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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Totes Rennen – keine Sieger in Belarus

Sym­bo­le sind ver­rä­te­risch. Weiß-rot-wei­ße Fah­nen und das alte Pahon­ja, das Wap­pen­schild mit dem schwert­schwin­gen­den Rit­ter, ste­hen für Wider­stand ver­gan­ge­ner Jahr­hun­der­te und heu­te gegen die Staats­macht in Bela­rus. Bedeu­ten sie nur einen ver­schäm­ten Rück­blick auf die ersten Jah­re der Unab­hän­gig­keit von der Sowjet­uni­on ab 1991, bis der heu­te unge­lieb­te Prä­si­dent Alex­an­der Lukaschen­ko dafür sorg­te, dass ein neu­es, an die Fah­ne der Sowjet­re­pu­blik ange­lehn­tes Natio­nal­sym­bol Ein­zug hielt?

 

Geo­po­li­tik, histo­ri­sche Lasten, impe­ria­li­sti­sche Ziele

Wer weiß noch, dass Weiß-Rot-Weiß 1918 kurz­zei­tig Sym­bol des ersten neu­zeit­li­chen bel­o­rus­si­schen Staa­tes, der Weiß­rus­si­schen Volks­re­pu­blik, oder – wie es in zeit­ge­nös­si­schen Anna­len hieß – der Weiß­ru­the­ni­schen Volks­re­pu­blik, war? Wer gewär­tigt, dass die­ser Staat nach erfolg­rei­chen deut­schen Offen­si­ven 1918/​19 Pro­tek­to­rat der kai­ser­lich-deut­schen Besat­zer war, die im Zuge ihrer »Revo­lu­tio­nie­rung« (das hieß Des­in­te­gra­ti­on) des rus­si­schen Kriegs­geg­ners Mario­net­ten­re­gime errich­te­ten? Die gel­ten heu­te in Ost­eu­ro­pa als Wie­gen der Demo­kra­tie, waren Fein­de der Sowjet­macht, zutiefst anti­kom­mu­ni­stisch und anti­de­mo­kra­tisch. Aller­dings mag die­se Früh­ge­schich­te von Bela­rus auch einer der Grün­de sein, war­um es die beson­de­re Auf­merk­sam­keit deut­scher Außen­po­li­tik und der der­zeit deutsch gelenk­ten EU-Außen­be­zie­hun­gen genießt. Übri­gens waren die heu­te so gelieb­ten Sym­bo­le nicht nur die Insi­gni­en der bis heu­te (!) exi­stie­ren­den anti­kom­mu­ni­sti­schen Exil­re­gie­rung, son­dern auch der Kol­la­bo­ra­teu­re 1941–1944 wäh­rend der faschi­sti­schen Okkupation.

Wei­te­rer »unei­gen­nüt­zi­ger Inter­es­sent« ist die Repu­blik Polen, die im Zuge der Geheim­pro­to­kol­le zum Nicht­an­griffs­ver­trag zwi­schen Nazi­deutsch­land und der Sowjet­uni­on und des nach Polens mili­tä­ri­scher Nie­der­la­ge erfolg­ten Ein­mar­sches der Roten Armee gro­ße Tei­le des heu­ti­gen Bela­rus an die öst­li­che Groß­macht ver­lor, die ihren Alt­be­stand von Zaren­reich und frü­her Sowjet­macht wie­der­her­stell­te. Neben­her voll­zog die Sowjet­uni­on mit nicht weni­gen Bel­o­rus­sen jene sozia­le Revo­lu­ti­on, die seit 1917 den Rest des Zaren­rei­ches in eine neue Ord­nung über­führ­te, wenn auch unter den Schmer­zen eines sta­li­ni­sti­schen Regimes. Für die­se sozia­le Umwäl­zung und für ihr nack­tes Über­le­ben haben Bel­o­rus­sen wie die ande­ren Völ­ker der UdSSR gegen Hit­lers Armeen und Mord­bren­ner gekämpft und 1945 gesiegt.

Dar­über mag heu­te wenig gere­det wer­den, und doch prägt es die Geschich­te wie den geo­gra­fi­schen und poli­ti­schen Platz die­ses über­schau­ba­ren Bin­nen­lands zwi­schen Russ­land, Bal­ti­kum, Ukrai­ne und Polen.

Die Vor­ge­schich­te und die Erfah­run­gen der letz­ten drei Jahr­zehn­te soll­ten nicht nur in Minsk und Mos­kau bei kri­ti­schen Gei­stern Alarm­glocken schril­len las­sen. Alle Zuta­ten für inne­re Unru­hen als Bestand­teil jener anti­rus­si­schen Farb­re­vo­lu­ti­ons­wel­le, die Ost­eu­ro­pa vom Bal­ti­schen bis zum Schwar­zen Meer in einen anti­rus­si­schen Cor­don sani­taire zu ver­wan­deln sucht, sind vor­han­den. Bela­rus wäre nur der Schlussstein.

Ja, es ist fatal, so wich­tig und bedeut­sam inne­re Wider­sprü­che und Kon­flik­te sind, die nach Reform und viel­leicht Revo­lu­ti­on schrei­en: Es geht immer um ideo­lo­gi­sche, natio­na­li­sti­sche, geo­po­li­ti­sche Kon­flikt­li­ni­en, die jeg­li­che sozia­len und poli­ti­schen Auf­brü­che, so not­wen­dig sie sein mögen, überformen.

 

Letz­ter Dik­ta­tor und/​oder letz­ter sor­gen­der Vater Staat

Bela­rus hat, vor allem dank Lang­zeit­prä­si­dent Lukaschen­ko, knapp drei Jahr­zehn­te lang unter den post­so­zia­li­sti­schen Repu­bli­ken der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on und Ost­eu­ro­pas einen Son­der­weg ein­ge­schla­gen. Im Unter­schied zu ande­ren Nach­fol­ge­staa­ten kam es nicht zur Macht­über­nah­me durch Olig­ar­chen, das heißt früh­ka­pi­ta­li­sti­sche Pri­va­ti­sie­rungs­ge­winn­ler. Und selbst der Prä­si­dent genoss Ach­tung, weil er lan­ge glaub­haft sozia­le Poli­tik ver­kör­per­te. Ein Son­der­weg, der trotz auto­ri­tä­rer, auch repres­si­ver Züge lan­ge für gro­ße Tei­le der bel­o­rus­si­schen Gesell­schaft einen im Ver­gleich zu ihren nahen west­li­chen Nach­barn akzep­ta­blen Lebens­stan­dard und wirt­schaft­li­chen Erfolg ein­brach­te. Die alten ver­staat­lich­ten Wirt­schafts­struk­tu­ren in Indu­strie und Land­wirt­schaft blie­ben weit­ge­hend unan­ge­ta­stet, das sozia­le Siche­rungs­sy­stem erin­ner­te wie die staat­li­chen Insi­gni­en an die lan­ge Sowjet­zeit. Erst als Bela­rus im letz­ten Jahr­zehnt von der Welt­wirt­schafts­kri­se erfasst wur­de und der eng­ste Part­ner, Russ­land, Mit­te der 2010er Jah­re selbst in eine anhal­ten­de Rezes­si­on, vor allem im Gefol­ge der west­li­chen Sank­ti­ons­po­li­tik, geriet, brach­ten begin­nen­de sozia­le Ver­wer­fun­gen das schein­ba­re Erfolgs­mo­dell ins Wanken.

Das Land ist stark abhän­gig vom Außen­han­del, was der rea­le Platz im post­so­wje­ti­schen und inter­na­tio­na­len Han­dels­ge­flecht wider­spie­gelt. Im Jahr 2018 kamen über 58 Pro­zent der Impor­te aus Russ­land, das selbst über 38 Pro­zent der bel­o­rus­si­schen Expor­te auf­nahm (BRD: 4,7 bezie­hungs­wei­se 4,3 Pro­zent). Ver­trag­lich ist Minsk mit Russ­land poli­tisch wie mili­tä­risch ver­bun­den, wenn auch die Schau­kel­po­li­tik Lukaschen­kos zwi­schen Mos­kau und dem Westen die­ses Ver­hält­nis bela­stet hat.

Bela­rus erin­nert an die treu­sor­gen­de, pater­na­li­sti­sche Gesell­schaft des Real­so­zia­lis­mus. Sozia­le Sicher­heit wird gewähr­lei­stet, aber der Staat, der Prä­si­dent, ent­schei­det über das Schick­sal. Solan­ge alles funk­tio­niert, eine Ver­bes­se­rung der Lebens­si­tua­ti­on zu spü­ren ist, so lan­ge wer­den vie­le das akzep­tie­ren. Die Kri­sen des ver­gan­ge­nen Jahr­zehnts haben aber die­se Kon­struk­ti­on erschüt­tert, das not­ge­drun­ge­ne Hin­wen­den zu Lei­stun­gen der Welt­bank und des Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds (IWF) haben die Kopie des sowje­ti­schen Systems aus­ge­höhlt. Pri­va­ti­sie­run­gen grei­fen Raum, die Kri­sen­fol­gen sind auch sozi­al spür­bar gewor­den, die Ver­un­si­che­rung nimmt zu. Und das poli­ti­sche System hat kei­ne demo­kra­ti­schen Struk­tu­ren ent­wickelt, die die­se Unzu­frie­den­heit posi­tiv wenden.

In die­ser Situa­ti­on gewan­nen oppo­si­tio­nel­le Kräf­te, die seit Jah­ren den auto­kra­ti­schen Füh­rungs­stil, die Ein­schrän­kung demo­kra­ti­scher Frei­hei­ten und die Anwen­dung repres­si­ver Maß­nah­men kri­ti­siert und mit Pro­te­sten bekämpft haben, in die­sem Jahr erst­mals Brei­ten­wir­kung. Die bekann­ten Köp­fe die­ser Oppo­si­ti­on sind Intel­lek­tu­el­le, Geschäfts­leu­te, die ein ande­res Bela­rus anstre­ben. Für sie ist die For­de­rung nach Neu­wah­len nur der Ein­stieg in tie­fer­ge­hen­de poli­ti­sche Ver­än­de­run­gen und ande­re, moder­ne, das heißt pro­ka­pi­ta­li­sti­sche Wirt­schafts- und Eigen­tums­struk­tu­ren. Das Ein­for­dern von Frei­hei­ten, das ver­ges­sen die mei­sten, die das Wort auf den Lip­pen füh­ren, heißt auch Frei­heit des Kapi­tals, der Arbeits­kräf­te, des Mark­tes – und dies ist iden­tisch mit der Öff­nung in Rich­tung Westen.

Auch wenn die­se Kräf­te bis­lang nicht vor­der­grün­dig die Alter­na­ti­ve rus­si­scher oder (west-)europäischer Weg auf­ma­chen – wie in der Ukrai­ne oder zuvor in Geor­gi­en –, so impli­ziert ihr Vor­ge­hen doch mit­tel­fri­stig eine sol­che Entscheidungssituation.

 

Das lin­ke Dilemma

Lin­ke in Bela­rus müs­sen sich ent­schei­den: Wol­len sie das bestehen­de System stüt­zen – wie es die im Par­la­ment ver­tre­te­ne Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei lan­ge getan hat –, oder wol­len sie wie diver­se lin­ke Grup­pen – so die »Mar­xi­sten von Bela­rus« oder »Gerech­te Welt« – eine demo­kra­ti­sche Refor­mie­rung anstre­ben und die Risi­ken einer tie­fen Ver­än­de­rung in Kauf neh­men. Wie schon bei ande­ren sol­chen Auf­brü­chen soll­te auch die west­li­che Lin­ke, auch die Par­tei Die Lin­ke, ver­stört sein. Selbst­ver­ständ­lich befür­wor­tet sie mehr Demo­kra­tie, ver­ab­scheut Wahl­ma­ni­pu­la­ti­on und staat­li­che Repres­si­on. Inso­fern bekennt sie sich zu den Oppo­si­tio­nel­len und wün­schen deren Erfolg. Wie aber bei vie­len ande­ren sol­cher Bewe­gun­gen in jün­ge­rer Ver­gan­gen­heit, zumin­dest seit der »Wen­de« 1989/​90, über­blickt sie oft nicht die Risi­ken der Ent­wick­lung. Zu wenig begreift sie den fata­len Weg, der von ver­meint­lich demo­kra­ti­schen Ver­än­de­run­gen zu einer West­öff­nung mit der in dem Fall zwangs­läu­fi­gen Ablö­sung einer staats­ka­pi­ta­li­sti­schen Ord­nung durch eine pri­vat­ka­pi­ta­li­sti­sche füh­ren wird. Den Bel­o­rus­sen eröff­nen sich so die »Vor­zü­ge« des kapi­ta­li­sti­schen Mark­tes mit sei­nen Chan­cen für Weni­ge, mit sei­nen Anla­ge­mög­lich­kei­ten für das west­li­che Kapi­tal und den Risi­ken und dem Abstieg für Viele.

Ja, sol­che Bewe­gun­gen, ver­meint­li­che Revo­lu­tio­nen, agie­ren nicht im luft­lee­ren Raum. Der Glau­be, dass es im Osten nur um die Voll­endung einer bür­ger­lich-demo­kra­ti­schen Revo­lu­ti­on gehe, lässt die Fah­ne der Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te hoch­hal­ten, über­sieht aber den poli­ti­schen, sozia­len, wirt­schaft­li­chen Preis. Genau­so illu­sio­när sind die Vor­stel­lun­gen von einer Revo­lu­ti­on, in der basis­de­mo­kra­ti­sche Struk­tu­ren, nicht zuletzt in den Betrie­ben, den Arbei­tern zu Selbst­be­stim­mung und Macht ver­hel­fen wür­den. Die heu­ti­ge Oppo­si­ti­ons­be­we­gung ist – wie auch kaum anders mög­lich – hete­ro­gen. Eine radi­ka­le, ent­schlos­se­ne und orga­ni­sier­te Kraft für ein demo­kra­tisch erneu­er­tes Bela­rus ist nicht zu erken­nen, geschwei­ge denn für eine Arbei­ter­be­we­gung, die ihre Betrie­be und Sozi­al­stan­dards ver­tei­di­gen kann.

Die west­li­chen Lin­ken ste­hen vor der Her­aus­for­de­rung, ihre poli­ti­schen Ver­wand­ten in Minsk vor Ver­fol­gung und Gefäng­nis soli­da­risch zu bewah­ren. Die grö­ße­re Her­aus­for­de­rung ist aller­dings, zu begrei­fen, dass die Vor­gän­ge in Bela­rus Teil einer Aus­ein­an­der­set­zung sind, in der mit zwei­er­lei Maß gemes­sen wird. EU, Bun­des­re­pu­blik, Polen, die bal­ti­schen Repu­bli­ken, die Ukrai­ne suchen mit Geld, Medi­en, Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, guten Wor­ten und Sank­tio­nen die Ent­wick­lung in ihre Rich­tung zu beein­flus­sen. Ein­sei­tig wie immer und sicher nicht auf Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te, son­dern auf Pro­fi­te und bes­se­re Aus­gangs­be­din­gun­gen für den Kampf gegen die eigen­sin­ni­gen Rus­sen (Chi­ne­sen, Vene­zo­la­ner, Kuba­ner, Ira­ner, Syrer und so wei­ter) zielend.

Nie­man­den muss es wun­dern, wenn ein deut­scher Außen­mi­ni­ster die schärf­sten Ankla­gen und For­de­run­gen an Lukaschen­kos Adres­se bei einer Pres­se­kon­fe­renz mit dem Muster­de­mo­kra­ten Sau­di-Ara­bi­en ent­wickelt, einer eiser­nen Dik­ta­tur, die nicht ein­mal ein gewähl­tes Par­la­ment kennt.

Demo­kra­ti­sche For­de­run­gen sind berech­tigt, aber die Bel­o­rus­sen müs­sen ihre Pro­ble­me selbst, im Dia­log, mei­net­hal­ben am Run­den Tisch, gemein­sam lösen. Lukaschen­ko wird hier mit­tel­fri­stig ersetzt wer­den müs­sen. Aber es bleibt die Fra­ge, was bleibt, wer kommt. Lin­ke haben schon zu vie­le die­ser bun­ten Revo­lu­tio­nen – mit und ohne Skript von Geheim­dien­sten und PR-Agen­tu­ren des Westens – erle­ben müs­sen, um nicht zu wis­sen, wohin die Rei­se gehen soll und wie auch gut­ge­mein­te Ver­än­de­run­gen in ihr Gegen­teil umschla­gen. Uni­so­no wird behaup­tet, nie­mand wol­le einen zwei­ten Mai­dan, denn die gewalt­sa­men krie­ge­ri­schen Fol­gen, der auf­ge­kom­me­ne rea­le Faschis­mus sind bekannt. Genau­so wenig sol­le Mos­kau vor den Kopf gesto­ßen wer­den. Nur, wer hält sich dar­an, wer warnt, wer sucht einen Aus­weg in der Oppo­si­ti­on und an der Macht?

Es geht im gro­ßen Macht­spiel nicht um Lukaschen­ko oder die bel­o­rus­si­sche Demo­kra­tie. Es geht um die Unwil­li­gen der geschlos­se­nen US- und ein wenig EU-domi­nier­ten kapi­ta­li­sti­schen Welt­ord­nung, die Mos­kau und Peking stö­ren. Ber­lin, Lon­don, Washing­ton wis­sen, was sie wollen.