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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nachtrag zum »Liedes Leid«

Her­mann Clau­di­us’ Werk »Wann wir schrei­ten Seit an Seit« war Auf­hän­ger für Klaus Nili­us, die Quer­front­ge­schich­te die­ses SPD-Par­tei­lieds neu zu erzäh­len (Heft 3/​2022). An den Anfang stell­te er Brechts Bewun­de­rung für die »uner­hör­te Ver­füh­rungs­kraft« und »Unbe­stimmt­heit« der Kern­zei­le »Mit uns zieht die neue Zeit« – nicht ohne Häme. Denn es ist ja Unbe­stimmt­heit, die für Dem­ago­gie Ein­falls­to­re baut. Und da in die­sem »Arbeiter«-Lied nicht eine ein­zi­ge Zei­le am Klas­sen­wi­der­spruch kratzt, durf­te es mühe­los mehr­fach den Besit­zer wech­seln: von der SPD zur SA und wie­der zurück. Der Dich­ter lässt den »Son­nen­tag fröh­lich lachen«, wohl, weil nach »einer Woche Ham­mer­schlag« immer noch »kei­ner zu hadern wagt«. Sol­che Zei­len dürf­ten dem Kapi­tal war­me Glücks­schau­er beschert haben.

6o Jah­re zuvor hat­te der Dich­ter­star Georg Her­wegh auf Bit­ten von Lass­alle im »Bun­des­lied« einen popu­lä­ren Text zur Grün­dung der SPD, bzw. des »All­ge­mei­nen Deut­schen Arbei­ter­ver­eins« in Leip­zig geschrie­ben. Mit »Bet und Arbeit« gelang es ihm, sogar etwas Klas­sen­wirk­lich­keit popu­lär zu fas­sen: »Alles ist dein Werk, oh sprich /​ alles aber nichts für dich /​ und von allem nur allein /​ die du schmiedst /​ die Ket­te dein.« Um dann zum berühm­ten Streik­reim aus­zu­ho­len: »Alle Räder ste­hen still/​ wenn dein star­ker Arm es will.«

1977 bekam ich von Wil­ly Brandt den Auf­trag, eine LP mit Arbei­ter­lie­dern für die SPD ein­zu­sin­gen. Ich bat ihn, auf »Wann wir schrei­ten« ver­zich­ten zu dür­fen. Der einst sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Text­au­tor Her­mann Clau­di­us hat­te bekannt­lich 1933 ein Treue­ge­löb­nis für Adolf Hit­ler mit­ge­zeich­net. Auch mein musi­ka­li­scher Mit­ar­ran­geur, Hei­ner Goeb­bels, woll­te an die­sem Lied nicht mit­wir­ken. Wil­ly Brandt strahl­te, er hät­te die­ses Lied auch stets als zu schwül­stig emp­fun­den. Eine Zei­le wie: wenn wir »die alten Lie­der sin­gen /​ und die Wäl­der wider­klin­gen« habe doch mit der eher städ­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung nichts zu tun. Dann leg­te er jedoch den Kopf schief: Ande­rer­seits habe er sich als Par­tei­vor­sit­zen­der die­ser Tra­di­ti­on doch irgend­wie zu fügen. Wir einig­ten uns dar­auf, dass der Song zwar auf die »Arbei­ter­lie­der-LP« käme, aber als ein­zi­ger Song ohne mich, son­dern von einer Fal­ken­songgrup­pe gesungen.

Genau zehn Jah­re spä­ter erin­ner­te sich Wil­ly Brandt unse­res Gesprächs. Er sag­te, dass er gern zur 125-Jahr-Fei­er der SPD 1988 »Wann wir schrei­ten« als Par­tei­tags­lied end­gül­tig in den Kom­post tun woll­te. Ob ich denn dafür ein neu­es Par­tei­lied schrei­ben könn­te? Wobei er sich erin­ner­te an einen Bon­ner Auf­tritt der Bots mit mei­nem »Wei­chen Was­ser« gegen die Nato-Atom­ra­ke­ten. Dies möge ich doch umschrei­ben. 1988 wur­de dann also »Wann wir schrei­ten« als Par­tei­tags­ab­schluss-Gesang sus­pen­diert und durch mei­ne neue »Wei­che-Was­ser-Fas­sung« ersetzt. Heinz Rudolf Kun­ze sang es damals; Wil­ly Brandt selbst, Sen­ta Ber­ger und Götz Geor­ge spra­chen es zur Ber­li­ner SPD-Fei­er auf Schall­plat­te. Aller­dings wur­de eini­ge Jah­re danach (unter Ein­fluss­nah­me von Ger­hard Schrö­der und Bodo Hom­bach) erneut »Wann wir schrei­ten« an sei­nen rech­ten Platz zurück­ge­holt. Erst im Dezem­ber 2021 been­de­te der SPD-Par­tei­vor­stand die­sen maso­chi­sti­schen Mum­men­schanz, was Klaus Nili­us dan­kens­wer­ter­wei­se auch mit Quel­len versah.

Gera­de arbei­te ich mit Micha­el Letz (Okto­ber­club), Joa­chim Witt (»Der gol­de­ne Rei­ter«) Ex-DDR-Mini­ster Hart­mut König, Mat­thi­as Mül­ler und ande­ren dar­an, Arbei­ter­lie­der noch ein­mal gegen den musi­ka­lisch ritua­li­sier­ten Strich zu käm­men. Dafür wird »Bet und Arbeit« zu einem Kir­chen­or­gel­werk, »Die Arbei­ter­ein­heits­front« zu Tech­no, »Die Inter­na­tio­na­le« zu einem lei­sen Chan­son und »Dem Mor­gen­rot ent­ge­gen« zu einem Tan­go. Bei den Arbei­ter­lie­dern auf die­ser CD kommt »Wann wir schrei­ten« natür­lich nicht vor. Aller­dings hat­ten wir kürz­lich auf Weltnetz.tv eine sati­ri­sche Ver­si­on dar­aus für Olaf Scholz gemacht (https://weltnetz.tv/video/2562-der-scholzomat-song).