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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Seht mal an – welch ein Mensch«

Als einen »in Ber­lin gebür­ti­gen Sach­sen« bezeich­net sich der gera­de 90 Jah­re jung gewor­de­ne Nestor der poli­ti­schen DDR-Kari­ka­tur und Por­trä­tist Harald Kretz­schmar. Dar­in unter­schei­det er sich von sei­nem Berufs­kol­le­gen Hein­rich Zil­le, der sich mit Fug und Recht als einen in Sach­sen gebür­ti­gen Ber­li­ner bezeich­nen könn­te, weil sei­ne wich­tig­sten Lebens- und Schaf­fens­sta­tio­nen in Ber­lin-Lich­ten­berg und in der Sophie-Char­lot­ten-Stra­ße in West­end statt­fan­den. Bei­de stan­den sich also trotz zeit­li­chen Abstands nicht nur künst­le­risch, son­dern auch lokal­ko­lo­ri­stisch recht nahe.

In Ste­glitz am 23. Mai 1931 gebo­ren, leg­te der damals noch unbär­ti­ge Harald Kretz­schmar sein Abitur an der Dres­de­ner Kreuz­schu­le ab und besuch­te in Leip­zig die Hoch­schu­le für Gra­phik und Buch­kunst. Sein erstes Nach­kriegs-Thea­ter­er­leb­nis in der bis auf die Grund­mau­ern zer­stör­ten Kunst­stadt Dres­den beein­druck­te ihn nicht nur der hoff­nungs­lo­sen äuße­ren Umstän­de wegen. Es waren die huma­ni­sti­schen Posi­tio­nen des wei­sen Nathan und die Dar­stel­ler um Erich Pon­to, die sei­ne Lie­be zum Thea­ter prägten.

1954 erschie­nen sei­ne ersten Kari­ka­tu­ren in der Leip­zi­ger Volks­zei­tung, und von 1955 bis 1991 gehör­te er unver­zicht­bar zum Eulen­spie­gel-Kern­team.

1956 ließ er sich end­gül­tig und frei­schaf­fend im mär­ki­schen Klein­mach­now nie­der, wo er hof­fent­lich noch ewig zu Hau­se sein kann. Über sei­ne Freun­de und Nach­barn und das Image des Ortes ver­fass­te er 2008 das »Para­dies der Begeg­nun­gen – der Künst­ler­ort Klein­mach­now«. Von dort aus betreibt er seit­dem und unbrems­bar sein dar­stel­le­ri­sches und pro­vo­kan­tes gra­fi­sches und publi­zi­sti­sches Hand- und Kopf­werk. Im »Ver­band Bil­den­der Künst­ler der DDR« war Harald Kretz­schmar Vor­sit­zen­der der Zen­tra­len Sek­ti­ons­lei­tung Kari­ka­tu­ren. 1975 mit­be­grün­de­te er im vogt­län­di­schen Greiz, Geburts­ort des Sati­ri­kers Hans­ge­org Sten­gel, im Som­mer­pa­lais der Reu­ßen das SATIRICUM, dem er seit­her die Treue hält. Das unschein­ba­re Hotel am Ran­de des Stadt­parkes, von dem aus er gewöhn­lich unter alten Bäu­men an der »Wei­ßen Elster« ent­lang den Fuß­weg zu den Samm­lun­gen und aktu­el­len Aus­stel­lun­gen ein­schlägt, ver­rät mehr über sei­ne Per­sön­lich­keit als sei­ne bio­gra­fi­schen Selbst­zeug­nis­se. Wer neu­gie­ri­ger ist, schla­ge nicht bei Shake­speare, son­dern in sei­nem »alter­na­ti­ven Künst­ler­re­port« nach. »Stets erle­be ich das Fal­sche«, bekennt er dort. Wer noch genau­er hin­schau­en will, muss sich etwas Zeit neh­men, denn, so ver­riet es der viel­sei­ti­ge Künst­ler der jun­gen Welt im Juni 2019: »Wenn ich zeich­ne, dann quat­sche ich nicht.«

Hohe Aner­ken­nung ver­die­nen sei­ne Bemü­hun­gen, den Blick über die nicht mehr vor­han­de­ne Mau­er zu rich­ten und die ehe­ma­li­ge ande­re deut­sche Land­schaft damit zu kon­fron­tie­ren, dass es nord­öst­lich der Elbe auch Sati­re per Zei­chen­stift gab. Das bezeug­te u. a. die im Wil­helm-Busch-Muse­um Han­no­ver ver­an­stal­te­te Aus­stel­lung »Harald Kretz­schmar – Zeich­ner und Samm­ler«. Wie hoch der künst­le­ri­sche und orga­ni­sa­to­ri­sche Auf­wand für der­ar­ti­ge Ver­an­stal­tun­gen ist, wie wich­tig sie aber auch sind, kann ich aus den Erfah­run­gen unse­rer Zim­mer­thea­ter-Gast­spie­le in Lübeck, Erlan­gen und anders­wo nur bestätigen.

Als Feuil­le­to­nist und Publi­zist, vor allem beim Welt­büh­nen-Nach­fol­ger Ossietzky, rief und ruft der grad­li­ni­ge Autor Kretz­schmar mit­un­ter Wider­spruch her­vor. Aber er kann sich auch mit dem Vor­wurf der Pin­se­lig­keit aus­ein­an­der­set­zen – wozu ist er schließ­lich ein Mann der Feder – und über den eige­nen Schat­ten sprin­gen. In Ber­lin und in sei­nem nähe­ren und wei­te­ren Umfeld initi­ier­te er zahl­rei­che the­ma­ti­sche Aus­stel­lun­gen, lud zu Ver­nis­sa­gen und Finis­sa­gen ein, stell­te dabei unver­öf­fent­lich­te eige­ne Tex­te vor und koope­rier­te mit ande­ren Autoren, zum Bei­spiel dem Schrei­ber die­ser Wür­di­gung. Das war im Jah­re 2005, stand unter dem Mot­to »Spaß­ge­sell­schaft olè« und fand im Kul­tur­haus Lich­ten­berg im Zusam­men­wir­ken mit dem Zim­mer­thea­ter Karls­horst statt. Der uner­müd­li­che Harald Kretz­schmar hol­te Senio­ren wie Hen­ry Bütt­ner aus ihrer selbst­ge­wähl­ten Zurück­ge­zo­gen­heit, ver­half Künst­le­rin­nen wie der sar­ka­sti­schen Fran­zis­ka Becker zu höhe­rem Bekannt­heits­grad in den »neu­en« Bun­des­län­dern und ermun­ter­te Nach­wuchs­künst­ler wie Chri­stia­ne Pfohl­mann zur indi­vi­du­el­len Pro­fi­lie­rung in der Tages­ka­ri­ka­tur. Dass über­dies manch ein Besu­cher mit sei­nem per­sön­lich zuge­eig­ne­ten Kon­ter­fei der­ar­ti­ge Tref­fen ver­ließ, sei nur neben­bei vermerkt.

Und er gab ori­gi­nel­le Bücher und unver­wech­sel­ba­re Kom­pen­di­en her­aus und hielt die eigen­wil­li­gen Züge und Cha­rak­te­ri­sti­ka von Künst­lern des Schreib­tischs und der Büh­ne für die Mit- und Nach­welt fest. Mit sei­nem »alter­na­ti­ven« Künst­ler­re­port »Stets erle­be ich das Fal­sche« stößt er aller­dings ein Pro­blem­feld an, das über Rück­be­sin­nun­gen anläss­lich eines Lebens- und Schaf­fens­ju­bi­lä­ums weit hinausgeht.

Der Name Harald Kretz­schmar begeg­ne­te mir erst­ma­lig Ende der 1950er Jah­re, als ich nach dem Staats­examen in den DDR-Schul­dienst ein­ge­stie­gen wur­de und mei­ner noch nicht aus­ge­präg­ten sati­ri­schen Ader durch das Stu­di­um des damals ein­wö­chig erschei­nen­den Eulen­spie­gels neue Impul­se ver­pas­sen woll­te. Dabei hal­fen mir Beh­ling, Bütt­ner, Bofin­ger, Klem­ke und eben Kretzschmar.

Dann lern­te ich ihn per­sön­lich durch Aus­stel­lun­gen ken­nen, durch die gra­fi­sche Umrah­mung eines Kaba­rett-Pro­gramms des Zim­mer­thea­ters schät­zen, begeg­ne­te ihm häu­fig bei den jähr­li­chen Tref­fen der Ossietzky-Leser und -Autoren anläss­lich des Geburts­ta­ges des Namens­ge­bers am 3. Okto­ber und gewöhn­te mich an unse­re gegen­sei­ti­gen fami­liä­ren Neu­jah­res­wün­sche per Text und Bild.

Jetzt muss ich zum Ende kom­men. Es könn­te ja sein, dass der Chef­re­dak­teur noch ande­re Ereig­nis­se in pet­to hat. Und eine Lau­da­tio für Harald Kretz­schmar wäre selbst in einem the­ma­ti­schen Heft nicht gebüh­rend abzu­ar­bei­ten. Eines aber muss und will ich noch anmer­ken: Aus der Viel­zahl der Edi­tio­nen mit und über Harald Kretz­schmar gehört »Grüß Gott! Da bin ich wie­der! Karl Marx in der Kari­ka­tur«, EULEN­SPIE­GEL-Ver­lag, Ber­lin 2008, beson­ders her­vor­ge­ho­ben. »Seht mal an – welch ein Mensch« wird dar­in Harald Kretz­schmar zitiert, und er zielt natür­lich auf Karl Marx. Auf ihn sel­ber trä­fe das aber eben­so zu.