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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Krieg IV.

1.

»Der Kai­ser von Abes­si­ni­en ist ent­thront wor­den, man hat an sei­ne Stel­le sei­ne Schwe­ster gesetzt, er selbst aber ist in die Ber­ge gegan­gen und Räu­ber­haupt­mann geworden.

Aber das ist eigent­lich nichts Mär­chen­haf­tes, son­dern etwas Natur­ge­mä­ßes, da ja zwi­schen König­tum und Räu­ber­we­sen eine Bezie­hung und Ver­wandt­schaft vor­liegt. Alle Staa­ten sind ursprüng­lich Ban­di­ten­trupps, alle Köni­ge zuerst Räu­ber­haupt­leu­te gewe­sen, wie sich noch aus man­chen alten Fabeln erken­nen lässt, so aus der Sage von der Grün­dung Roms.

Wenn der Räu­ber­haupt­mann genug Vieh­her­den gestoh­len und alle schwä­che­ren Nach­barn abge­schlach­tet hat, nennt er sich Von Got­tes Gna­den und schafft sich einen Ober­hof­pre­di­ger an, sowie Uni­ver­si­täts­pro­fes­so­ren, die sei­ne Thron­rech­te in Para­gra­phen fest­le­gen. Bis die unver­meid­li­che Revo­lu­ti­on kommt und die gan­ze Herr­lich­keit über den Hau­fen wirft.

Dann fängt der Mon­arch von vorn an, er wird Räu­ber­haupt­mann oder er schreibt sei­ne Memoi­ren, was unge­fähr das­sel­be ist.«

Aus: Vic­tor Auber­tin, »Mär­chen von heu­te« (1922).

2.

»Kolo­ni­sie­rung ist hier über­haupt das wich­tig­ste Para­dig­ma. Als das pol­ni­sche Com­mon­wealth im 16. Jahr­hun­dert in die Ukrai­ne ein­rück­te, war das eine Kolo­ni­sie­rung. Als Öster­reich und Deutsch­land 1917 und 1918 in die Ukrai­ne ein­mar­schier­ten, war das eine Kolo­ni­sie­rung – oder zumin­dest ein Kolo­ni­sie­rungs­ver­such. Dahin­ter steck­te die Idee des ›Brot­korbs‹. Also dass die Ukrai­ne all die Lebens­mit­tel lie­fern wür­de, die die deut­sche Armee für den Sieg im Ersten Welt­krieg benö­ti­gen wür­de. Letzt­end­lich ist das nicht gesche­hen, aber es war eine kolo­nia­le Idee.

Sta­lins Pro­gramm zur Moder­ni­sie­rung der Sowjet­uni­on war in Bezug auf die Ukrai­ne sogar ganz expli­zit kolo­ni­al. Sta­lin war der Mei­nung, dass die Sowjet­uni­on alle Pha­sen des Kapi­ta­lis­mus durch­lau­fen müs­se, ein­schließ­lich der impe­ria­len Pha­se. Und er sag­te aus­drück­lich, dass die Sowjet­uni­on ein Pro­gramm der Selbst­ko­lo­ni­sie­rung haben müs­se. Das bedeu­te­te, dass die frucht­ba­ren Böden der Ukrai­ne aus­ge­beu­tet wer­den muss­ten, um den Rest zu indu­stria­li­sie­ren. Das führ­te zu einer Hun­gers­not, bei der etwa vier Mil­lio­nen Ukrai­ner getö­tet wurden.

Auch Hit­ler hat­te ein kolo­nia­les Bild von der Ukrai­ne. Er dach­te, dass die Ukrai­ner ein pri­mi­ti­ves Volk sei­en, das von ›der jüdi­schen Füh­rung der Sowjet­uni­on‹ aus­ge­beu­tet wird. Des­we­gen glaub­te Hit­ler, dass Deutsch­land nur ein­mar­schie­ren und den sowje­ti­schen Staat zer­stö­ren müs­se – und die Ukrai­ner wür­den sich freu­en. Doch Hit­lers Plan war eben­falls, die ukrai­ni­schen Lebens­mit­tel zu nut­zen und damit das Groß­deut­sche Reich zu errich­ten. Putins Art und Wei­se, über die Ukrai­ne zu spre­chen, ist also nur die jüng­ste Run­de impe­ria­ler Rhe­to­rik, die gegen die Ukrai­ne gerich­tet ist. Der Unter­schied ist, dass die Ukrai­ner sich dies­mal wehren.«

Timo­thy Sny­der, 52, Pro­fes­sor für Geschich­te, im Gespräch mit Dani­el Erk, Aus­zug aus: Der Tages­spie­gel, 14. April 2022, S. 3.

3.

»Aber für die mei­sten Krie­ge und Reichs­grün­dun­gen stimmt es in der Tat, sie sind nur Mani­pu­la­tio­nen zur Her­bei­schaf­fung des Ess­ba­ren gewe­sen, gewalt­sa­me Ein­käu­fe für die Küche. Also bei­spiels­wei­se der drit­te Puni­sche Krieg ist nicht viel ande­res, als wenn ich in ein Fein­kost­ge­schäft gehe und mir ein hal­bes Vier­tel Land­le­ber­wurst kau­fe. Nur dass in dem drit­ten Puni­schen Krieg alles viel ruhm­vol­ler ver­lau­fen ist als bei mir und mei­ner Leberwurst.«

Aus: Vic­tor Auber­tin, »Das Früh­stück der Klio« (um 1920).