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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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M. Oppenheim – eine aufregende Künstlerin

Meret Oppen­heim, 1913 in Ber­lin gebo­ren, war 18, als sie nach Paris ging, sich den Sur­rea­li­sten anschloss und deren jun­ge Fee wur­de. Als sie ein mit Pelz bekleb­tes Metall­rohr als Arm­band trug, soll Picas­so ange­regt haben, man kön­ne eigent­lich alles mit Pelz über­zie­hen, wor­auf Meret ihm erwi­der­te: »Auch die­sen Tel­ler und die Tas­se.« Für eine Aus­stel­lung sur­rea­li­sti­scher Objek­te hat­te sie eine gro­ße Tas­se mit Tel­ler und Löf­fel mit Gazel­len­fell über­zo­gen, und Alfred Barr jr. soll­te sie dann spä­ter für die Samm­lung des damals noch jun­gen Muse­ums of Modern Art in New York erwer­ben. In der Fol­ge­zeit wur­de die »Pelz­tas­se« eines der meist­zi­tier­ten und abge­bil­de­ten Wer­ke des Sur­rea­lis­mus und führ­te ein lan­ges, gehei­mes Leben als sexu­el­les Sym­bol, wäh­rend der Name ihrer Schöp­fe­rin in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu sein schien. Erst in den 1970er Jah­ren wur­de einer brei­te­ren Öffent­lich­keit bewusst, welch ein bedeu­ten­des Werk die Künst­le­rin geschaf­fen hatte.

Der Bas­ler Kunst­hi­sto­ri­ker Simon Baur, der als frei­er Kura­tor und Kunst­pu­bli­zist arbei­tet, hat auf der Grund­la­ge vie­ler Auf­sät­ze über Meret Oppen­heim ein Buch über sie ver­fasst, in dem er Fra­gen an ihr Leben und Werk rich­tet, die so noch nie gestellt wur­den. Über­wäl­ti­gend sind zunächst ein­mal die Brei­te und Fül­le eines Wer­kes, das nicht eine Per­son, Meret Oppen­heim, son­dern meh­re­re gleich­zei­tig geschaf­fen zu haben schei­nen. »Mein Stil ist, dass kein Bild dem ande­ren gleicht.« Wel­che Viel­falt der The­men­krei­se: Kei­men­des, Wach­sen­des, Geleb­tes, Erträum­tes, Son­ne, Mond und Ster­ne, Him­mel und Wol­ken, Gei­ster und Kobol­de, die Schlan­ge, Per­so­ni­fi­zie­run­gen, Klein­krea­tu­ren. Eine eben­so rei­che Viel­falt der Werk­for­men: Zeich­nung, Col­la­ge, Assem­bla­ge, Reli­ef, model­lier­te, kon­stru­ier­te, gehaue­ne Skulp­tur, Male­rei, auch For­men, die über­haupt nicht ein­zu­ord­nen sind, schließ­lich Spra­che von der Poe­sie der Werk­ti­tel bis zu eige­ner Pro­sa und Poe­sie. Nicht alles ist ihr als Aus­druck einer eige­nen For­men­spra­che gelun­gen. Doch gibt es höchst signi­fi­kan­te Bei­spie­le poe­ti­scher Umset­zung von Relik­ten der Wirk­lich­keit in eine Welt der Ima­gi­na­ti­on. M. O., wie sie sich selbst genannt hat, lässt sich kei­ner Rich­tung zuord­nen – auch von den Sur­rea­li­sten hat sie sich bald wie­der abge­wandt –, sie schöpf­te aus dem Unter­be­wusst­sein, aus Träu­men, woll­te immer frei und unab­hän­gig sein.

Nun ist Simon Baurs Buch aber kei­ne Bio­gra­fie, son­dern eine Samm­lung von Tex­ten unter­schied­li­cher The­ma­tik. Wer hat Meret Oppen­heim beein­flusst, mit wem ging sie um (das waren vor allem Arp und Gia­co­metti)? Wie sind die Text-Bild-Ver­hält­nis­se in ihren Wer­ken beschaf­fen? Wie hat sie Aspek­te des Designs in ihre Kunst inte­griert? Wes­halb sind die Natur­be­zü­ge in ihrem Werk so wich­tig? War­um hat sie sich in etwa 40 Wer­ken aus­ge­rech­net mit Vögeln und Vogel­flug befasst, und – nun geht es nur noch um »eini­ge Gedan­ken­fä­den zum Wei­ter­spin­nen« – wel­che Rol­le spie­len Wol­ken, Oran­gen, Bie­nen, Über­sinn­li­ches und ande­res in ihrem Werk? Was hat es mit dem »aus­ge­fal­le­nen« Bild­chen des »Malers Znü­ni« (1972) auf sich, und ist der mit ver­welk­ten Blu­men deko­rier­te Wald­schrat, den sie 1942 der Kunst­mä­ze­nin Maja Sacher schick­te, wirk­lich ein männ­li­ches Wesen und nicht eher eine Vor­läu­fe­rin des legen­dä­ren »Früh­lings­fe­stes« von 1959? Zwar lesen sich die Bei­trä­ge span­nend und gewinn­voll, aber ihre Dar­bie­tung ist doch so hete­ro­gen und dis­pa­rat, dass hier der Ver­such einer Syn­the­se unter­nom­men, das Werk der Künst­le­rin in eine zeit- und ent­wick­lungs­ge­schicht­li­che Abfol­ge gebracht wer­den soll, wobei die Ergeb­nis­se der Betrach­tun­gen Baurs mit ein­zu­be­zie­hen sind.

Das künst­le­ri­sche Werk Meret Oppen­heims umfasst mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert, es reicht vom »Schul­heft« der Sech­zehn­jäh­ri­gen, in das sie 1930 die skur­ri­le Glei­chung »x = Hase« ein­ge­tra­gen und das sie ihrem Vater geschenkt hat­te, »um ihm mei­ne Bega­bung in Mathe­ma­tik zu zei­gen«, bis zur Hals­ket­te »Husch, husch« aus dem Todes­jahr 1985. Die Fotos von Man Ray, des damals gefrag­te­sten Foto­gra­fen, aus dem Jah­re 1933 haben zum Mythos der Künst­le­rin bei­getra­gen. Die jun­ge Meret Oppen­heim mit geschwärz­ten Hän­den und Armen am Rad der Drucker­pres­se. Das Rad fun­giert als Buch­sta­be, der den nack­ten weib­li­chen Kör­per ein­rahmt. Doch ihrer Glo­ri­fi­zie­rung als Muse der Sur­rea­li­sten war bald eine per­sön­li­che und künst­le­ri­sche Kri­se gefolgt, die nach ihren eige­nen Anga­ben bis 1954 andau­ern soll­te. 1938 – sie war ein Jahr zuvor in die Schweiz zurück­ge­kehrt – mal­te sie das Bild »Die Steinfrau«, die die­se blei­er­ne Läh­mung aller Lebens­en­er­gien zum Aus­druck bringt.

Ist es Man Rays Foto­gra­fie der »Schwim­me­rin« Meret Oppen­heim, die, ans Land gespült, ver­stei­ner­te? Ihre Füße im Was­ser sind die ein­zi­gen Zei­chen von Leben und Über­le­ben. »Kei­ne Ant­wort« von 1961 ist ein leder­ge­rahm­ter Holz­block mit zwei Bohr­lö­chern, in die man wie in zwei stump­fe Augen schaut. »Früh­lings­tag« dage­gen, eben­falls von 1961, ist ein quel­lend sinn­li­ches Reli­ef­bild. Bei­de Wer­ke über­tra­gen kör­per­lich unmit­tel­bar ein als Bild erfass­tes Gefühl. Beson­ders pro­vo­kant wirkt ihre – wohl unter dem Ein­fluss der Base­ler Fas­nacht ent­stan­de­ne – »Mas­ke mit Bäh-Zun­ge« (o. J.), die dem Zeit­geist die Zun­ge herausstreckt.

1959 orga­ni­sier­te sie in Bern jenes maka­bre, ein Frucht­bar­keits­fest sym­bo­li­sie­ren­de »Früh­lings­fest«, das auf dem Kör­per einer nack­ten Frau auf­ge­tischt wur­de. Es war eine ihrer letz­ten sur­rea­li­sti­schen Arbei­ten. Baur erkennt hier eine Ana­lo­gie zur »Steinfrau«, deren Ober­kör­per zwar aus »totem« Mate­ri­al besteht, deren im Was­ser – der Meta­pher für Leben – befind­li­chen Bei­ne sich aber bewe­gen kön­nen. Vom »Früh­lings­fest« sieht er einen direk­ten Bezug zu dem ein Jahr zuvor ent­stan­de­nen, aber erst 1983 in Bern auf­ge­stell­ten und seit­dem hef­tig dis­ku­tier­ten Brun­nen, um den sich ein »Moo­s­pelz« win­det. Dass M.O. dann ihre jah­re­lan­ge Schaf­fens­kri­se über­wun­den hat, demon­striert ihr mehr­tei­li­ges Ensem­ble »Bon appe­tit, Mar­cel! (Die wei­ße Köni­gin)« (1966/​1978): Eine – dies­mal – gebacke­ne Frau­en-Figur liegt, von Gabel und Mes­ser flan­kiert, auf einem Schach­brett aus Wachs­tuch ver­zehr­fer­tig bereit. Aber das aus der Wir­bel­säu­le eines Reb­huhns bestehen­de Rück­grat der Dame, die­ser Herr­sche­rin des Schach­spiels, lässt sich nicht so ohne wei­te­res bre­chen. Drei Jah­re vor der Annah­me des poli­ti­schen Stimm­rechts für Frau­en in der Schweiz hat Meret Oppen­heim mit dem »Abend­kleid mit Büsten­hal­ter-Col­lier« (1968) einen Frau­en­kör­per sadi­stisch her­ge­rich­tet: Eine Schau­fen­ster­pup­pe, bei der Strumpf­hal­ter­klam­mern an den Brust­war­zen befe­stigt sind, offen­bart uns die Abgrün­de sexu­el­ler Gewaltfantasien.

Mate­ria­li­en und Mit­tel erhal­ten bei ihr eine bis dahin unbe­kann­te Frei­heit: Wirk­lich­keit wie Kunst wer­den zitiert und iro­ni­sie­rend hin­ter­fragt, zugleich kommt ein Wett­ei­fer in der Ver­wen­dung unge­wöhn­li­cher Stof­fe in Gang. Lite­ra­tur und Kunst­ge­schich­te wer­den geist­reich per­si­fliert. All­täg­li­che Gegen­stän­de sind wie bio­mor­phe Wesen gezeich­net. Die nur ange­deu­te­ten For­men erschei­nen auf­grund ihrer asso­zia­ti­ven Kör­per­haf­tig­keit wie vir­tu­el­le Skulp­tu­ren mit mensch­li­chem Bezug. »Das Paar« (1956), ein Paar Damen-Schnür­stie­fel: Die Spit­zen sind vor­ne zusam­men­ge­wach­sen, so als könn­ten sie sich nie mehr aus einem all­zu hef­ti­gen Kuss lösen. In dem Gemäl­de »Daph­ne und Apoll« (1943) sind bei­de, Ver­folg­te wie Ver­fol­ger, in einer Meta­mor­pho­se begrif­fen, Daph­ne flieht nicht vor Apoll, son­dern wen­det sich ihm zu – aus dem Gegen­satz­paar wird von Oppen­heim die Annä­he­rung bei­der Geschlech­ter abge­lei­tet. 1971 hat sie die Skulp­tur »Geno­ve­va« aus­ge­führt: An einem brei­ten Holz­brett sind seit­lich zwei Ker­ben sym­me­trisch ange­bracht, in wel­che je ein abge­bro­che­ner Stecken geklemmt ist. Sie glei­chen gebro­che­nen Armen – Aus­druck der Ohn­macht und zer­stör­ten Frei­heit der Frau. Baur ver­weist auf die vie­len Ver­wand­lungs­pro­zes­se der Geno­ve­va-Figur, vom Gemäl­de »Geno­ve­va und vier Echos« (1956) zu »Geno­ve­va über dem Was­ser schwe­bend« (1957).

Ihre Objek­te frap­pie­ren durch ihre lapi­da­re Aggres­si­vi­tät. Es domi­niert eine fast minu­tiö­se Kor­re­spon­denz poe­tisch insze­nier­ter Details. Der Betrach­ter erlebt ein Ensem­ble addier­ter Kör­per­zi­ta­te, die in ihrer unge­wöhn­li­chen Kop­pe­lung eine fast kul­ti­sche Magie aus­drücken. So war den Damen-»Pelzhandschuhen« von 1936 eine Pro­the­se mit höl­zer­nen Fin­gern und lackier­ten Nägeln unter­ge­legt wor­den, die wie mon­strö­se Kral­len aus dem Pelz her­vor­ra­gen – eine Par­odie sur­rea­li­sti­scher Fan­ta­sien der Frau als unheim­li­ches, sexu­ell bedroh­li­ches Raub­tier. Dage­gen tra­gen die Leder-»Handschuhe (Paar)« von 1985 die Ske­lett­um­ris­se der mensch­li­chen Hand wie ein modi­sches Dekor – die Mode ist ver­gäng­lich, ohne ihren Tod kann kei­ne neue Mode ent­ste­hen. Mit der Foto­gra­fie »Rönt­gen­auf­nah­me des Schä­dels M. O.« (1964), die auf die rein phy­si­sche Durch­drin­gung der Kör­per­hül­le hin­zielt, soll der tra­di­tio­nel­len Funk­ti­on des Por­träts, den inne­ren Zustand des Por­trä­tier­ten in sei­ner Phy­sio­gno­mie bloß­zu­le­gen, iro­nisch eine Abfuhr erteilt wer­den. Dage­gen tritt in ihrem »Por­trät mit Täto­wie­rung« (1980) ihr foto­gra­fier­tes Gesicht hin­ter eine Über­ma­lung zurück. Ihre Selbst­in­sze­nie­rung als »Scha­ma­nin« soll jeder Indi­vi­dua­li­sie­rung widersprechen.

1970 stell­te sie ein gro­ßes Objekt her, »Die alte Schlan­ge Natur«. Schwarz glän­zend mit glat­tem wei­ßem Kopf liegt die Schlan­ge, Sym­bol des Urprin­zips der Natur, zusam­men­ge­rollt auf einem vol­len Koh­len­sack. Die Natur ist hier als Ver­ei­ni­gung von Gegen­sät­zen dar­ge­stellt. Oppen­heim hat­te ihre eige­ne Ver­si­on vom bibli­schen Sün­den­fall. Die Schlan­ge, die sich auch durch ihr gan­zes Werk schlän­gelt, habe glück­li­cher­wei­se Eva dazu ver­lei­tet, zuerst vom Baum der Erkennt­nis, des bewuss­ten Den­kens, zu essen, bevor sie den Apfel Adam gab. Das ver­pflich­te alle Frau­en zu Akti­vi­tät, Neu­gier, Wis­sens­durst und zu schar­fem Gebrauch ihres Ver­stan­des. Meret Oppen­heim hat sich ihr gan­zes Leben dar­an gehalten.

Simon Baur hat vie­le wei­te­re Geheim­nis­se im Werk Meret Oppen­heims auf­ge­spürt. Aber sie sind längst noch nicht alle geho­ben. Wer sein Buch liest, bekommt Lust, sich wei­ter mit die­ser »auf­re­gen­den und unge­wöhn­li­chen Künst­le­rin« zu beschäf­ti­gen. Denn – so der Autor – »ihr Werk ist inspi­rie­rend, viel­schich­tig und zeit­kri­tisch und damit seit Jahr­zehn­ten aktuell«.

Simon Baur: Meret Oppen­heim Geheim­nis­se. Eine Rei­se durch Leben und Werk, Zürich 2021 (Ver­lag Scheid­eg­ger & Spiess), 227 S., 38 €.