Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Mein Vater

Nein, ein Wider­stands­kämp­fer ist mein Vater nicht gewe­sen. Kein rich­ti­ger jeden­falls, der sein Leben für den Kampf gegen die Nazis ris­kiert hät­te. Dazu war er zu vor­sich­tig, sein Leben und das sei­ner klei­nen Fami­lie, sei­ner Frau und sei­ner jun­gen Toch­ter, woll­te er nicht gefähr­den. Und doch gibt es Hand­lun­gen, die ihn als kla­ren Geg­ner der Nazis und ihrer men­schen­ver­ach­ten­den Ideo­lo­gie zei­gen. Und eine die­ser Hand­lun­gen hat ihn dann doch in Lebens­ge­fahr gebracht, in höch­ste sogar.

Mein Vater war Athe­ist. Kir­che lehn­te er ab. Was er davon hal­ten wür­de, dass sein jüng­ster Enkel Pfar­rer und Dok­tor der Theo­lo­gie gewor­den ist, wür­de mich sehr inter­es­sie­ren. Wür­de es zwi­schen ihm und sei­nem Enkel ein Gespräch über Reli­gi­on geben? Ich weiß es nicht. Mei­ne Mut­ter dage­gen wäre begei­stert. Für sie und ihr tra­di­tio­nel­les Den­ken war der Pfar­rer das Größte.

Der älte­ste Bru­der mei­nes Vaters war ein Nazi, ein rich­ti­ger, der sogar als Abge­ord­ne­ter für die NSDAP im Ahle­ner Stadt­par­la­ment saß, dort, wo mei­ne Fami­lie damals wohn­te. Als die­ser Nazi von mei­nem Vater ver­lang­te, dass er aus der Kir­che aus­tritt, weil der Füh­rer es so woll­te, ist mein Vater drin­ge­blie­ben. Grad des­halb, weil es der Nazi-Bru­der anders woll­te. Und natür­lich auch wegen mei­ner Mut­ter, für die ein Aus­tritt aus der Kir­che unvor­stell­bar war. Der Athe­ist, der aus Trotz gegen die Nazis in der Kir­che blieb, das ist auch eine Haltung.

Mein Vater hat nie die Nazis gewählt, nicht vor der Macher­grei­fung 1933 und auch nicht danach. Die Nazis zu wäh­len, hie­ße Krieg zu wäh­len, davon war er über­zeugt. Zur Zeit der Reichs­tags­wahl im Novem­ber 1933, als nur mit Ja oder Nein abge­stimmt wer­den konn­te, arbei­te­te mein Vater im Sau­er­land am Bau des Sor­pe­sees. In dem Wahl­lo­kal des Dor­fes, in dem er wohn­te, stimm­te er mit Nein, genau wie ande­re Arbeits­kol­le­gen, die ihm das heim­lich ver­ra­ten hat­ten und denen er das glaub­te. Genutzt hat es nichts. Als das Ergeb­nis ver­kün­det wur­de, hat­ten angeb­lich 100 Pro­zent mit Ja gestimmt.

Er war zur Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik vie­le Jah­re lang arbeits­los gewe­sen, als gelern­ter Kauf­mann hat­te er kei­ne Arbeit gefun­den. Damals hat­te er in Kamen gewohnt. Schließ­lich hat­te der Nazi-Bru­der ihn nach Ahlen gelockt und ihm Arbeit auf der Koke­rei besorgt. Das war sein Glück gewe­sen, denn dadurch er war im Krieg »Uk« gestellt. Unab­kömm­lich hieß das. Koks­koh­le war wich­tig für Stahl und Stahl wich­tig für … Mein Vater muss­te nicht an die Front, wahr­schein­lich hat das sein Leben gerettet.

Mein Vater gehör­te in die­ser Zeit zu einer klei­nen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wider­stands­zel­le in Ahlen. Ein Mann namens Max Zöl­zer lei­te­te sie. Als ich vie­le Jah­re spä­ter, lan­ge nach dem Tod mei­nes Vaters, in Ahlen zur Fami­li­en­ge­schich­te recher­chier­te und einen infor­mier­ten Jour­na­li­sten traf, konn­te der sich an den Namen Zöl­zer erin­nern. Doch, die klei­ne Wider­stands­grup­pe in der Nazi­zeit war noch in Ahlen bekannt.

Was haben sie gemacht? Haupt­säch­lich haben sie Feind­sen­der gehört, weil sie wis­sen woll­ten, wie es an der Front stand. Und vor allem, wie lan­ge die Nazi­herr­schaft noch dau­ern wür­de. Feind­sen­der zu hören, war gefähr­lich, wenn es raus­kam, droh­ten dra­sti­sche Stra­fen. Ich habe die­ses Motiv in mei­nem klei­nen Roman »Flucht in den Berg« ver­wen­det, in dem ein Berg­mann, der auch Hein­rich heißt, eben­falls Feind­sen­der hört und sein Sohn das mit­kriegt. Und weil der Jun­ge aus­plau­dert, dass die Alli­ier­ten schon den Brücken­schlag über den Rhein geschafft haben, kom­men bei­de, Vater und Sohn, in lebens­ge­fähr­li­che Kon­flik­te mit den Nazis.

Wel­che ande­ren Aktio­nen die Wider­stands­grup­pe um Max Zöl­zer durch­ge­führt hat, ob sie Nazi­geg­nern in Not gehol­fen haben, ich weiß es nicht. Ver­mut­lich war das so.

Am Ende des Krie­ges ist er dann rich­tig in Lebens­ge­fahr gera­ten. Er wur­de zum Volks­sturm ein­ge­zo­gen und soll­te mit ande­ren älte­ren Män­nern mit einer Knar­re in der Hand in der Eifel die ame­ri­ka­ni­schen Pan­zer auf­hal­ten. An einem der letz­ten Kriegs­ta­ge ein Him­mel­fahrts­kom­man­do! Als sie sich in einem Feld ein­gru­ben, erzähl­te mein Vater spä­ter, sei auf­ge­regt der Bau­er ange­lau­fen gekom­men und hät­te gebrüllt, dass sie ver­schwin­den soll­ten. Ob sie woll­ten, dass die ame­ri­ka­ni­schen Pan­zer, die schon hin­ter dem Hügel Auf­stel­lung bezo­gen hat­ten, noch im letz­ten Moment sei­nen Bau­ern­hof zer­stör­ten. Der Bau­er hat­te sich damit sel­ber in Lebens­ge­fahr gebracht, denn wenn einer der Volks­sturm­leu­te Nazi­an­hän­ger gewe­sen wäre, hät­te er ihn erschie­ßen kön­nen. Es war aber kei­ner von die­sen Leu­ten mehr blind­gläu­bi­ger Nazi, dar­auf ver­ließ sich auch mein Vater, denn er ant­wor­te­te dem Bau­ern, dass er selbst, wenn die ame­ri­ka­ni­schen Pan­zer kämen, schon lan­ge nicht mehr da sei. Mein Vater ist desertiert.

Am Tage hat er irgend­wo in einem Wald oder in einer Scheu­ne geschla­fen und sich des Nachts auf den Weg nach Hau­se gemacht. Wenn sie ihn erwischt hät­ten, wenn … Mit Deser­teu­ren mach­ten die Nazis kur­zen Pro­zess. Dann hät­te es ihn nicht mehr gege­ben und mich spä­ter auch nicht.

Mei­ne Mut­ter wuss­te, dass er sich abset­zen wür­de und sperr­te die Kel­ler­tür nicht ab. Und tat­säch­lich, spät abends klopf­te es lei­se an der Woh­nungs­tür. Mei­ne Mut­ter wuss­te sofort, dass er es war. Sie hat ihm erst mal etwas zu essen gemacht, dann hat sie ihm im Kel­ler hin­ter den Rega­len ein Lager errich­tet. Dort hat er geschla­fen und woll­te sich am näch­sten Tag zu sei­ner Schwe­ster Hed­wig nach Kamen-Over­ber­ge durch­schla­gen. Wenn sie ihn suchen wür­den, so ver­mu­te­te er, dann sicher zuerst in sei­ner Woh­nung. Bei sei­ner Schwe­ster, so glaub­te er, wür­de ihn nie­mand ver­mu­ten. Aber da hat mei­ne Mut­ter den rich­ti­gen Instinkt gehabt und sei­ne wei­te­re Flucht ver­hin­dert. Sie woll­te, dass sie jetzt, in den letz­ten Kriegs­stun­den, zusam­men­blie­ben, sie drei, koste es, was es wolle.

Das war die rich­ti­ge Ent­schei­dung gewe­sen, denn das Haus sei­ner Schwe­ster hat noch am letz­ten Kriegs­tag unter Beschuss gestan­den. Mein Onkel starb an einem Bauch­schuss, mei­ner Tan­te Hed­wig wur­de von einem Split­ter eine Fin­ger­kup­pe abge­schnit­ten. Sie wur­de von dem Nach­barn Stun­den spä­ter, als der Krieg zu Ende war, in ein Kran­ken­haus nach Hamm gebracht. Als mein Vet­ter sie dort am fol­gen­den Wochen­en­de besu­chen woll­te, war auch sie tot. Die Wun­de hat­te sich ent­zün­det, sie war an einer Blut­ver­gif­tung gestorben.

Mein Vater hat­te inzwi­schen noch zwei­mal Glück gehabt. Er hat­te, bevor er in den Kel­ler ging, sei­ne Mili­tär­kap­pe auf dem Sofa ver­ges­sen. Dort hat sie sei­ne Toch­ter am Mor­gen sofort ent­deckt. »Papa ist da!«, hat sie geru­fen. Mei­ne Mut­ter hat­te ihr ein­ge­schärft, nur ja nie­man­dem zu sagen, dass ihr Papa zu Hau­se sei, aber als sie beim Spie­len von einem Jun­gen bedrängt wur­de, hat sie laut »Papa« geru­fen. Mei­ne Mut­ter war zu Tode erschrocken gewe­sen, aber die Nach­ba­rin hat sie beru­higt. »Wir wis­sen längst, dass Hein­rich zu Hau­se ist«, hat sie gesagt und ihr ver­spro­chen, dass nie­mand etwas ver­ra­ten wür­de. Die Soli­da­ri­tät unter den Arbei­ter­frau­en war groß gewesen.

Die Eng­län­der rück­ten an, der Lei­ter des Kran­ken­hau­ses, ein Dr. Rosen­bau­er, fuhr ihnen ent­ge­gen und über­gab die Stadt Ahlen kampf­los. Für mei­nen Vater war das immer noch nicht die end­gül­ti­ge Ret­tung, denn kurz drauf hin­gen an den Wän­den Pla­ka­te mit dem Hin­weis, dass sofort gemel­det wer­den müs­se, wo sich noch Sol­da­ten auf­hiel­ten. Mei­ne Mut­ter ver­trau­te dem Chef­arzt, fuhr mit dem Fahr­rad zum Kran­ken­haus und schaff­te es tat­säch­lich, vor­ge­las­sen zu wer­den. Dem Chef­arzt erzähl­te sie, dass mein Vater deser­tiert sei und sich nun im Kel­ler auf­hal­te. Der Arzt hat­te Ver­ständ­nis, hat mei­ner Mut­ter gesagt, dass mein Vater sofort ins Kran­ken­haus kom­men müs­se, am Abend wür­de durch­ge­zählt. Wer bis dahin da sei, wür­de als Kran­ker ein­ge­stuft, dem kön­ne nichts mehr pas­sie­ren. Zur Sicher­heit gab er mei­ner Mut­ter noch eine Beschei­ni­gung mit, die bestä­tig­te, dass mein Vater unbe­dingt ins Kran­ken­haus kom­men müs­se. So kam mein Vater als gesun­der Kran­ker zu Dr. Rosen­bau­er, hat dort zur Tar­nung zwei Tage ver­bracht und wur­de mit ordent­li­chen Ent­las­sungs­pa­pie­ren nach Hau­se geschickt. So ist ihm sogar die Kriegs­ge­fan­gen­schaft bei den Eng­län­dern erspart geblieben.

Kurz drauf ist mein Vater in die wie­der­ge­grün­de­te Ahle­ner SPD ein­ge­tre­ten, in jene Par­tei, für die er schon ille­gal gear­bei­tet hat­te, doch als sei­ne Mut­ter ihm kurz dar­auf das Peuck­mann-Haus in Kamen über­trug und er umzog, hat er sich nicht bei der SPD umge­mel­det. Mei­ne Mut­ter hat das ver­hin­dert, wir hat­ten nie viel Geld. Den Mit­glieds­bei­trag für die Par­tei woll­te sie einsparen.

So ist mei­nem Vater die Mit­glied­schaft in einem Orts­ver­ein erspart geblie­ben, der spä­ter mich, mei­ner kri­ti­schen Lite­ra­tur wegen, beschimpft und ver­un­glimpft hat. Aus­ge­rech­net die Par­tei, für die er ille­gal in der Nazi­zeit gear­bei­tet hat, tat alles, um sei­nem Sohn zu schaden.

Als ich spä­ter, Jah­re nach sei­nem Tod, an sei­nem Geburts­tag, den 23. Febru­ar, in der Gärt­ne­rei gegen­über dem Fried­hof Blu­men für ihn kau­fen woll­te und über­leg­te, wel­che ich neh­men soll­te, schlug die Ver­käu­fe­rin, die ihn gekannt hat­te, vor, ich soll­te rote Tul­pen nehmen.

»Rot, das passt zu ihm und sei­ner Gesin­nung«, sag­te sie. Ja, das leuch­te­te mir ein. Sie­ben rote Tul­pen stan­den kurz dar­auf auf sei­nem Grab.