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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unterwegs in Dichters Lande

Aus Linz, der Lan­des­haupt­stadt von Ober­öster­reich, stam­men die Lin­zer Tor­te und der Opern­sän­ger Richard Tau­ber. Der Kom­po­nist Anton Bruck­ner hat in der Donau-Stadt sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen, Bruck­ner­haus und Bruck­ner­fest zeu­gen davon. Und Mari­an­ne Jung wur­de hier gebo­ren. Mari­an­ne Who?

Eine Ant­wort gibt uns das Stadt­ar­chiv, das auf ein Gebäu­de am Pfarr­platz 4 hin­weist, heu­te Sitz der Stadt­pfar­re Linz. Auf der lin­ken Sei­te des Tores zum Pfarr­hof befin­det sich eine Erin­ne­rungs­ta­fel an eben­die­se Mari­an­ne, mit ihrem Por­trät im Pro­fil. Die in anti­ki­sier­ten Ver­sa­li­en (V statt U) gra­vier­te Inschrift lautet:

AN DIESER STELLE STAND DER VEBERLIEFERVNG NACH DAS HAVS, IN DEM MARIANNE JVNG VEREHELICHTE VON WILLEMER, GOETHES SVLEIKA AM XX NOV 1784 GEBOREN WVRDE. DER GEBVRTSSTADT MARIANNENS VON DER GEBVURTSSTADT GOETHES GEWIDMET.

Da Gründ­lich­keit zur Zunft der Archi­va­re gehört, erfah­ren wir sogleich, dass an die­ser Stel­le nie ein Haus gestan­den hat und Mari­an­ne bei ihrer Geburt auch nicht den Namen Jung trug, son­dern Pirn­gru­ber hieß wie ihre Mut­ter. Die­se hei­ra­te­te erst vier Jah­re spä­ter den Namens­ge­ber Jung, Direk­tor einer Schauspielergruppe.

Tie­fer wol­len wir nicht in die Ver­äste­lun­gen vor­drin­gen. Für uns ist vor allem eines wich­tig, was auch der Anlass für die Erin­ne­rungs­ta­fel war: Aus Mari­an­ne, inzwi­schen in Frank­furt am Main lebend und ver­hei­ra­te­te von Wil­le­mer, wur­de, als sie 30 Jah­re alt war, durch die Macht der Lie­be und der Poe­sie die »Sulei­ka« in Johann Wolf­gang Goe­thes Spät­werk »West-öst­li­cher Divan«. Der 65-jäh­ri­ge, ihr innig ver­bun­de­ne Dich­ter ver­wan­del­te sich sei­ner­seits in »Hatem«.

Im Som­mer 1814 hat­te Goe­the vol­ler Begei­ste­rung den eini­ge Jah­re zuvor erst­mals aus dem Per­si­schen ins Deut­sche über­setz­ten »Diwan« gele­sen, im ara­bi­schen Raum eine Gat­tungs­be­zeich­nung für eine Samm­lung von Lie­dern und Gedich­ten. Ver­fas­ser war der aus der heu­ti­gen Mil­lio­nen­stadt Schi­ras im Süden Irans stam­men­de Lyri­ker Hafis (1320 – 1390), Leh­rer einer Koran-Schu­le, Mit­glied des Sufi-Ordens und Hof­dich­ter ver­schie­de­ner Für­sten, wie ich dem Goe­the-Lexi­kon von Metz­ler ent­neh­me. Ein mar­mor­nes Grab­mal erin­nert an den berühm­ten Dichter.

Von der Lek­tü­re fas­zi­niert und inspi­riert, begann Goe­the mit der Abfas­sung eige­ner Ver­se. So ent­stand in meh­re­ren Pha­sen haupt­säch­lich zwi­schen 1814 und 1819 ein dich­te­ri­scher Dia­log zwi­schen Ori­ent und Okzi­dent, der »West-öst­li­che Divan«.

Die lyri­sche Rei­se, »so innig ori­en­ta­lisch« (Goe­the), umfasst in mei­ner 12-bän­di­gen Goe­the-Aus­ga­be 128 Sei­ten. Sie besteht aus zwölf Tei­len, von Goe­the »Nameh« genannt, dem per­si­schen Wort für epi­sches Gedicht: Mogan­ni Nameh, Buch des Sän­gers; Hafis Nameh, Buch Hafis; Uschk Nameh, Buch der Lie­be und so wei­ter. Als ach­tes Buch dann, mit 30 Sei­ten alle ande­ren Tei­le hin­ter sich las­send und über­ra­gend, Sulei­ka Nameh, Buch Sulei­kas: das »kost­ba­re Zeug­nis« tie­fer »Zunei­gung des Dich­ters zu der schö­nen und kunst­sin­ni­gen Mari­an­ne von Wil­le­mer, die von der jun­gen Frau erwi­dert wur­de« (aus »Anmer­kun­gen« in der Goethe-Ausgabe).

In dem aus­führ­li­chen und umfang­rei­chen Kom­men­tar »Noten und Abhand­lun­gen«, den er sei­nem Werk hin­zu­füg­te, erwar­te­te Goe­the einen zukünf­ti­gen »Divan«, den »spä­te­re Gelehr­te und Dich­ter erstel­len werden«.

Zwei­hun­dert Jah­re spä­ter schrei­ben Bar­ba­ra Schwep­cke und Bill Swain­son als Her­aus­ge­ber in der Ein­lei­tung ihrer Samm­lung »Ein neu­er ›Divan‹ – Ein lyri­scher Dia­log zwi­schen Ost und West«: »Die­ser zukünf­ti­ge ›Divan‹ liegt nun hier vor.« Der nacht­blau gebun­de­ne Band ist 2019 aus Anlass des run­den Jubi­lä­ums der Erst­ver­öf­fent­li­chung des »West-öst­li­chen Divan« im Jah­re 1819 erschie­nen und zwar bei Ging­ko Libra­ry, Lon­don, und im Suhr­kamp Ver­lag, Berlin.

Im Vor­wort zur eng­li­schen Aus­ga­be schrieb der Pia­nist und Diri­gent Dani­el Baren­bo­im dazu (ich zitie­re aus dem deut­schen Vor­wort): »Die­se Neu­in­ter­pre­ta­ti­on von Goe­thes bedeu­ten­dem Werk gibt uns die Mög­lich­keit, uns erneut mit sei­nen Gedan­ken zu beschäf­ti­gen – was heu­te, ange­sichts des Zustands der Welt, drin­gend nötig ist.« Baren­bo­im hofft, dass das Werk »dabei hel­fen wird, Goe­thes Weis­heit an Men­schen über­all zu ver­mit­teln. Aus unse­rer eige­nen Erfah­rung wis­sen wir, wie mäch­tig die­se Weis­heit sein kann.«

Die Her­aus­ge­ber erläu­tern ihre Vor­ge­hens­wei­se im Vor­wort: »Um die­sen lyri­schen Dia­log im Anschluss an Goe­the zu ermög­li­chen, beauf­trag­ten wir 24 Dich­ter, Gedich­te als Ant­wor­ten auf die The­men der zwölf Bücher von Goe­thes ursprüng­li­chem ›Divan‹ zu schrei­ben. Die zwölf Lyri­ker aus dem ›Osten‹ schrei­ben auf Ara­bisch, Per­sisch und Tür­kisch, die­je­ni­gen aus dem ›Westen‹ auf Eng­lisch, Fran­zö­sisch, Deutsch, Ita­lie­nisch, Por­tu­gie­sisch, Rus­sisch, Slo­we­nisch und Spa­nisch.« Die Dich­ter soll­ten sich ange­regt füh­len, »sich mit einer ande­ren Poe­sie und Kul­tur als ihrer eige­nen aus­ein­an­der­zu­set­zen, sich neu­en Ein­flüs­sen und Erfah­run­gen zu öffnen«.

Um nach dem Erschei­nen der eng­li­schen Aus­ga­be eine deut­sche Fas­sung zu erstel­len, wur­den nicht ein­fach die eng­li­schen Tex­te ins Deut­sche über­setzt. In Zusam­men­ar­beit mit dem Suhr­kamp Ver­lag beauf­trag­ten die Her­aus­ge­ber 21 deutsch­spra­chi­ge Dich­te­rin­nen und Dich­ter – unter ande­rem Nora Bos­song, Elke Erb, Ulri­ke Draes­ner, Durs Grün­bein, Mari­on Posch­mann, Moni­ka Rin­ck, Raoul Schrott, Lutz Sei­ler, Jan Wag­ner –, eige­ne Über­tra­gun­gen der Ori­gi­nal­ge­dich­te ins Deut­sche zu erstel­len. Ihnen stan­den vier erfah­re­ne Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer mit wört­li­chen Inter­li­ne­ar­über­set­zun­gen zur Sei­te. Vier Essays über dich­te­ri­sche »Divan«-Echos seit der Erst­ver­öf­fent­li­chung, über »Goe­the und ›der Osten‹ von heu­te«, über die neu­en Auf­ga­ben des Über­set­zers und »Wie Per­si­en nach Deutsch­land kam« run­den den wun­der­schö­nen Band ab.

Der neue »Divan« beginnt wie sein gro­ßes Vor­bild mit dem »Buch des Sän­gers«. Der »Brief an Goe­the« des 90-jäh­ri­gen syri­schen Lyri­kers Ado­nis, von Lutz Sei­ler nach­ge­dich­tet nach einer Inter­li­ne­ar­über­set­zung aus dem Ara­bi­schen von Ste­fan Weid­ner, eröff­net den poe­ti­schen Rei­gen. Ehren wir die­sen »gro­ßen alten Mei­ster der Poe­sie, des Säku­la­ris­mus und der frei­en Mei­nungs­äu­ße­rung in der ara­bi­schen Welt«, stim­men wir uns ein auf lyri­sche Musik:

»Der Westen liegt hin­ter Dir, aber der Osten nicht vor mir. /​ Zwei Ufer eines ein­zi­gen Flus­ses, /​ der tie­fer strömt als jeder Abgrund /​ und stär­ker trennt als jeder Fels. /…Die Mythen sind ver­wun­det, im Osten wie im Westen /​ und ich bin nur das Blut, /​ das abtropft.«

Kein rea­les Lie­bes­paar führt in dem »neu­en Divan« die Feder, im Buch Sulei­ka sind nur zwei Gedich­te zu fin­den. »Der kar­me­sin­ro­te Schat­ten« der 1962 in Dubai gebo­re­nen Nujoom Alghanem, einer in der ara­bi­schen Welt bekann­ten Fil­me­ma­che­rin und Schrift­stel­le­rin, lässt immer­hin Hatem und Sulei­ka zu Wort kom­men. Getrennt und fern von­ein­an­der ist ihre Lie­bes­kla­ge zum Stei­ner­wei­chen. Die Nach­dich­tung kommt von Danie­la Seel, Dich­te­rin und Ver­le­ge­rin, die Inter­li­ne­ar­über­set­zung aus dem Ara­bi­schen eben­falls von Ste­fan Weid­ner. Raoul Schrott, 1964 in Öster­reich gebo­re­ner Autor zahl­rei­cher Gedicht­bän­de, Roma­ne und Essays, ver­setzt in »Sulei­ka spricht« sei­ne Prot­ago­ni­stin in die Gegen­wart: Eine zusam­men mit dem Vater als Kind aus der ira­ni­schen Groß­stadt Schi­ras nach Deutsch­land geflo­he­ne jun­ge Frau reflek­tiert ihr Hier­sein: » … ein leben ist nur zu füh­ren wenn man sich nicht selbst vermisst/​aber das ist leicht gesagt in die­sem frankenhausen.«

Und was hät­te Goe­the zu die­sem neu­en »Divan« ange­merkt? Viel­leicht hät­te er fol­gen­den Vers zitiert, mit dem der Nach­lass zu sei­nem »Divan« beginnt: »Wer das Dich­ten will ver­ste­hen /​ Muss ins Land der Dich­tung gehen; /​ Wer den Dich­ter will ver­ste­hen, /​ Muss in Dich­ters Lan­de gehen.«

Wohl­an, lie­be Lese­rin, lie­ber Leser, fol­gen Sie der Aufforderung.

Nach­trag: Es gibt ein Bon­mot unbe­kann­ter Her­kunft, das da lau­tet: Hin­ter jedem erfolg­rei­chen Mann steht eine Frau. Hin­ter jeder erfolg­rei­chen Frau steht ein Mann, der sie zurück­hält. Ein Para­de­bei­spiel dafür ist der Lie­bes­dia­log zwi­schen Sulei­ka und Hatem, denn: Mari­an­ne »ist nicht nur die gelieb­te und in der Dich­tung besun­ge­ne Frau, sie ist auch die Autorin eini­ger Gedich­te, die zu den besten des ›Divan‹ zäh­len« (Clau­dio Magris, Essay zur Etap­pe Linz in sei­nem ful­mi­nan­ten Rei­se­be­richt »Donau«). Die Gedich­te mit den Anfän­gen »Hoch­be­glückt in dei­ner Lie­be…«, »Was bedeu­tet die Bewe­gung?«, »Ach, um dei­ne feuch­ten Schwin­gen…« stam­men von Mari­an­ne und wur­den von dem Patri­ar­chen Goe­the ver­ein­nahmt, ein­fach so. Noch ein­mal Magris: »Ihre weni­gen Ver­se gehö­ren zu den größ­ten, die je geschrie­ben wur­den, und doch genügt dies nicht, Mari­an­ne Wil­le­mer Ein­lass in die Lite­ra­tur­ge­schich­te zu ver­schaf­fen, trotz der Beach­tung, die ihr scharf­sin­ni­ge Gelehr­te zuteil­wer­den ließen.«

Immer­hin: Ossietzky ließ ihr Gerech­tig­keit widerfahren.

 

Bar­ba­ra Schwep­cke, Bill Swain­son: »Ein neu­er Divan«, Suhr­kamp Ver­lag, 225 Sei­ten, 30 €