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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Was ist der Mensch?

Die Fra­ge, ob Pro­me­theus, der Halb­gott, ein listi­ger Betrü­ger vol­ler Hoch­mut war oder als Feu­er­brin­ger ein Wohl­tä­ter der Mensch­heit, beschäf­tigt Dich­ter und Poe­ten, Maler und Bild­hau­er, Kom­po­ni­sten, Phi­lo­so­phen, Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler und Theo­lo­gen seit der Anti­ke. Auch der viel­schich­ti­ge Mythos von einem Demi­ur­gen ver­kör­pert ein schöp­fe­ri­sches Prin­zip oder Wesen, das die ersten Men­schen aus Lehm geformt, mit Bewusst­sein ver­se­hen und das Cha­os der Welt geord­net hat.

Pro­me­theus. 44 Jah­re nach­dem Johann Wolf­gang von Goe­the vol­ler Sturm und Drang in dem so beti­tel­ten hym­ni­schen Gedicht sei­nen Hel­den die Göt­ter her­aus­for­dern ließ – »Ich ken­ne nichts Ärme­res /​ Unter der Sonn’ als euch, Göt­ter!« –, schuf die bri­ti­sche Schrift­stel­le­rin Mary W. Shel­ley in ihrem 1818 ver­öf­fent­lich­ten Roman »Fran­ken­stein oder Der moder­ne Pro­me­theus« ein Mon­ster, das bis heu­te nicht zur Ruhe kommt. Fran­ken­stein, das ist nicht der Name der Krea­tur, so wie häu­fig fälsch­li­cher­wei­se ange­nom­men wird, son­dern der des Medi­zin­stu­den­ten mit Vor­na­men Vik­tor, der in sei­nem Labor aus Lei­chen­tei­len den künst­li­chen Men­schen zusam­men­fügt und zum Leben erweckt. Sein Geschöpf bleibt namen­los, wünscht sich aber nichts mehr als von sei­nem »Vater« geliebt zu wer­den, genau wie so man­ches unge­lieb­te Men­schen­kind. Die erfah­re­ne Zurück­wei­sung hat die aus Buch und Fil­men bekann­ten schreck­li­chen Folgen.

200 Jah­re sind seit­dem ver­gan­gen. Heu­te arbei­ten rund um den Glo­bus die moder­nen Fran­ken­steins dar­an, mit Hil­fe der Wis­sen­schaf­ten und ihren Mög­lich­kei­ten, mit Hil­fe von Tech­nik und Digi­ta­li­sie­rung, von Algo­rith­men und künst­li­cher Intel­li­genz welt­wei­te Pro­ble­me wie Kli­ma­wan­del oder Krank­hei­ten zu lösen, erschaf­fen in Labo­ren Krea­tu­ren durch Gen-Mani­pu­la­ti­on und züch­ten künst­li­ches Fleisch in Retorten.

Sach- und Wis­sen­schafts­bü­cher zu die­ser The­ma­tik fül­len die Rega­le, Roman­au­to­ren ent­fes­selt sie die Fan­ta­sie. Im ver­gan­ge­nen Jahr hat sich die öster­rei­chi­sche Schrift­stel­le­rin Rapha­e­la Edel­bau­er (32) mit dem Sci­ence-Fic­tion-Thril­ler »DAVE« in die­ses Gen­re gewagt, und zwar so erfolg­reich, dass die Jury des Öster­rei­chi­schen Buch­prei­ses den Roman aus über 120 Ein­rei­chun­gen für den Haupt­preis aus­wähl­te. Die Aus­zeich­nung wur­de am 8. Novem­ber 2021 zum Auf­takt der inter­na­tio­na­len Mes­se Buch Wien über­reicht.

Edel­bau­er beschreibt eine Zukunft, in der das Kli­ma­sy­stem der Erde infol­ge unge­brem­ster Erwär­mung und dar­aus resul­tie­ren­dem extre­mem Was­ser­man­gel kol­la­biert ist. Die Über­le­ben­den der Kata­stro­phe, 118 998 Men­schen – genau gezählt, die Über­wa­chung macht’s mög­lich –, leben in einem mehr­stöcki­gen »Labor« genann­ten Gebäu­de über und unter der Erd­ober­flä­che, luft­dicht und her­me­tisch abge­schot­tet von der Außen­welt. Ihr ein­zi­ges Ziel, ihre ein­zi­ge Auf­ga­be ist, DAVE zu erschaf­fen, das Gol­de­ne Kalb der High­tech-Tüft­ler, eine künst­li­che Super-Intel­li­genz, die per­fek­te Mensch-Maschi­ne, aus­ge­stat­tet mit vol­ler Sprach­fä­hig­keit und einem indi­vi­du­el­len Bewusst­sein, gefüt­tert mit den Erin­ne­run­gen eines Wissenschaftlers.

»Wir, die Men­schen, woll­ten nicht nur unser eige­nes, son­dern das Leben an sich und sei­ne unend­li­che, facet­ten­rei­che Intel­li­genz gestal­ten. Ein unhalt­ba­rer Fort­schritt, eine Ket­ten­re­ak­ti­on ent­fal­te­te sich: Vom simp­len Werk­zeug gin­gen wir über zur Gestal­tung unse­rer Lebens­welt; von ange­sam­mel­tem Wis­sen über unse­ren Kör­per hin zur Hei­lung und Ver­bes­se­rung des­sel­ben und schließ­lich hin zur Schöp­fung sich bewe­gen­der Arte­fak­te, die uns eines Tages über­le­gen sein wür­den. Ein Pro­zess immer grö­ße­rer Tran­szen­denz, der das ehe­dem tote Uni­ver­sum zur Exten­si­on des eige­nen Ver­stan­des erklär­te. Eine fina­le Apo­theo­se und als deren Abschluss: DAVE

Jedoch, nichts ist gewiss. Der Ich-Erzäh­ler bewegt sich auf schwan­ken­dem Grund, in dop­pel­tem Sin­ne. Er befin­det sich damit in einer ähn­lich undurch­sich­ti­gen Situa­ti­on wie die Ich-Erzäh­le­rin in Edel­bau­ers 2019 erschie­ne­nem Erst­ling »Das flüs­si­ge Land«, einer Para­bel über die öster­reich­spe­zi­fi­sche Ver­gan­gen­heits­ver­drän­gung, in des­sen Titel schon der feste Boden negiert wird. In bei­den Roma­nen ste­hen die Prot­ago­ni­sten vor der Fra­ge, dem Rät­sel, ob und wie sich Innen­welt und Außen­welt beeinflussen.

Die Jury schreibt in ihrer Begrün­dung zur Preis­ver­lei­hung, beim Lesen unter­hal­te man sich nicht nur, son­dern erfah­re »viel über phi­lo­so­phi­sche Debat­ten, Bewusst­seins- und Gedächt­nis­for­schung, Infor­ma­tik und ler­nen­de Syste­me, deren Heils­ver­spre­chen die Autorin spür­bar miss­traut. Denn der Weg zu einer schmerz­lo­sen und total ver­nünf­ti­gen Gesell­schaft nach dem Eben­bild des Com­pu­ters führt durch Über­wa­chung und Repression.«

Edel­bau­er erzäh­le »ele­gant und poin­tiert, mit gal­li­gem Witz, Lust an der Anspie­lung und immer wie­der ver­blüf­fen­den Wen­dun­gen von der Ohn­macht des Ein­zel­nen in einer Dik­ta­tur der Welt­ver­bes­se­rer«, heißt es wei­ter in der Lau­da­tio. Und ab und an, darf ich ergän­zen, erzählt sie in einer eigen­wil­li­gen, durch – wie ich anneh­me – öster­rei­chi­sche Wort-Ein­spreng­sel gepräg­ten Bil­dungs­spra­che. Der ver­blüf­fen­de Twist auf den letz­ten Buch­sei­ten ent­schä­digt dafür.

SF-erfah­re­ne Lese­rin­nen und Leser und Cinea­sten mögen bei der Lek­tü­re auf Spu­ren­su­che gehen: Ist DAVE ein Akro­nym wie HAL, der Com­pu­ter aus dem Film »2001: Odys­see im Welt­raum« (Regie: Stan­ley Kubrick, Buch: Arthur C. Clar­ke)? Gibt es Anhalts­punk­te, die an die von Maschi­nen mit künst­li­cher Intel­li­genz beherrsch­te »Matrix«-Welt der Wachow­ski-Schwe­stern erin­nern? Oder an die fal­sche, vor­ge­täusch­te Wirk­lich­keit des »Simulacron«-Romans von Dani­el F. Galouye, der 1973 von Rai­ner Wer­ner Fass­bin­der und 1999 von Josef Rusnak/​Roland Emme­rich ver­filmt wurde?

 Rapha­e­la Edel­bau­er: »DAVE«, Klett-Cot­ta 2021, 420 Sei­ten, 25 €.