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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Übelstände beim Wembley-Stadion

Ab den frü­hen 1870er Jah­ren ziel­ten Fried­rich Engels’ Schrif­ten auf die begriff­li­che und metho­di­sche Schär­fung des wis­sen­schaft­li­chen Sozia­lis­mus. Dazu zähl­te auch der 1873 ent­stan­de­ne Text »Die Woh­nungs­fra­ge«, in dem er pole­misch auf die popu­lä­ren proud­ho­ni­sti­schen und bür­ger­li­chen Rezep­te zur Über­win­dung der Woh­nungs­not ein­geht (MEW, Bd. 18, Ber­lin 1962, S. 209-287). Zu jener Zeit lie­ßen der durch die Indu­stria­li­sie­rung getrie­be­ne Zuzug in die Städ­te und das Bevöl­ke­rungs­wachs­tum die Woh­nungs­not ste­tig wach­sen. Die vie­len gesund­heits­ge­fähr­li­chen und bau­fäl­li­gen, zumeist über­be­leg­ten Behau­sun­gen waren so unwür­dig wie noto­risch. Und nicht nur sie. Fried­rich Engels erhellt:

»Die moder­ne Natur­wis­sen­schaft hat nach­ge­wie­sen, daß die soge­nann­ten ›schlech­ten Vier­tel‹, in denen die Arbei­ter zusam­men­ge­drängt sind, die Brut­stät­ten aller jener Seu­chen bil­den, die von Zeit zu Zeit uns­re Städ­te heim­su­chen. Cho­le­ra, Typhus und typho­ide Fie­ber, Blat­tern und and­re ver­hee­ren­de Krank­hei­ten ver­brei­ten in der ver­pe­ste­ten Luft und dem ver­gif­te­ten Was­ser die­ser Arbei­ter­vier­tel ihre Kei­me; sie ster­ben dort fast nie aus, ent­wickeln sich, sobald die Umstän­de es gestat­ten, zu epi­de­mi­schen Seu­chen, und drin­gen dann auch über ihre Brut­stät­ten hin­aus in die luf­ti­ge­ren und gesun­de­ren, von den Her­ren Kapi­ta­li­sten bewohn­ten Stadtteile. […]

Sobald dies ein­mal wis­sen­schaft­lich fest­ge­stellt war, ent­brann­ten die men­schen­freund­li­chen Bour­geois in edlem Wett­ei­fer für die Gesund­heit ihrer Arbei­ter. Gesell­schaf­ten wur­den gestif­tet, Bücher geschrie­ben, Vor­schlä­ge ent­wor­fen, Geset­ze debat­tiert und dekre­tiert, um die Quel­len der immer wie­der­keh­ren­den Seu­chen zu ver­stop­fen. Die Woh­nungs­ver­hält­nis­se der Arbei­ter wur­den unter­sucht und Ver­su­che gemacht, den schrei­end­sten Übel­stän­den abzu­hel­fen. Nament­lich in Eng­land, wo die mei­sten gro­ßen Städ­te bestan­den und daher das Feu­er den Groß­bür­gern am hef­tig­sten auf die Nägel brann­te, wur­de eine gro­ße Tätig­keit ent­wickelt; Regie­rungs­kom­mis­sio­nen wur­den ernannt, um die Gesund­heits­ver­hält­nis­se der arbei­ten­den Klas­se zu untersuchen […]«

Heu­te – knapp andert­halb Jahr­hun­der­te spä­ter – gibt es in Groß­bri­tan­ni­en wie­der Kom­mis­sio­nen, die die­se Unter­su­chun­gen durch­füh­ren. Nicht zuletzt die Brent Pover­ty Com­mis­si­on, die jüngst die Ver­hält­nis­se im Geburts­ort des euro­päi­schen Reg­gae, im zum Lon­do­ner »Kul­tur­vier­tel« des Jah­res 2020 ernann­ten Bezirk Brent unter­such­te. Die Bewoh­ner des als Anlauf­punkt für Immi­gran­ten die­nen­den Quar­tiers spre­chen mehr als 140 Spra­chen. Im 19. Jahr­hun­dert kamen die Iren, im 20. Ein­wan­de­rer aus Indi­en und der Kari­bik, im 21. Flücht­lin­ge aus Syri­en und Soma­lia. Der im Nord­we­sten Lon­dons rund um das Wem­bley-Sta­di­on gele­ge­ne Bezirk Brent ist einer der ärm­sten des Lan­des. Fürch­ter­li­che Wohn­be­din­gun­gen, rui­nö­se Mie­ten und die ver­brei­te­te Armut haben ihn der Kom­mis­si­on zufol­ge zu einem Hot­spot der Covid-19-Pan­de­mie gemacht – mit der bis­lang höch­sten Todes­ra­te aller Kom­mu­nen in Eng­land und Wales.

Mehr als 40 Pro­zent der Kin­der im Stadt­be­zirk Brent leben in Armut, und vie­le der gering­ver­die­nen­den Fami­li­en wen­den mehr als 40 Pro­zent ihres monat­li­chen Ein­kom­mens für das Woh­nen auf – immer­hin kostet eine durch­schnitt­lich klei­ne Miet­woh­nung um die 1500 Pfund. Die Brent Pover­ty Com­mis­si­on for­dert umge­hen­de Inve­sti­tio­nen in den sozia­len Woh­nungs­bau, um die Über­be­le­gung zu eli­mi­nie­ren, sowie mehr finan­zi­el­le Hil­fen für von Schul­den und Arbeits­lo­sig­keit geplag­te Fami­li­en – ein­schließ­lich Steu­er­erleich­te­run­gen für all die­je­ni­gen, die durch die Coro­na­kri­se in Zah­lungs­rück­stän­de gerutscht sind. Die Kom­mis­si­on for­dert den Rück­kauf der vie­len pri­va­ti­sier­ten Sozi­al­woh­nun­gen und an pri­va­te Inve­sto­ren ver­ge­be­nen Bau­grund­stücke und besteht dar­auf, den aus­beu­te­ri­schen Ver­mie­tern das Hand­werk zu legen. Fried­rich Engels kann­te 1873 For­de­run­gen die­ser Art zur Besei­ti­gung der Woh­nungs­not zur Genü­ge. Ihm grif­fen sie aber viel zu kurz, denn nicht »die Lösung der Woh­nungs­fra­ge löst zugleich die sozia­le Fra­ge«, sta­tu­ier­te er, »son­dern erst durch die Lösung der sozia­len Fra­ge, d.h. der Abschaf­fung der kapi­ta­li­sti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se, wird zugleich die Lösung der Woh­nungs­fra­ge mög­lich gemacht«.

Als nach dem am 31. Janu­ar voll­zo­ge­nen Aus­tritt aus der EU Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son und sein Kabi­nett ihre »uner­schüt­ter­li­che Sicher­heit« demon­strier­ten, das Ver­ei­nig­te König­reich »einer bes­se­ren Lage zuzu­füh­ren«, herrsch­ten durch die jah­re­lan­ge Austeri­täts­po­li­tik vie­ler­orts für die Men­schen unglaub­lich wür­de­lo­se Ver­hält­nis­se, war der bri­ti­sche Traum von einer eige­nen Immo­bi­lie längst aus­ge­träumt, war der Natio­na­le Gesund­heits­dienst chro­nisch über­la­stet, bot das öffent­li­che Bil­dungs­sy­stem nebst Biblio­the­ken ein Trau­er­bild und ver­brei­te­te sich der Erre­ger SARS-CoV-2 bereits in Brexi­tan­ni­en. Seit die Pan­de­mie auf der Insel wütet, kann von einem ange­mes­se­nen poli­ti­schen Kri­sen­ma­nage­ment lei­der kei­ne Rede sein. Zunächst setz­te die neue Tory-Regie­rung auf das fata­le Kon­zept der Her­den­im­mu­ni­tät, wäh­rend Deutsch­land und ande­re EU-Staa­ten bereits den Lock­down ver­hängt hat­ten. Erst Ende März, als die Zahl der Covid-19-Fäl­le in Groß­bri­tan­ni­en dra­ma­tisch anstieg, zog das Land nach. Nun läuft in schwie­ri­gen Zei­ten zwar immer auch etwas schief, im König­reich aller­dings bereits ziem­lich viel. Zum Bei­spiel ver­sprach Boris John­son zur Ver­fol­gung der Neu­in­fek­tio­nen zwar das »welt­be­ste Track-and-trace-System« – die App funk­tio­niert aber bis­lang nur man­gel­haft. Schlicht kata­stro­phal ver­lief gera­de die Ver­ga­be der Zen­su­ren für Schul­ab­gän­ger, die auf­grund der Pan­de­mie vie­le Wochen zuvor kei­nen Unter­richt erhal­ten hat­ten. Nach Wei­sung der Regie­rung wur­den die Noten von einem Com­pu­ter berech­net, des­sen behörd­li­cher Algo­rith­mus weni­ger die indi­vi­du­el­le Lei­stung der Schü­le­rin­nen und Schü­ler als viel­mehr ihre geo­gra­fi­sche Her­kunft berück­sich­tig­te. Da dabei viel schlech­te­re Resul­ta­te als von den Eltern erwar­tet her­aus­ka­men, gab es einen Auf­schrei und folg­te schließ­lich die Kehrt­wen­de der Regie­rung – sprich die Aner­ken­nung der Lehr­kraft-Bewer­tun­gen mit­tels Erfahrungsnoten.

Trotz die­ser und vie­ler ande­rer Plei­ten und Pan­nen zei­gen laut dem Guar­di­an Umfra­gen, dass die Tories noch genau­so hoch im Kurs ste­hen wie bei ihrem gro­ßen Wahl­sieg im Dezem­ber 2019. Die hohe Zustim­mung erfolgt, obwohl die Mehr­heit der Befrag­ten die Tory-Regie­rung als inkom­pe­tent bezeichnet.

Wenig­stens mil­der­te John­son mit sei­nem alles ande­re als ver­trau­ens­er­wecken­den Kabi­nett bis­lang die sozia­len und öko­no­mi­schen Fol­gen der Pan­de­mie. So soll der sich abzeich­nen­de epo­cha­le Wirt­schafts­ab­sturz – es droht die tief­ste Rezes­si­on seit mehr als 300 Jah­ren – mit Mul­ti-Mil­li­ar­den-Pro­gram­men abge­fe­dert wer­den. Was Wun­der, dem Office for Natio­nal Sta­tis­tics zufol­ge ist die bri­ti­sche Wirt­schafts­lei­stung im zwei­ten Quar­tal um 20,4 Pro­zent ein­ge­bro­chen und haben allein von März bis Ende Juli bereits 730.000 Men­schen ihren Arbeits­platz ver­lo­ren – vor allem in der Luft­fahrt- und der Auto­in­du­strie sowie bei Finanz­dienst­lei­stern und Groß­ban­ken. Mit einem der deut­schen Kurz­ar­beit nach­emp­fun­de­nen Pro­gramm, dem »Job Reten­ti­on Sche­me«, schützt die Regie­rung zumin­dest bis Ende Okto­ber rund 9,6 Mil­lio­nen Beschäf­tig­te. Da die Bank of Eng­land bis zum Jah­res­en­de von einer Ver­dop­pe­lung der Arbeits­lo­sen­quo­te auf 7,5 Pro­zent aus­geht, wird – wie gera­de in Deutsch­land – wohl auch das bri­ti­sche Kurz­ar­bei­ter-Modell dem­nächst ver­län­gert werden.

Gewiss nicht ver­län­gert wer­den die Ver­hand­lun­gen über das künf­ti­ge Ver­hält­nis von EU und Ver­ei­nig­tem König­reich. Die Chef­un­ter­händ­ler Michel Bar­nier und David Frost haben bis­lang jedoch noch kei­ne Eini­gung erzielt und nur noch bis spä­te­stens Ende Okto­ber dafür Zeit, weil der Text eines Abkom­mens vor dem Inkraft­tre­ten zum 1. Janu­ar 2021 in allen Par­la­men­ten dies­seits und jen­seits des Ärmel­ka­nals rati­fi­ziert wer­den müss­te. Auf das Pokern ver­ste­hen sich bei­de Sei­ten, und nach wie vor ist der unge­re­gel­te Aus­tritt, der har­te Brexit, im Spiel. Die näch­ste offi­zi­el­le Par­tie bezie­hungs­wei­se Ver­hand­lungs­run­de beginnt am 7. Sep­tem­ber in Lon­don. Im Poker gilt das bewähr­te Sprich­wort: Spie­le den Spie­ler und nicht dei­ne Kar­ten. Fragt sich nur, wor­auf die Bri­ten hin­aus­wol­len. Gut mög­lich, dass der Roy­al Flush in der Eini­gung auf eini­ge pro­vi­so­ri­sche Maß­nah­men besteht, die zumin­dest einen chao­ti­schen Brexit, bei dem die wirt­schaft­li­chen Bezie­hun­gen schlag­ar­tig vom Bin­nen­markt zu den deut­lich stren­ge­ren Regeln der Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­ti­on (WTO) wech­seln wür­den, aus­schließt. Inzwi­schen haben laut dem bri­ti­schen Innen­mi­ni­ste­ri­um übri­gens rund 3,8 Mil­lio­nen in Groß­bri­tan­ni­en leben­de EU-Bür­ge­rin­nen und -Bür­ger eine Nie­der­las­sungs­er­laub­nis für die Zeit ab dem 1. Janu­ar 2021 bean­tragt. Davon sind schon gut zwei Mil­lio­nen bewil­ligt, zudem wur­de knapp 1,5 Mil­lio­nen Antrag­stel­le­rin­nen und -stel­lern ein vor­läu­fi­ges Blei­be­recht gewährt. Zu den bereits abge­lehn­ten 4600 Anträ­gen dürf­ten noch so eini­ge dazu kom­men – über 300.000 Anträ­ge ist jeden­falls noch nicht entschieden.

Die mehr als 4000 »ille­ga­len Migran­ten« (John­son), die in die­sem Jahr mit Schlauch­boo­ten von Frank­reich zur Süd­kü­ste Eng­lands über­ge­setzt haben, sind vie­len kon­ser­va­ti­ven Abge­ord­ne­ten mehr als nur ein Dorn im Auge. Sie wol­len gemäß der Paro­le »Take back con­trol« die Wie­der­erlan­gung der Kon­trol­le über Gren­zen und Geset­ze und for­dern des­halb die Mobi­li­sie­rung der Kriegs­ma­ri­ne zur Abwehr der Flücht­lings­boo­te. Da die fran­zö­si­sche Regie­rung ihre Unter­stüt­zung zuge­sagt hat, kön­nen die Fre­gat­ten aber wohl in den Häfen blei­ben. Zudem kün­dig­te Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son qua­si beru­hi­gend noch stren­ge­re Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze an.

»Rule, Bri­tan­nia« heißt ein patrio­ti­sches Lied, das zum Fina­le der jähr­li­chen Som­mer-Pro­me­na­den­kon­zer­te in der »Last Night of the Proms« kräf­tig mit­ge­sun­gen wird – beim Schwen­ken der Uni­on-Jack-Fähn­chen ver­steht sich. Weil es in dem Lied von 1740 unter ande­rem heißt: »Bri­ten wer­den nie­mals Skla­ven sein«, soll­te es im Hin­blick auf die Black-Lives-Mat­ter-Pro­te­ste nicht gespielt wer­den. Die BBC ent­schied sich aber für »Rule, Bri­tan­nia« – viel­leicht auch, weil Kul­tur­mi­ni­ster Oli­ver Dow­den geschrie­ben hat­te: »Selbst­be­wuss­te, nach vorn schau­en­de Natio­nen löschen ihre Ver­gan­gen­heit nicht aus – sie fügen ihr etwas hin­zu.« Ich neh­me die­se Anmer­kung zum Anlass, dem­nächst aus­führ­li­cher auf die bemer­kens­wer­te Skla­ve­rei-Debat­te im – noch – Ver­ei­nig­ten König­reich einzugehen.