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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Könnten Stolpersteine reden

Vor 75 Jah­ren wur­de erst­mals am 9. Sep­tem­ber der Tag der Opfer des Faschis­mus began­gen. In Ber­lin tra­fen sich Tau­sen­de in einem Neu­köll­ner Sta­di­on, das nach dem Kom­mu­ni­sten Wer­ner See­len­bin­der benannt wor­den war. Die Zahl der Opfer der faschi­sti­schen Bar­ba­rei war zu die­ser Zeit nur zu erah­nen. Selbst 75 Jah­re spä­ter ist die Blut­schuld Deutsch­lands nicht in vol­lem Umfang bekannt. Das gilt in glei­cher Wei­se für die Lebens­we­ge der Ver­folg­ten, Ermor­de­ten, Geschun­de­nen und Verfemten.

Könn­ten Stol­per­stei­ne im Zeu­gen­stand der Geschich­te spre­chen, käme vie­les end­lich zu Tage. Da sie das nicht kön­nen, müs­sen es Archi­ve, Akten, Auf­zeich­nun­gen und Kopien von Doku­men­ten tun. Ein Bei­spiel bie­tet das fami­liä­re Umfeld des Jour­na­li­sten, Künst­lers und Schrift­stel­lers Peter Edel:

Die Neu­köll­ne­rin Ber­ta Reich­mann war Peter Edels Schwie­ger­mut­ter. Die spä­te­re Kran­ken­schwe­ster im Jüdi­schen Kran­ken­haus an der Ira­ni­schen Stra­ße im Ber­li­ner Wed­ding wur­de als Ber­ta Mei­er in Burg­stein­furt gebo­ren und war mit Otto Artur Edu­ard Reich­mann ver­hei­ra­tet. Toch­ter Lie­se­lot­te kam am 21. Janu­ar 1922 in Mag­de­burg zur Welt. Nach der Schei­dung wohn­ten Mut­ter und Toch­ter zuletzt in Ber­lin-Neu­kölln in einer Woh­nung mit zwei Zim­mern im Hin­ter­haus. Dort zog Schwie­ger­sohn Peter Hirsch­weh mit ein – nach 1945 als Peter Edel in Bad Ischl und Wien sowie spä­ter in Ber­lin als Künst­ler, Gra­fi­ker und Schrift­stel­ler inter­na­tio­nal bekannt.

Im Ber­li­ner Adress­buch fin­det sich 1940 (noch!) ein Ein­trag zu der »Pfle­ge­rin« Ber­ta Reich­mann mit der Anschrift Brau­nau­er Stra­ße 174, der heu­ti­gen Son­nen­al­lee. Mit dem 36. Ost­trans­port wur­de sie im März 1943 von Ber­lin ins KZ Ausch­witz depor­tiert. Sie über­leb­te nicht.

Ihre Toch­ter Lie­se­lot­te wur­de mit dem 34. Ost­trans­port vom 4. März 1943 eben­falls nach Ausch­witz ver­schleppt. Wann und wie ihr Leben ende­te, ist unbe­kannt. An bei­de und an Peter Edel wer­den künf­tig Stol­per­stei­ne in der Neu­köll­ner Son­nen­al­lee erinnern.

Unter­la­gen zu Lie­se­lot­te Hirsch­weh aus dem Arol­sen Archiv, dem inter­na­tio­na­len Zen­trum über NS-Ver­fol­gung, und ein Ent­schä­di­gungs­an­trag hat­ten wei­te­re gemein­sa­me Recher­chen des Medi­zin­hi­sto­ri­kers Har­ro Jenss und von mir zur Fol­ge. Sie brach­ten bis­her Unbe­kann­tes über die Fami­lie Edel zu Tage. Begin­nend mit Karl Edel (1837 – 1921).

Von ihm und sei­ner Frau Eli­sa­beth wuss­te man bis­her näm­lich nur, dass sie drei Söh­ne und eine Toch­ter hat­ten: Edmund Albert (der Groß­va­ter Peter Edels), Max und Paul sowie Ger­trud Cla­ra, spä­ter ver­hei­ra­te­te Schön­hei­mer. Der Sani­täts­rat prak­ti­zier­te als Psych­ia­ter und Ner­ven­arzt in Char­lot­ten­burg. Dort hat­te er ein »Asyl für Gemüts­kran­ke« gegrün­det und wirk­te 21 Jah­re als Stadt­ver­ord­ne­ter und Stadt­rat von Char­lot­ten­burg. Dar­über hin­aus war er Vor­sit­zen­der der Kran­ken­haus­de­pu­ta­ti­on und Dezer­nent für das Schul­we­sen in Berlin.

Ein Antrag auf Wie­der­gut­ma­chung wur­de offi­zi­ell von Ernst Edel gestellt, Arzt am St. Augustine´s Hos­pi­tal Chart­ham nahe Can­ter­bu­ry. Es han­del­te sich – wie aus dem Schrift­wech­sel her­vor­ging – um einen bis­her unbe­kann­ten, nach 1933 emi­grier­ten Sohn von Karl Edel. Im Peter-Edel-Archiv der Aka­de­mie der Kün­ste Ber­lin gab die Abschrift einer Hei­rats­ur­kun­de eben­falls bis­her Unbe­kann­tes preis. Im Stan­des­amt Dort­mund-Mit­te hei­ra­te­ten am 23. Febru­ar 1898 Ban­kier Vik­tor Joseph Edel und die Haus­toch­ter Johan­na Herz­feld. Als Vater und Mut­ter des Man­nes sind genannt: prak­ti­scher Arzt, Dok­tor der Medi­zin, Karl Edel und Eli­sa­beth, gebo­re­ne Abel.

So erhel­len sich eini­ge ver­wandt­schaft­li­che Ver­hält­nis­se – mit Blick auf Peter Edel, sei­nen Groß­va­ter Edmund sowie sei­nen Groß­on­kel Max. In Peter Edels Roman „Die Bil­der des Zeu­gen Schattmann” und in sei­ner Auto­bio­gra­fie „Wenn es ans Leben geht” hat­te der Schrift­stel­ler Erin­ne­run­gen an sei­nen Groß­on­kel sowie Begeg­nun­gen und Gesprä­che im Fami­li­en­kreis für sich und die Nach­welt lite­ra­risch aufgearbeitet.

Ent­rech­tet und gede­mü­tigt starb Max Edel im März 1941 in Ber­lin. Sei­ne Ehe­frau Eva wur­de an ihrem 65. Geburts­tag, am 3. Okto­ber 1942, nach The­re­si­en­stadt depor­tiert, wo ihr Leben vier Wochen spä­ter zu Ende ging. Bei ihnen leb­te ihre Enke­lin Rose­ma­rie Noah. Sie wur­de als 18-Jäh­ri­ge im Novem­ber 1942 nach Ausch­witz depor­tiert und dort ermor­det. Ihrer Mut­ter Rose Mar­ga­re­te war im April 1939 die Aus­rei­se nach Groß­bri­tan­ni­en gelun­gen, mit der Hoff­nung auf ein bal­di­ges Wie­der­se­hen mit ihrer Toch­ter, die nach­kom­men soll­te. »Reichs­flucht­steu­er«, eine Viel­zahl gefor­der­ter Papie­re und der Kriegs­be­ginn ver­ei­tel­ten wie bei den Eltern Peter Edels wei­te­re Ausreisebemühungen.

Von Rose­ma­rie sind erschüt­tern­de Brie­fe an ihre Freun­din in Eng­land erhal­ten geblie­ben, in denen sie unter ande­rem den erzwun­ge­nen Ver­kauf von Mobi­li­ar ihrer Groß­mutter, die Reichs­po­grom­nacht und das Leben vor Kriegs­be­ginn schil­dert (Gud­run Mai­er­hof, Cha­na Schütz, Her­mann Simon (Hg.): »Aus Kin­dern wur­den Brie­fe. Die Ret­tung jüdi­scher Kin­der aus Nazi-Deutsch­land«, Metro­pol Ver­lag, Ber­lin 2004).

In Char­lot­ten­burg-Wil­mers­dorf wer­den in der Wit­tels­ba­cher Stra­ße 22 Stol­per­stei­ne an Max und Eva Edel sowie Rose­ma­rie Noah erinnern.

2018 wur­de eine wei­te­re Sei­te der Edel‘schen Fami­li­en­ge­schich­te geschrie­ben und doku­men­tiert. Nico­las Rou­zet, Dozent am Mar­seil­ler Don-Bos­co-Lyze­um, hat­te die Lek­tü­re von Anna Seg­hers »Tran­sit« zu Nach­for­schun­gen inspi­riert. Er wid­me­te sie dem Geden­ken an Robert Wolf­gang Edel, einen bis dato unbe­kann­ten Sohn Max Edels. Der pro­mo­vier­te Jurist emi­grier­te mit sei­ner Frau Frie­da 1933 nach Frank­reich, kämpf­te als Frem­den­le­gio­när in der fran­zö­si­schen Armee gegen die Wehr­macht, war im Wider­stand gegen die deut­sche Besat­zung und wur­de ver­haf­tet. Wann und wie sein Leben ende­te, ist unbekannt.

Zur Ver­wandt­schaft Peter Edels gehör­te auch die Fami­lie Strauß aus Heil­bronn. Deren Geschich­te hat vor allem Har­ro Jenss erforscht, der sich seit Jah­ren mit in Ver­ges­sen­heit gera­te­nen jüdi­schen Fami­li­en und Ärz­ten beschäf­tigt. So klär­te sich die fami­liä­re Ver­bin­dung von Eva Strauß als Ehe­frau von Max Leo­pold Edel. Sie hat­te ihren spä­te­ren Ehe­mann wahr­schein­lich durch ihre Brü­der, die bekann­ten Medi­zi­ner Her­mann und Josef Strauß, ken­nen und schät­zen gelernt.

Her­mann Strauß lei­te­te von 1910 bis 1942 die Abtei­lung für Inne­re Medi­zin des Jüdi­schen Kran­ken­hau­ses, in dem auch Ber­ta Reich­mann tätig war. 1918 war er in Aner­ken­nung sei­ner Ver­dien­ste um die Ein­rich­tung von zwei Laza­ret­ten im Ersten Welt­krieg zum Gehei­men Sani­täts­rat ernannt wor­den. Er war der Erfin­der der Strauß-Kanü­le, die bis heu­te für intra­ve­nö­se Behand­lun­gen ein­ge­setzt wird.

Her­mann Strauß und sei­ne Frau Elsa wur­den am 31. Juli 1942 nach The­re­si­en­stadt depor­tiert. Er wur­de dort ab Okto­ber Mit­glied des Älte­sten­ra­tes. 74-jäh­rig ver­mit­tel­te er sei­ne medi­zi­ni­schen Erfah­run­gen an die inhaf­tier­ten Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen sowie Kran­ken­schwe­stern. Am 17. Okto­ber 1944 starb Her­mann Strauß an den Fol­gen eines Herz­in­farkts. Sei­ne Frau erleb­te zwar die Befrei­ung, erlag aber am 13. Juni 1945 den ihr zuge­füg­ten Leiden.

In Ber­lin sind am Kur­für­sten­damm 184 seit 2011 Stol­per­stei­ne für Elsa und Her­mann Strauß sowie seit 2015 eine Gedenk­ta­fel zu fin­den. Sie gehen auf Har­ro Jenss und den Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Peter Rei­nicke zurück.

Ein hand­schrift­li­cher Bear­bei­tungs­ver­merk des Ent­schä­di­gungs­am­tes Ber­lin in den Unter­la­gen zu Lie­se­lot­te Hirsch­weh macht den Zeit­geist West im Mai 1955 deut­lich. Im Vor­druck »KONZEPT FÜR INHAFTIERUNGSBESCHEINIGUNG« steht wört­lich: Wur­de „ein­ge­lie­fert in das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger: …« Der Bear­bei­ter änder­te »ein­ge­lie­fert« in die Nazi-übli­che Bezeich­nung »eva­ku­iert«. Zu die­sem Zeit­punkt dürf­te selbst in Ber­lin-West bekannt gewe­sen sein, was Ausch­witz bedeutete.

Den heu­ti­gen Wer­ner-See­len­bin­der-Sport­park hat­te der Magi­strat am 29. Juli 1945 nach dem Deut­schen Mei­ster im Rin­gen und Olym­pia­teil­neh­mer 1936 benannt. See­len­bin­der hat­te jah­re­lang in Neu­kölln trai­niert. Er wur­de 1944 im Zucht­haus Bran­den­burg hin­ge­rich­tet. Als Peter Edel ins KZ Groß­bee­ren bei Ber­lin ein­ge­lie­fert wor­den war, begeg­ne­te er dort Wer­ner See­len­bin­der. Des­sen Hal­tung und die Gesprä­che mit ihm präg­ten den Schrift­stel­ler lebenslang.

Ber­ta Reich­mann und Lie­se­lot­te Hirsch­weh, Her­mann und Elsa Strauß, Max und Eva Edel, Robert Edel und Rose­ma­rie Noah, Peter Edel und Wer­ner See­len-bin­der – ver­bun­den in einem tra­gi­schen Kreis.

Im Rat­haus Neu­kölln wur­de am 27. Janu­ar 2020 wür­dig an den 75. Jah­res­tag der Befrei­ung des KZ Ausch­witz durch die Rote Armee erin­nert. Die Aus­stel­lung »Aus­ge­sto­ßen und ver­folgt – die jüdi­sche Bevöl­ke­rung wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus in Neu­kölln« zeig­te gleich­zei­tig Schick­sals­we­ge von Kin­dern, Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen, die als Jüdin­nen und Juden oder »Halb­ju­den« dif­fa­miert wur­den. Unter ihnen Lie­se­lot­te Hirsch­weh, die Ehe­frau Peter Edels. Schüler*innen des Wahl­pflicht­kur­ses Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten der Fritz-Kar­sen-Schu­le lasen Tex­te von Zeitzeug*innen, die mit Fotos vor­ge­stellt wurden.

Eine Ermu­ti­gung für die Zukunft.

 

Dem­nächst: »Brie­fe nach Lon­don«, »Wor­te eines Täters« und »Berei­che­rung«. Zu Peter Edel sie­he auch Hans-Jür­gen Nagels Bei­trag: »Peter Edel und die LTI der Gegen­wart«, Ossietzky 17/​2018. Zur Fami­lie Strauß sie­he: Har­ro Jenss: »Her­mann Strauß – Inter­nist, Wis­sen­schaft­ler in der Cha­ri­té und im Jüdi­schen Kran­ken­haus Ber­lin: Mit einem Bei­trag über Elsa Strauß«, Jüdi­sche Minia­tu­ren Bd. 95, Hen­trich & Hen­trich; 88 Sei­ten, 8,90 €; Her­mann Strauß »Auto­bio­gra­phi­sche Noti­zen und Auf­zeich­nun­gen aus dem Ghet­to The­re­si­en­stadt«, her­aus­ge­ge­ben von Har­ro Jenss und Peter Rei­nicke. Mit Anmer­kun­gen und einem Nach­wort von Har­ro Jenss und einem Vor­wort von Ire­ne Hall­mann-Strauß, Hen­trich & Hen­trich Ber­lin, 168 Sei­ten, 24,90 €