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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mangelnde Konsequenz

Unver­ges­sen bleibt mir die Dis­kus­si­on, die ich vor eini­gen Jah­ren an einer kali­for­ni­schen Uni­ver­si­tät zum The­ma »Deut­sche und Juden« orga­ni­siert hat­te. Es ging um das The­ma: Deut­sche und Juden in Lite­ra­tur und Kul­tur. Meh­re­re jüdi­sche Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer, die ich als Gäste ein­ge­la­den hat­te, äußer­ten sich höchst aner­ken­nend über die Viel­zahl von Muse­en und ande­ren Gedenk­stät­ten, nicht nur in Deutsch­land, son­dern auch in ande­ren euro­päi­schen Län­dern, und kon­tra­stier­ten das mit der noto­ri­schen Geschichts­ver­ges­sen­heit in den USA. Als die Rede auf das Holo­caust-Mahn­mal im Zen­trum Ber­lins kam, kom­men­tier­te eine jun­ge deut­sche Gast­stu­den­tin, unbe­ein­druckt vom Tenor der Dis­kus­si­on: »Das ist doch alles nur für die Tou­ri­sten.« Der posi­ti­ven Ein­stel­lung der ande­ren Teil­neh­mer tat das zwar kei­nen Abbruch, doch was hat­te der Ein­wurf, der kei­nes­wegs pro­vo­ka­tiv oder belei­di­gend gemeint war, zu bedeu­ten? Mir scheint, dass damit vor allem ein gene­rel­les Unbe­ha­gen am Oppor­tu­nis­mus der Poli­tik zum Aus­druck kam. Wie reprä­sen­ta­tiv eine sol­che Ein­stel­lung mög­li­cher­wei­se ist, wäre zu untersuchen.

Susan Nei­man ist dage­gen erstaun­lich opti­mi­stisch: In ihrem neu­en Buch »Von den Deut­schen ler­nen. Wie Gesell­schaf­ten mit dem Bösen in ihrer Geschich­te umge­hen kön­nen« geht sie von der zen­tra­len The­se aus, dass in Deutsch­land eine Ver­gan­gen­heits­auf­ar­bei­tung gera­de­zu modell­haft gelun­gen sei. In den USA sei das nicht der Fall, viel­mehr wer­de das Erbe des Ras­sis­mus von offi­zi­el­ler Sei­te wei­ter­hin ver­drängt. Als Beweis gilt hier nicht nur das Holo­caust-Mahn­mal in Ber­lin, son­dern auch die Wei­ge­rung vie­ler (offen­sicht­lich libe­ra­ler) Deut­scher, die ras­si­sti­sche Ver­gan­gen­heit in den USA und die anti­se­mi­ti­sche Ver­gan­gen­heit des deut­schen Faschis­mus zu ver­glei­chen. Ein sol­cher Ver­gleich ist in der Tat nicht sehr pro­duk­tiv, zumal es sich nicht nur um Mani­fe­sta­tio­nen des Ras­sis­mus, son­dern um gänz­lich ver­schie­de­ne poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Kon­tex­te han­delt. Auch der Bezug auf das »Böse« hilft nicht wei­ter. Gemeint ist damit wohl die Bereit­schaft, im Namen irgend­wel­cher ras­si­sti­scher oder reli­giö­ser Vor­ur­tei­le zu rau­ben, zu mor­den und gera­de­zu unvor­stell­ba­re Gräu­el­ta­ten zu bege­hen. Die­ser meta­phy­si­sche Bezug erin­nert an erste »gei­stes­ge­schicht­li­che« Inter­pre­ta­tio­nen des Faschis­mus nach 1945, den man gern als das »Sata­ni­sche« oder das Irra­tio­na­le schlecht­hin dar­stell­te, des­sen Ver­füh­rungs­kraft die Deut­schen unbe­greif­li­cher­wei­se anheim­ge­fal­len sei­en. Im Westen war und blieb das lan­ge Zeit mit einer Opfer­ein­stel­lung ver­bun­den: Sei man frü­her auf Hit­ler her­ein­ge­fal­len, so sei man nun der Sie­ger­ju­stiz aus­ge­lie­fert, die für man­che gera­de­zu ter­ro­ri­sti­sche Züge annahm. Dank­bar nutz­te man die Gele­gen­heit, im Zuge des Kal­ten Krie­ges in eine anti­kom­mu­ni­sti­sche Front ein­zu­tre­ten, um so nicht nur die eige­ne Demo­kra­tie­taug­lich­keit unter Beweis zu stel­len, son­dern auch die Kon­ti­nui­tät der eige­nen Eli­ten in fast allen gesell­schaft­li­chen Berei­chen zu über­spie­len. Auch der bor­nier­te Natio­na­lis­mus konn­te so über­le­ben, wenn­gleich auch das im »Namen Euro­pas« eher im Ver­bor­ge­nen statt­fand und sich als Stolz auf die eige­ne Wirt­schaft doku­men­tier­te. Wie soll­te unter die­sen Umstän­den eine Ver­gan­gen­heits­auf­ar­bei­tung (Nei­man ver­mei­det den übli­chen Begriff der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung) statt­fin­den? Die Autorin gelangt hier über eine kur­so­ri­sche Über­sicht nicht hin­aus, belässt es statt des­sen beim Hin­weis auf jene omi­nö­se Opfer­my­tho­lo­gie, der zufol­ge eine Bereit­schaft zur Reue, zur Ein­sicht oder gar Umkehr im Deutsch­land der unmit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit angeb­lich nicht gege­ben war. Als Gewährs­mann gilt hier etwa der Psych­ia­ter und Phi­lo­soph Karl Jas­pers. Gleich­zei­tig stellt die Autorin – ver­dienst­vol­ler­wei­se – dar, wie ein solch kla­rer Schluss­strich im Osten, also der SBZ bezie­hungs­wei­se der DDR durch­aus mög­lich war. Die Legen­de vom angeb­lich ver­ord­ne­ten Anti­fa­schis­mus wider­legt sie, in dem sie eine Rei­he von DDR-Bür­ge­rin­nen und DDR-Bür­gern dazu aus­drück­lich befragt. Nei­man stellt auch her­aus, wie fatal sich die anti­kom­mu­ni­sti­sche Linie in der Fol­ge von 1989/​90 aus­ge­wirkt hat. Jede halb­wegs libe­ra­le Regie­rung hät­te die­se Chan­ce zu einem gro­ßen Ver­fas­sungs- und Ver­söh­nungs­dia­log genutzt, was auch die Aner­ken­nung der kon­se­quent anti­fa­schi­sti­schen Aus­rich­tung der DDR ein­ge­schlos­sen hät­te. Statt­des­sen woll­te man jedes mög­li­che Erbe des Kom­mu­nis­mus dadurch besei­ti­gen, dass man ihn mit dem deut­schen Faschis­mus gleich­setz­te. Für die Lei­chen­ber­ge der Nazis muss­ten nun die »Akten­ber­ge der Sta­si« her­hal­ten, um Hei­ner Mül­ler zu zitie­ren. Inter­es­san­ter­wei­se set­zen nach 1990 ver­stärk­te Ver­su­che zu einer Gedenk­kul­tur ein – man den­ke an die Gedenk­stät­ten in Lagern wie Buchen­wald, die jetzt wei­ter­ge­führt und finan­ziert wer­den muss­ten. Das 1995 eröff­ne­te Holo­caust-Denk­mal wur­de dabei von offi­zi­el­ler Sei­te bewusst als Gegen­ent­wurf zum Anti­fa­schis­mus der DDR unter­stützt, für den »Poli­tik­be­ra­ter« Her­fried Mün­k­ler war die Unter­stüt­zung des dama­li­gen Kanz­lers eine »mythen­po­li­ti­sche Ent­schei­dung« von enor­mer Dimension.

Kann man also von einer Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit spre­chen? Sicher­lich war dies in der DDR der Fall, wo der Anti­fa­schis­mus die Struk­tur der Gesell­schaft präg­te. Im Westen fin­den erste Ansät­ze einer sol­chen Auf­ar­bei­tung mit einer gut zwan­zig­jäh­ri­gen Ver­spä­tung statt, nach vie­len Jah­ren der Ver­wei­ge­rung und Ver­drän­gung. Sie bleibt auf die Aktio­nen ein­zel­ner Grup­pie­run­gen (wie der APO, der Stu­den­ten­be­we­gung oder der VVN-BdA) beschränkt, die (bis heu­te) des­we­gen ange­fein­det wer­den. Hin­zu kommt der Druck aus dem Aus­land, dem die alte wie die neue BRD inso­fern ent­ge­gen­kom­men möch­te, als dies dem eige­nen Image einer welt­of­fe­nen Gesell­schaft mit euro­päi­schen Wert­vor­stel­lun­gen ent­spricht. So kann man sich in die Rei­he der Sie­ger ein­ord­nen, ohne sich der Ver­ant­wor­tung für die Ver­gan­gen­heit wirk­lich stel­len zu müs­sen. Die­se poli­ti­sche Dimen­si­on über­sieht Nei­man, obwohl sie auch die Repa­ra­ti­ons­fra­ge in den Blick nimmt und in den zahl­rei­chen – übri­gens höchst infor­ma­ti­ven – Inter­views immer wie­der dar­auf hin­ge­wie­sen wird, dass die Ver­gan­gen­heits­auf­ar­bei­tung kei­nes­wegs eine Erfolgs­ge­schich­te dar­stellt, son­dern allen­falls ein müh­sa­mes, hin­der­nis­rei­ches work in pro­gress, das nicht erst seit dem Auf­stieg des Neo­fa­schis­mus ange­fein­det wird. Doch obwohl sie gele­gent­lich Skep­sis beschleicht, bleibt die Autorin bei ihrer Haupt­the­se, dass man von »den« Deut­schen ler­nen kön­ne. Und sie geht dabei so weit, etwa dem der­zei­ti­gen Bun­des­prä­si­den­ten zu beschei­ni­gen, er habe am 9. Novem­ber 2018 eine bedeut­sa­me Rede gehal­ten, wenn er vom »gebro­che­nen Ver­hält­nis« zur deut­schen Geschich­te spricht. Dabei ist sein Appell an einen »auf­ge­klär­ten Patrio­tis­mus« nichts ande­res als die Auf­for­de­rung zu einem Patrio­tis­mus, der sich von den Ver­bre­chen der faschi­sti­schen Ver­gan­gen­heit nicht läh­men las­sen möch­te, zumal die­se ja unbe­grif­fen im Dun­keln der Geschich­te ver­blei­ben. Viel­leicht wäre die Skep­sis der Autorin noch gewach­sen, hät­te sie im Janu­ar 2020 gele­sen, wie der Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Schäub­le sich wegen Ausch­witz nicht von einer Mili­ta­ri­sie­rung der EU abhal­ten las­sen möch­te. Oder wie der­sel­be Poli­ti­ker bei einer Gedächt­nis­fei­er für Ausch­witz ein­lei­tend davon spricht, dass »wir Men­schen ver­führ­bar« sind, womit unge­rührt die Uni­ver­sa­li­tät von Schuld und Opfer für die Täter in Anspruch genom­men wird, um sie so zu ent­la­sten. Oder, wie der von ihr so gelob­te Frank-Wal­ter Stein­mei­er am 8. Mai – trotz oder wegen der Coro­na-Pan­de­mie – zu einem insze­nier­ten Festi­val all­sei­ti­ger Erin­ne­rung mit unse­ren Freun­den auf­ruft und aus der anti­mi­li­ta­ri­sti­schen, anti­fa­schi­sti­schen For­mel »Nie wie­der Krieg! Nie wie­der Faschis­mus!« ein »Nie wie­der allein!« macht. Nein, von die­sen Deut­schen lässt sich bestimmt nicht ler­nen, wie man mit dem »Bösen« in unse­rer Gesell­schaft umgeht. Ohne ein kri­ti­sches, selbst­kri­ti­sches Ver­hält­nis zur eige­nen Geschich­te geht das nicht.

 

Susan Nei­man: »Von den Deut­schen ler­nen. Wie Gesell­schaf­ten mit dem Bösen in ihrer Geschich­te umge­hen kön­nen«, ins Deut­sche über­setzt von Chri­stia­na Gold­mann, Han­ser Ber­lin, 576 Sei­ten, 28 €. Das Ori­gi­nal erschien unter dem Titel: »Lear­ning from the Ger­mans. Con­fron­ting Race and the Memo­ry of Evil«, New York, 2019.