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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Monatsrückblick: Wir werden gebraucht!

»Mis­ses Peel, wir wer­den gebraucht!«, das war in den 1960er Jah­ren der Beginn einer auf­re­gen­den Sen­dung mit einer auf­re­gend eman­zi­pier­ten Frau. Dia­na Rigg, die Emma Peel ver­kör­per­te, ist im Sep­tem­ber gestor­ben – war­um erfüllt das Fern­se­hen sei­ne Pflicht nicht und bringt die Serie auf allen Kanä­len? Damals waren »die Rus­sen« noch so selbst­ver­ständ­lich die Bösen, das könn­te doch wie­der gut in den Kram passen.

Man kann ja durch­aus der Annah­me sein, dass der rus­si­sche Prä­si­dent Men­schen umbrin­gen lässt. Wer sich mit nack­tem Ober­kör­per auf Pfer­den foto­gra­fie­ren lässt, ist bekannt­lich zu allem fähig! Aber dass Wla­di­mir Putin dumm sei, das ist doch eine gewag­te Behaup­tung. Und dumm müss­te er sein, wenn er Ale­xej Nawal­ny hät­te ver­gif­ten las­sen, bevor er ihn nach Deutsch­land aus­flie­gen ließ – in das Land, mit dem er gewinn­brin­gen­de lang­fri­sti­ge Geschäf­te machen will. Auch dass der rus­si­sche Geheim­dienst nicht dazu­lernt und immer das glei­che, offen­bar nicht töd­li­che Gift ver­wen­det – eher unwahr­schein­lich. Bei­de Skri­pals und Nawal­ny erhol­ten sich ja wie­der von was auch immer. »Nowit­schok« klingt so schön rus­sisch, ist aber genau wie »Al Kai­da« ein von west­li­chen Geheim­dien­sten erfun­de­ner Name. Aber es bleibt Glau­bens­sa­che, was pas­sier­te und wer ver­ant­wort­lich ist. Denn eine Zusam­men­ar­beit mit rus­si­schen Behör­den, die zur Auf­klä­rung nötig wäre, kommt nicht in Frage.

In »dubio pro reo« (im Zwei­fel für den Ange­klag­ten) for­mu­lier­ten die Römer, heu­te ver­kau­fen Nach­rich­ten gern Ver­mu­tun­gen als Tat­sa­chen. Man muss eine Behaup­tung nur oft genug wie­der­ho­len, damit sie als Tat­sa­che gilt. Das haben die Römer auch schon gewusst: »Ceter­um cen­seo Car­tha­gi­nem esse del­en­dam« (»Übri­gens mei­ne ich, dass Car­tha­go zer­stört wer­den muss«), das wie­der­hol­te der alte Cato so oft, bis der drit­te Puni­sche Krieg dafür sorg­te, dass Car­tha­go zer­stört wur­de. Und Rom unbe­strit­te­ne Welt­macht. Ich glau­be übri­gens, dass das Inter­net zer­stört wer­den muss – Mis­ses Peel, wir wer­den gebraucht!

Bei Ver­bre­chen ande­rer Regie­run­gen ist die Bun­des­re­gie­rung nicht so emp­find­lich. Sie hat gera­de mit dem »Big­Brot­he­rA­ward 2020« im Bereich Poli­tik einen Schmäh­preis für ihre Mit­ver­ant­wor­tung für den völ­ker­rechts­wid­ri­gen US-Droh­nen­krieg, der von Ram­stein in der Pfalz abge­wickelt wird, erhal­ten (sie­he in die­sem Ossietzky-Heft Sei­te 669). »Letzt­lich haben wir es […] mit einem Mord-Pro­gramm zu tun«, führ­te Rolf Gös­s­ner in sei­ner »Lau­da­tio« aus.

Einem der vie­len Mord-Pro­gram­me, die lau­fen: »Ich hät­te ihn lie­ber aus­ge­schal­tet«, sag­te US-Prä­si­dent Trump auf Fox News am 15. Sep­tem­ber zu Plä­nen, den syri­schen Prä­si­den­ten Assad umzu­brin­gen. »Ich hat­te ihn schon so weit. Aber Mat­tis woll­te es nicht tun.« (James N. Mat­tis war 2017/​18 US-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster, zitiert nach jW, 17.9.20)

Dafür hat die Bild-Zei­tung ein neu­es Mord-Pro­gramm iden­ti­fi­ziert: »Nord Stream ist Mord Stream!« posaunt Chef­re­dak­teur Rei­chelt am 9. Sep­tem­ber gegen die Pipe­line, die Deutsch­land sicher mit Erd­gas aus Russ­land ver­sor­gen soll.

Flüs­sig­gas-Ter­mi­nals für das US-Frack­ing-Gas sind die Ant­wort – mit denen könn­te aber auch rus­si­sches Flüs­sig­gas aus der Ark­tis in den deut­schen Markt strö­men. Und es wäre erheb­lich bil­li­ger als US-Gas. Was nun, Mr. Trump?

Die EU vor Flücht­lin­gen ret­ten, das war die Auf­ga­be der Kom­mis­si­on unter Ursu­la von der Ley­en. Und gleich­zei­tig vor dem inne­ren Zer­fall in Län­der, die kei­ne auf­neh­men, und Län­der, die auf­neh­men müs­sen, weil sie an der EU-Außen­gren­ze lie­gen. Das hat­te das Abkom­men von Dub­lin 1990 ver­fügt. Prak­tisch für alle Bin­nen­staa­ten, die weit weg von den Brenn­punk­ten lie­gen. Bis zu ihnen drin­gen Flücht­lin­ge kaum vor. Das soll auch so blei­ben. Dub­lin gilt nach wie vor. Nur eine »ver­pflich­ten­de Soli­da­ri­tät« soll ein­ge­baut wer­den, von den nicht direkt betrof­fe­nen Län­dern. Na pri­ma. Ungarn und Polen sind ab jetzt ver­pflich­tet zur Soli­da­ri­tät – im Abschie­ben. Denn die­se Soli­da­ri­tät ver­pflich­tet nicht etwa zur Auf­nah­me von Flücht­lin­gen, son­dern zur Hil­fe bei der »Rück­füh­rung«. Die Asyl­su­chen­den sol­len gleich bei Grenz­über­tritt auf ihre Asyl­taug­lich­keit unter­sucht wer­den, und wer nicht dar­un­ter­fällt, der wird schnell abge­scho­ben. Ein Traum von Horst See­ho­fer wird wahr – daher lobt er den Ent­wurf der Kom­mis­si­on. »Das ist ein teuf­li­scher Pakt der Ent­rech­tung«, meint dage­gen der Geschäfts­füh­rer von Pro-Asyl, Gün­ter Burk­hardt (maz, 24.9.20).

Und was ist die bestehen­de Lage? Das Lager Moria brennt ab, und die Bun­des­re­gie­rung ringt sich durch, 1535 bereits aner­kann­te Asyl­su­chen­de aus Grie­chen­land auf­zu­neh­men. Nicht die in Les­bos oder auf ande­ren grie­chi­schen Inseln in Lagern dahin­ve­ge­tie­ren­den Flücht­lin­ge! Denn die will die grie­chi­sche Regie­rung nicht zie­hen las­sen. Sie fürch­tet, dass dann noch mehr Flücht­lin­ge aus der Tür­kei nach Grie­chen­land kom­men. Ich fürch­te, ein Auf­stand der Anstän­di­gen wird gebraucht.

Nicht gebraucht wird zur­zeit Herr Merz.

»Wir müs­sen ein biss­chen auf­pas­sen, dass wir uns nicht alle dar­an gewöh­nen, dass wir ohne Arbeit leben kön­nen«, schwa­dro­nier­te Fried­rich Merz über Kurz­ar­beit in Bild-Live am 21. September.

Mer­ke: Dei­ne Vor­stel­lun­gen von der Rea­li­tät ande­rer sind immer wie­der neu zu justie­ren, wenn du Kanz­ler­kan­di­dat blei­ben willst.

Drin­gend gebraucht hin­ge­gen wird ein funk­tio­nie­ren­des Warn­sy­stem. Denn vor­her kann der Krieg nicht begon­nen wer­den. Der bun­des­deut­sche Warn­tag zeig­te, dass es mit den Warn­sy­ste­men noch nicht so rich­tig klappt. Vie­le Sire­nen blie­ben still, die Warn-Apps waren über­la­stet und funk­tio­nier­ten nicht. Der innen­po­li­ti­sche Spre­cher der Lin­ken im Bun­des­tag, Andre­as Bütt­ner, ist nicht zufrie­den: »Das ist nicht der Anspruch, den wir haben.« (maz,11.9.20)

Wird die Lin­ke gebraucht, um die Sire­nen­klän­ge zu ver­bes­sern, damit der Anspruch gehal­ten wer­den kann, jeder­zeit einen Krieg zu beginnen?