ohne von den rus­si­schen Gräu­el­ta­ten zu spre­chen, erscheint mir so wenig ange­mes­sen wie die Putin-Ver­teu­fe­lung vie­ler Main­stream-Medi­en. Tat­säch­lich wis­sen wir zur­zeit nicht, was wo wie wirk­lich geschah und jetzt gera­de pas­siert. Wir kön­nen nicht über­prü­fen, wer wofür ver­ant­wort­lich ist. Wir sind schon oft genug von der einen wie von der ande­ren Sei­te pro­pa­gan­di­stisch in die Irre geführt wor­den. Ich hal­te es des­halb für jour­na­li­stisch höchst frag­wür­dig, wenn nicht gar fahr­läs­sig, was vie­le Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen in den ande­ren Medi­en so trei­ben. Auch die räu­men inzwi­schen zwar ver­mehrt ein – immer­hin –, all die Mel­dun­gen, Bil­der, Nach­rich­ten nicht über­prü­fen zu kön­nen. Das hin­dert sie aber nicht dar­an, kla­re Urtei­le zu fäl­len, Gut und Böse, Freund und Feind fein säu­ber­lich zu tren­nen. Und es passt ja auch so schön, damit ist zugleich die Ursa­che aller mög­li­chen Pro­ble­me aus­fin­dig gemacht. Stei­gen­de Ener­gie­ko­sten und Sprit­prei­se, Infla­ti­on, Lie­fer­eng­päs­se, Fir­men­plei­ten, das Nicht­ein­hal­ten von Kli­ma­zie­len, abseh­ba­re Hun­ger­kri­sen: Das alles und noch viel mehr hat die­ser »Böse­wicht« im Kreml nun zu verantworten.

Sol­cher Kriegs­trei­be­rei, die in Wahr­heit schon einer Kriegs­teil­nah­me gleich­kommt, müs­sen wir ent­ge­gen­tre­ten, ohne des­halb auf­zu­hö­ren, den Krieg zu gei­ßeln und sei­ne Betrei­ber beim Namen zu nen­nen. Das fällt, ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen, zuneh­mend schwer. Fakt scheint zu sein, dass die Rus­sen in die Ukrai­ne völ­ker­rechts­wid­rig ein­mar­schiert sind und dort mit men­schen­ver­ach­ten­der Bru­ta­li­tät vor­ge­hen. Dafür trägt der Westen, wor­auf in den jüng­sten Ossietzky-Hef­ten mehr­fach hin­ge­wie­sen wur­de, eine gehö­ri­ge Por­ti­on Ver­ant­wor­tung. Ihm, dem Westen, aber des­halb das kon­kre­te aktu­el­le Gesche­hen in der Ukrai­ne anzu­la­sten, erscheint mir ange­sichts des mil­lio­nen­fa­chen Leids gera­de­zu zynisch. Es wird auch den Opfern die­ses Krie­ges (auf bei­den Sei­ten) nicht gerecht, denen im Übri­gen Ursa­chen­for­schung und wech­sel­sei­ti­ge Schuld­zu­wei­sun­gen in ihrer aku­ten Situa­ti­on herz­lich gleich­gül­tig sein dürften.

Den­noch ist und bleibt das Letzt­ge­nann­te, die Auf­klä­rung, unse­re vor­nehm­ste Auf­ga­be, der wir, bei allem gele­gent­li­chen Unbe­ha­gen an der schein­ba­ren Pas­si­vi­tät die­ses Wir­kens, wei­ter­hin nach­kom­men müs­sen – auch und gera­de zu Ostern. Als Wider­stand gegen jeden Krieg. Für den Frie­den auf die Stra­ße zu gehen, ist, vom Ende her gedacht, alle­mal wir­kungs­vol­ler, als Hass, Gewalt und Gegen­ge­walt mit Waf­fen zu füt­tern. Im Krieg, das ist auch die Grund­bot­schaft von Leo Tol­stoi, ver­lie­ren Zivi­li­sa­ti­on, Ver­nunft, Huma­ni­tät ihre Gül­tig­keit. Dass rus­si­sche wie auch ukrai­ni­sche Sol­da­ten, die sich jeweils auf der »rich­ti­gen« Sei­te wäh­nen, in rasen­de Wut, in jähen Zorn gera­ten, wenn neben ihnen Freun­de und »Kame­ra­den« getö­tet wer­den, wird jeder nach­voll­zie­hen kön­nen, der oder die selbst schon mal Gewalt erlit­ten oder mit­er­lebt hat. Sol­che Gewalt­zu­stän­de gilt es unter allen Umstän­den zu ver­mei­den. Über­all. Zwar mag es ange­sichts all­seits kei­men­der Rüstungs­blü­ten naiv erschei­nen, die Frie­dens­fah­ne zu schwen­ken. Das ist es aber kei­nes­wegs, wie bei­spiels­wei­se Putins Angst vor der Oppo­si­ti­on im eige­nen Land belegt. Er kann sie eine Wei­le unter­drücken, auf­hal­ten wird er sie am Ende nicht. So wenig wie den Frie­dens­wil­len der Mehrheit.