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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vom Schachbrett zum Schlachtfeld

Hoff­nung kam auf, als der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Selens­kij Anfang März Frie­dens­ver­hand­lun­gen vor­schlug: Er sei bereit, mit Russ­land über eine Neu­tra­li­tät des Lan­des zu ver­han­deln. Außer­dem wol­le er mit Mos­kau einen Kom­pro­miss über den Sta­tus der abtrün­ni­gen Gebie­te Luhansk und Donezk fin­den. Aber das waren doch wesent­li­che For­de­run­gen Mos­kaus, über die zu ver­han­deln Anfang des Jah­res vom Westen abge­lehnt wor­den war! Auch die Umset­zung der Mins­ker Ver­trä­ge wur­de schon seit Jah­ren von der Ukrai­ne ver­wei­gert. Im letz­ten Dezem­ber hat­ten deut­sche Ex-Diplo­ma­ten und -Mili­tärs drin­gend die »Aner­ken­nung der Sicher­heits­in­ter­es­sen bei­der Sei­ten« ange­mahnt, ohne jede Reso­nanz sei­tens der Nato-Län­der; die Medi­en erwähn­ten den Auf­ruf nicht ein­mal. Fas­sungs­los fragt man sich: War­um wur­den alle die­se Initia­ti­ven vor dem Krieg boy­kot­tiert? Hät­te der Krieg durch Ver­hand­lun­gen ver­hin­dert wer­den können?

Ver­hand­lun­gen wur­den ver­wei­gert – nicht obwohl, son­dern weil damit eine Eska­la­ti­on ent­ste­hen muss­te. Die Ost­erwei­te­rung der Nato, die durch die Auf­nah­me der stra­te­gisch wich­ti­gen Län­der Ukrai­ne und Geor­gi­en ver­voll­stän­digt wer­den soll­te, bedroh­te Russ­land, ver­stärkt durch zahl­rei­che Nato-Manö­ver in der Nähe der rus­si­schen Gren­ze. Eine Rie­ge von »Elder Sta­tes­men« warn­te ver­geb­lich vor die­ser fata­len Stra­te­gie, vom Archi­tek­ten der Ent­span­nungs­po­li­tik Egon Bahr über Ex-Kanz­ler Hel­mut Schmidt bis hin zum kriegs­er­fah­re­nen Hen­ry Kis­sin­ger. Die­ser bestä­tig­te 2014, dass auch in Russ­land ein Regime Chan­ge geplant war. Der US-Diplo­mat Geor­ge Kennan erkann­te schon vor 25 Jah­ren in der Erwei­te­rung der Nato bis zu den rus­si­schen Gren­zen den »ver­häng­nis­voll­sten Feh­ler der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik«, der in Russ­land natio­na­li­sti­sche, anti­west­li­che und mili­ta­ri­sti­sche Ten­den­zen ent­zün­den wür­de. Er hat Recht behal­ten. Übri­gens gab Nato-Gene­ral­se­kre­tär Stol­ten­berg kürz­lich bekannt, dass das Mili­tär­bünd­nis mit 1,18 Bil­lio­nen Dol­lar neun­zehn­mal mehr für Rüstung aus­gibt als Russland.

Geht es dem Westen um Frie­den, Wohl­stand und Demo­kra­tie? Der Putsch im Gefol­ge der Mai­dan-Pro­te­ste wur­de von der west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft geför­dert und per­so­nell diri­giert. Das berüch­tig­te »Fuck the EU«-Telefonat der US-Staats­se­kre­tä­rin Vic­to­ria Nuland mit dem US-Bot­schaf­ter in Kiew illu­striert die Ein­fluss­nah­me: Ganz selbst­ver­ständ­lich redet man über die Beset­zung poli­ti­scher Posten in der Ukrai­ne ent­spre­chend US-Inter­es­sen (https://www.youtube.com/watch?v=FWJCNs6txL4). Und auch Joe Biden hat sich als Vize­prä­si­dent öffent­lich mit sei­nem Ein­fluss in der Ukrai­ne-Poli­tik gebrü­stet. Er ver­lang­te ulti­ma­tiv die Abset­zung des ukrai­ni­schen Gene­ral­staats­an­walts, der wegen Kor­rup­ti­on gegen das Gas­un­ter­neh­men ermit­teln woll­te, in dem Bidens Sohn Hun­ter als Auf­sichts­rat viel Geld ver­dien­te. »Ich habe gesagt: ›Wir ver­las­sen das Land in sechs Stun­den. Wenn der Gene­ral­staats­an­walt bis dahin nicht gefeu­ert ist, bekommt ihr das Geld nicht‹. Na ja, der Hun­de­sohn wur­de gefeu­ert!«, schließt er vol­ler Genugtuung.

Als 2013 die Pro­te­ste auf dem Mai­dan began­nen, stell­te dort der US-Sena­tor McCain dem Land selbst­herr­lich die Nato-Mit­glied­schaft in Aus­sicht. Der deut­sche Außen­mi­ni­ster Wester­wel­le tat es ihm trotz aller War­nun­gen vor den gefähr­li­chen Fol­gen gleich. Die EU woll­te unbe­dingt das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der Ukrai­ne durch­set­zen – durch den Putsch mit Erfolg. Die­ses brach­te dem Land die übli­chen neo­li­be­ra­len Seg­nun­gen: Es soll­te fort­an als Pro­duk­ti­ons­stand­ort für west­li­che Fir­men, als Roh­stoff­lie­fe­rant und als Pro­du­zent land­wirt­schaft­li­cher Pro­duk­te dienen.

Spal­tung und Hass betrie­ben die vom Westen geför­der­ten Poli­ti­ke­rIn­nen im Land. Die Ex-Prä­si­den­tin der Ukrai­ne Julia Timo­schen­ko ließ ihren Gewalt­fan­ta­sien laut einem abge­hör­ten Tele­fon­ge­spräch 2014 frei­en Lauf. Sie woll­te acht Mil­lio­nen Rus­sen, die in der Ukrai­ne leben, mit einer Atom­bom­be aus­lö­schen und den rus­si­schen Prä­si­den­ten in die Stirn schie­ßen. Der Prä­si­dent Petro Poro­schen­ko sah in dem Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der EU gute Gele­gen­heit, »unse­ren end­gül­ti­gen Bruch mit dem rus­si­schen Reich des Bösen« zu festi­gen. Und in einer Rede Ende 2014 schleu­der­te er der rus­si­schen Bevöl­ke­rung der Ost­ukrai­ne ent­ge­gen: »Wir wer­den für Rent­ner und Kin­der Wohl­ta­ten (bene­fits) haben – sie nicht! Unse­re Kin­der wer­den in Schu­le und Kin­der­gar­ten gehen, ihre Kin­der wer­den in den Kel­lern blei­ben! (…) Und so, genau­so, wer­den wir die­sen Krieg gewinnen!«

Auch jetzt, im Krieg, scheint der Westen nicht auf Ver­hand­lungs­lö­sun­gen zu set­zen. Wäh­rend sich Russ­land und die Ukrai­ne immer­hin zu Gesprä­chen in der Tür­kei tref­fen, schwö­ren die west­li­chen Vor­kämp­fer die Men­schen auf einen lan­gen Krieg ein. Wie schon zuvor wirt­schaft­lich, schei­nen west­li­che Füh­rer auch mili­tä­risch eine Glo­bal­stra­te­gie auf Kosten der Men­schen zu ver­fol­gen: Ein lan­ger Krieg schwächt Russ­land, wäh­rend die Ukrai­ne zwar zer­stört wird, aber in jeder Hin­sicht in west­lich ori­en­tier­ter Abhän­gig­keit bleibt. Dann kann man sich bes­ser dem neu­en Geg­ner und Riva­len Chi­na wid­men. Der US-Sta­r­öko­nom Jef­frey Sachs sagt: »Die US-Regie­rung will die Gele­gen­heit nut­zen und Russ­land in die Knie zwin­gen. (…) Die USA betrei­ben Expan­si­ons­po­li­tik. Das ist der Geist in Washing­ton. Der USA geht es um die Vor­herr­schaft in der Welt.« Wäh­rend die Men­schen in der Ukrai­ne Tod, Zer­stö­rung und Gräu­el­ta­ten erle­ben – in der Ost­ukrai­ne übri­gens schon seit vie­len Jah­ren mit 15.000 Todes­op­fern –, scheint die US-Stra­te­gie auf der gan­zen Linie zu sie­gen: Russ­land in deso­la­ter, unde­mo­kra­ti­scher Ver­fas­sung, die Bezie­hun­gen zu Deutsch­land zer­stört, die Nato und die USA gestärkt.

Die mei­sten Medi­en betä­ti­gen sich als Kriegs­par­tei. Putin wur­de nicht nur einer berech­tig­ten Kri­tik unter­zo­gen, son­dern regel­recht zum Feind auf­ge­baut, und zwar schon lang vor dem Krieg. Ein­sei­ti­ge Ten­denz­be­rich­te, unkri­ti­sche Über­nah­me von Geheim­dienst­mel­dun­gen, bel­li­zi­sti­sche Stim­mungs­ma­che beherr­schen die Sze­ne. Fra­gen nach den Lebens­ver­hält­nis­sen in der Ukrai­ne, wie Armut, Spal­tung, Krieg im Don­bass, Ver­bot kri­ti­scher Medi­en und der rus­si­schen Spra­che, Macht der Olig­ar­chen, unge­sühn­te Gräu­el­ta­ten durch Nazis in Odes­sa, Lega­li­sie­rung und Stär­kung faschi­sti­scher Kräf­te wur­den nicht gestellt und wer­den es jetzt erst recht nicht. Die Stim­mung ist auch in Deutsch­land ent­spre­chend auf­ge­heizt. Sogar das Fest­spiel­haus Baden-Baden muss sich dafür recht­fer­ti­gen, Tschai­kow­sky auf den Spiel­plan zu set­zen, rus­si­sche Künst­le­rIn­nen und Sport­le­rIn­nen bekom­men Auftrittsverbot.

Kri­ti­sche oder gar pazi­fi­sti­sche Stim­men haben es schwer, denn sie ste­hen nicht auf der Sei­te der Guten. Es macht nach­denk­lich und betrof­fen: Woher kommt die mora­li­sche Selbst­ge­wiss­heit, den Feind has­sen zu dür­fen, ja, zu müs­sen – wie vor dem ersten Welt­krieg? Denn es geht nicht nur um die Ver­ur­tei­lung des Angriffs­krie­ges, schon gar nicht um Suche nach Ursa­chen und Lösun­gen. Es geht um Empö­rung und Hass und Feind­schaft. Als wären vie­le erleich­tert, nicht die per­ver­se Dis­so­nanz aus­hal­ten zu müs­sen, zwar zu der selbst­er­nann­ten Wer­te­ge­mein­schaft der Demo­kra­ten und Ver­tei­di­ger der Men­schen­rech­te zu gehö­ren, aber dabei zu erle­ben, wie die­se »Guten« ganz unge­hemmt Län­der über­fal­len, fol­tern, ganz selbst­ver­ständ­lich die Welt­herr­schaft bean­spru­chen und Völ­ker­recht und UN-Char­ta verachten.

Die unzäh­li­gen Toten der Nato und des Westens, die Zehn­tau­sen­de ertrun­ke­nen Flücht­lin­ge, die auf Jahr­zehn­te zer­stör­ten Län­der hat­ten nie die­se Abscheu und Feind­se­lig­keit gegen die Täter aus­ge­löst, nie wur­de von Regie­run­gen und Medi­en nach dem Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof für die Täter der west­li­chen Macht­eli­te und Olig­ar­chen gerufen.

Es ist die­se Heu­che­lei, die fas­sungs­los macht. Hier scheint mal ange­mes­sen, den Papst zu zitie­ren, der laut einer ita­lie­ni­schen Tages­zei­tung kürz­lich sag­te: »Ich den­ke, dass es für jene von Euch, die mei­ner Gene­ra­ti­on ange­hö­ren, uner­träg­lich ist, zu sehen, was geschah und was in der Ukrai­ne geschieht. Doch dies ist lei­der die Frucht der alten Logik der Macht, die die soge­nann­te Geo­po­li­tik noch immer domi­niert. (…) Die Welt wird wei­ter­hin wie ein ›Schach­brett‹ behan­delt, wo die Mäch­ti­gen die Züge stu­die­ren, um ihre Vor­herr­schaft zum Scha­den der ande­ren aus­zu­deh­nen. (…) Ich schä­me mich für die Staa­ten, die die Mili­tär­aus­ga­ben auf zwei Pro­zent anhe­ben, sie sind ver­rückt! (…) Es ist ersicht­lich, dass eine gute Poli­tik nicht aus einer Kul­tur der Macht erwach­sen kann, die als Herr­schaft und Unter­drückung ver­stan­den wird, son­dern nur aus einer Kul­tur der Acht­sam­keit, der Acht­sam­keit für den Men­schen und sei­ne Wür­de und der Acht­sam­keit für unser gemein­sa­mes Haus.«