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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit zweierlei Maß gemessen

Die kolo­nia­le Erin­ne­rung und die Historie

Als Wis­sen­schaft­ler, der sich Zeit sei­nes Berufs­le­bens mit der Geschich­te des Kolo­nia­lis­mus beschäf­tigt hat, erfüllt mich eine gewis­se Genug­tu­ung, dass aktu­ell der Dis­kurs über die deut­sche kolo­nia­le Ver­gan­gen­heit in der Mit­te der Gesell­schaft ange­kom­men zu sein scheint. Aller­or­ten gibt es Dis­kus­sio­nen und zuwei­len auch dar­aus ent­stan­de­ne prak­ti­sche Schluss­fol­ge­run­gen. Kolo­ni­al­herr­schaft war immer Unrecht, tief ras­si­stisch; sie basier­te zumeist auf Gewalt und Aus­beu­tung. Wenn sich Men­schen dage­gen wen­den und auf­klä­re­risch wir­ken wol­len, kann man das nur begrü­ßen. Denn auch Deutsch­land hat sei­ne Spu­ren als Kolo­ni­al­macht von 1884/​85 bis 1918/​19 in Afri­ka, in Chi­na und in der Süd­see hinterlassen.

Auf­fal­lend dabei ist, dass die kolo­nia­len Erin­ne­run­gen nicht nur bei lin­ken poli­ti­schen Kräf­ten für Debat­ten sor­gen, son­dern dass die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Kolo­nia­lis­mus und sei­nen Fol­gen auch im bür­ger­li­chen bis kon­ser­va­ti­ven Lager ange­kom­men ist. Die man­nig­fal­ti­gen Dis­kus­sio­nen in der Pres­se und die Viel­zahl von hier­zu geschrie­be­nen Büchern jün­ge­ren Datums zeu­gen davon.

Nur in einem Fall ver­ges­sen die Kolo­ni­al­kri­ti­ker in Deutsch­land – aber ver­mut­lich nicht nur hier – anschei­nend, dass die Zeit der Ver­herr­li­chung oder ver­ba­len Ver­tei­di­gung des Kolo­nia­lis­mus vor­bei ist. Nicht bei der Auf­ar­bei­tung der Kolo­ni­al­ge­schich­te, wie eini­ge mei­nen, exi­stiert in der deut­schen Gesell­schaft eine Amne­sie, son­dern die­se herrscht bei der Auf­ar­bei­tung der Zeit, die der direk­ten Kolo­ni­al­herr­schaft folg­te und häu­fig als Neo­ko­lo­nia­lis­mus bezeich­net wird. Denn die kolo­nia­len Struk­tu­ren aus dem Zeit­al­ter der direk­ten Kolo­ni­al­herr­schaft sind bis heu­te in den ver­schie­den­sten For­men an vie­len Stel­len noch vor­han­den und brin­gen trotz des Getö­ses über Ent­wick­lungs­hil­fe kaum öko­no­mi­schen Fort­schritt für die ehe­mals kolo­ni­sier­ten Völ­ker. Bekannt­lich pro­fi­tie­ren davon – neben eini­gen kor­rup­ten Poli­ti­kern in Afri­ka – die Bewoh­ner Euro­pas und die der mei­sten Län­der des glo­ba­len Nor­dens. Wie man das nach­hal­tig ändern könn­te, wird kaum in den post­ko­lo­nia­len Dis­kur­sen thematisiert.

 

Selek­ti­ve Erinnerungen

Blicken wir ein­mal weg vom afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent – an den wohl jeder zuerst denkt, wenn er den Begriff Kolo­nia­lis­mus hört. Asi­en gehör­te eben­falls zu den ehe­mals von euro­päi­schen Staa­ten kolo­ni­sier­ten Regio­nen. Im Pro­zess der Deko­lo­ni­sa­ti­on haben sie sich im Ver­lau­fe des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts mit unter­schied­li­chen For­men und Metho­den den Weg in die Frei­heit erkämpft. Und zu unter­schied­li­chen Zeiten.

Zu den letz­ten Kolo­ni­al­ge­bie­ten Euro­pas in Asi­en gehör­te Hong­kong. Wäh­rend des ersten Opi­um­krie­ges 1841 wur­de die Stadt von den Bri­ten besetzt und zur Kron­ko­lo­nie gemacht, selbst­ver­ständ­lich ohne Zustim­mung der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung. In Chi­na wird jene Zeit als das »Jahr­hun­dert der Ernied­ri­gung« bezeich­net. Als eines der letz­ten Kolo­ni­al­ge­bie­te gelang es nach lang­wie­ri­gen Debat­ten mit der chi­ne­si­schen Staats­füh­rung, im Jah­re 1997 Hong­kong an die Volks­re­pu­blik Chi­na zu über­ge­ben. Das war ein diplo­ma­tisch aus­ge­han­del­ter schwie­ri­ger Weg, um Gerech­tig­keit herzustellen.

Man­che hie­si­ge Debat­tie­rer wol­len dies nicht ver­ste­hen. Dabei brauch­te man nur die Fra­ge zu stel­len, wie Groß­bri­tan­ni­en und/​oder die ande­ren Kolo­ni­al­mäch­te wohl reagiert hät­ten, wenn in der Hoch­zeit des Kolo­nia­lis­mus chi­ne­si­sche Schif­fe vor den eng­li­schen Inseln auf­ge­taucht wären und die Her­aus­ga­be eines der Eilan­de erzwun­gen hätten.

Seit 1997 ist die heu­te etwa 7,5 Mil­lio­nen Ein­woh­ner, davon 96 Pro­zent Chi­ne­sen, zäh­len­de, etwa 1,1 Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ße Stadt Hong­kong eine chi­ne­si­sche Son­der­ver­wal­tungs­zo­ne unter Bei­be­hal­tung einer »frei­en Markt­wirt­schaft« und weit­ge­hen­der inne­rer Auto­no­mie, jeden­falls für min­de­stens 50 Jah­re – seit Ver­trags­be­ginn! Das war eine beson­de­re Form der Abga­be eines kolo­nia­len Gebie­tes im Deko­lo­ni­sie­rungs­pro­zess durch die größ­te euro­päi­sche Kolonialmacht.

Zu Pro­te­sten von Tei­len der Hong­kon­ger Bevöl­ke­rung kam es in den letz­ten Mona­ten nach dem Beschluss der chi­ne­si­schen Regie­rung in Peking, ein Sicher­heits­ge­setz für Hong­kong zu ver­ab­schie­den. Schon im ver­gan­ge­nen Jahr hat­te es Demon­stra­tio­nen gege­ben, die jedoch durch die Coro­na-Kri­se vor­über­ge­hend ein­ge­dämmt wor­den waren und nun wie­der auf­flamm­ten. Das in Peking ver­ab­schie­de­te Gesetz soll »Sepa­ra­tis­mus« und »Auf­ruhr« in der Son­der­ver­wal­tungs­zo­ne bekämp­fen. Not­wen­dig sei dies gewor­den, so heißt es vom Außen­mi­ni­ste­ri­um in Peking, weil Pro­te­ste und Kra­wal­le im ver­gan­ge­nen Jahr »Chi­nas natio­na­le Sicher­heit ernst­haft gefähr­det« hätten.

Das wird von US-Prä­si­dent Trump bestrit­ten, denn er ist bekannt­lich immer bestens infor­miert. Die­ses Mal fol­gen ihm – end­lich ein­mal wie­der in Vasal­len­treue – die NATO-Verbündeten.

In jeder ehe­ma­li­gen euro­päi­schen Kolo­nie, die die natio­na­le Unab­hän­gig­keit errang, gab es Bewoh­ner, die aus den ver­schie­den­sten Grün­den den abzie­hen­den Kolo­ni­al­her­ren nach­trau­er­ten. Denn es gab ein­hei­mi­sche Pro­fi­teu­re, vor­nehm­lich aus den Eli­ten, die ihre Herr­schaft durch die kolo­nia­le Macht hat­ten absi­chern las­sen, und so manch ande­re, die, aus wel­chen Grün­den auch immer, sich den euro­päi­schen Kolo­ni­al­her­ren ange­dient hatten.

So ist es auch in Hong­kong. Die­je­ni­gen, die von der ehe­ma­li­gen Kolo­ni­al­macht Groß­bri­tan­ni­en begün­stigt waren oder durch deren Unter­stüt­zung zum Bestand­teil der inter­na­tio­na­len Hoch­fi­nanz wur­den, mit all ihren Hel­fern, Pro­fi­teu­ren, Cla­queu­ren, Teil­ha­bern an den gewal­ti­gen Finanz­ge­schäf­ten, haben natür­lich Angst vor der ablau­fen­den Zeit des Über­gangs­sta­tus als soge­nann­te Son­der­ver­wal­tungs­zo­ne. Selbst­ver­ständ­lich geht kaum jemand von den »gesit­te­ten« älte­ren Hong­kon­ger Bür­gern auf die Stra­ße, um zu demon­strie­ren. Den Kra­wall bis hin zu Angrif­fen auf Poli­zi­sten, Plün­de­run­gen, Stra­ßen­blocka­den, unan­ge­mel­de­ten Demon­stra­tio­nen (die in wohl fast allen Län­dern ver­bo­ten sind) bis hin zu offe­ner Gewalt über­neh­men jun­ge Leu­te, die es sich ver­mut­lich mit­hil­fe der Finanz­kraft ihrer Eltern bis­her erlau­ben konn­ten, in der Stadt mit den welt­weit höch­sten Lebens­hal­tungs­ko­sten nicht schlecht zu leben. Durch die neue Gesetz­ge­bung der Pekin­ger Zen­tral­re­gie­rung sehen sie ihre Pri­vi­le­gi­en gegen­über der Mehr­heit der chi­ne­si­schen Bevöl­ke­rung in Gefahr, denn im Jah­re 2047 lau­fen die Über­gangs­re­ge­lun­gen, die unter ande­rem eine eige­ne Justiz und ein rela­tiv auto­no­mes Han­deln nach innen ermög­lich­ten, aus. Die bis­her Pri­vi­le­gier­ten bekom­men, ob berech­tigt oder nicht, sozia­le Ängste.

Deut­sche Poli­ti­ker für kolo­nia­le Verhältnisse

In der deut­schen Pres­se und im Fern­se­hen wer­den die Ran­da­lie­rer – die alte kolo­nia­le Struk­tu­ren erhal­ten wol­len – »Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger« und »Pro-Demo­kra­ten« genannt. Sie sind also kei­ne Demo­kra­ten, son­dern nur »pro«, also »für« Demo­kra­tie. Bele­ge dafür wer­den nicht gebo­ten. Die Zei­tung Die Welt mein­te zu wis­sen, dass in Hong­kong West­ber­lin vor dem Mau­er­fall erkannt wer­den kön­ne (Klaus Gei­ger: »Hong­kong geht uns nichts an? Hong­kong ist West-Ber­lin«, in: Die Welt, 25.5.2020). Mei­nen die Redak­teu­re ernst­haft, dass Chi­na dem Wirt­schafts­sy­stem Hong­kongs ange­schlos­sen wer­den soll­te, wie die DDR vor drei­ßig Jah­ren dem­je­ni­gen West­ber­lins (und der Bundesrepublik)?

Das Ziel der »pro-demo­kra­ti­schen« Kräf­te ist vor­der­grün­dig eine Auto­no­mie, also eine For­de­rung, die gegen­über der abzie­hen­den bri­ti­schen Kolo­ni­al­macht nur tem­po­rär zuge­sagt wor­den ist. Die Pro­te­stie­rer stel­len also ein­deu­tig die völ­ker­recht­lich ver­ein­bar­ten Rege­lun­gen infra­ge, letzt­lich im Inter­es­se der ehe­ma­li­gen Kolo­ni­al­macht und ihrer Ver­bün­de­ten in NATO, EU und G7-Gruppe.

Dass Peking ange­sichts die­ser Ent­wick­lung Gegen­maß­nah­men ergreift, soll­te nicht ver­wun­dern. Zum post­ko­lo­nia­len Zeit­al­ter gehört auch ein gewach­se­nes Bewusst­sein der eige­nen Kraft. Die Euro­pä­er – die jahr­zehn­te­lang das chi­ne­si­sche Volk unter­drückt haben – wären gut bera­ten, wenn sie die ter­ri­to­ria­le Inte­gri­tät Chi­nas, wozu auch Hong­kong gehört, aner­ken­nen wür­den. Chi­na ist eine der weni­gen ehe­ma­li­gen euro­päi­schen Kolo­nien, die über die Mit­tel ver­fü­gen, ent­spre­chen­de Angrif­fe hier­auf abzu­weh­ren. Nicht unbe­rech­tigt warn­te kürz­lich der chi­ne­si­sche Außen­mi­ni­ster Wang Yi ange­sichts der neo­ko­lo­nia­len Hal­tun­gen und Äuße­run­gen von Poli­ti­kern der­je­ni­gen west­eu­ro­päi­schen Staa­ten, die sein Land vor­mals aus­ge­beu­tet und unter­drückt hat­ten, sowie der USA, die Chi­na im 19. Jahr­hun­dert als Halb­ko­lo­nie betrach­te­ten und Sol­da­ten dort­hin schick­ten, vor der Gefahr eines neu­en Kal­ten Krieges.

In alter kolo­nia­ler Manier kri­ti­sie­ren gegen­wär­ti­ge EU-Poli­ti­ker wie der Vor­sit­zen­de des Aus­wär­ti­gen Aus­schus­ses im EU-Par­la­ment David McAl­li­ster (CDU) oder der grü­ne Euro­pa-Abge­ord­ne­te Rein­hard Büti­ko­fer die Poli­tik Pekings. Auch die alte Kolo­ni­al­macht Frank­reich sieht in dem neu­en Gesetz eine »Bedro­hung der inter­na­tio­na­len Ordnung«.

Was wür­den die­se Poli­ti­ker wohl sagen, wenn sich chi­ne­si­sche Par­la­men­ta­ri­er dar­über echauf­fier­ten, was in Euro­pa, in Deutsch­land pas­siert – etwa die Ungleich­be­hand­lung eines Bevöl­ke­rungs­teils, näm­lich der Ost­deut­schen, gegen­über der Bevöl­ke­rungs­ma­jo­ri­tät, den West­deut­schen. Und die Chi­ne­sen hät­ten nicht ein­mal die Last einer kolo­nia­len Ver­gan­gen­heit mit sich herumzuschleppen.

Wo bleibt der Auf­schrei der Postkolonialisten