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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von China lernen

Über Chi­na und die chi­ne­si­sche Poli­tik gehen die Mei­nun­gen aus­ein­an­der. Robert Fitzth­ums Sach­buch lie­fert leben­di­ge Fak­ten und bezieht Posi­tio­nen, auf deren Basis die Lese­rin­nen und Leser sich ein eige­nes Urteil zu bil­den ver­mö­gen. Aller­dings lässt das im Buch­ti­tel ange­leg­te Framing »Erfolg­rei­ches Chi­na« befürch­ten, dass nur jene das Buch kau­fen und lesen wer­den, die vom Erfolg Chi­nas bereits über­zeugt sind. Doch gera­de die Skep­ti­schen müss­ten zugrei­fen. um ihr trü­bes, euro­pa­zen­trier­tes China­bild aufzufrischen.

Der Autor des Buches lebt seit 2013 in der Volks­re­pu­blik Chi­na – im süd­chi­ne­si­schen Nan­ning – und beob­ach­tet von dort aus die welt­po­li­ti­schen und loka­len Ent­wick­lun­gen. Zuvor hat er, nach einem Stu­di­um der Sozi­al- und Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten in Wien, als IT-Mana­ger und Per­so­nal­chef bei ver­schie­de­nen Ban­ken gear­bei­tet und Unter­neh­men beraten.

Sein Chi­na-Buch umfasst eine Ein­lei­tung über die Ver­bes­se­rung der Lebens­ver­hält­nis­se der chi­ne­si­schen Bevöl­ke­rung sowie vier Tei­le: jeweils ein Kapi­tel über den Weg des Lan­des aus der Armut, über die Maß­nah­men zur Ver­bes­se­rung von Umwelt und Kli­ma sowie über das Zukunfts-Kon­zept der Urba­ni­sie­rung. Das abschlie­ßen­de Kapi­tel ent­hält Inter­view-Ant­wor­ten von Pro­fes­sor Zhang Wei­wei (Shang­hai) auf Fitzth­ums Fra­ge: »Wie konn­te Chi­na die­se Erfol­ge erzielen?«

Zhangs Ant­wor­ten geben einen aus­ge­zeich­ne­ten Ein­blick: einer­seits hin­sicht­lich der Merk­ma­le der chi­ne­si­schen Ent­wick­lung (Bezug zur Lebens­wirk­lich­keit, Pra­xis­ori­en­tie­rung, kon­ti­nu­ier­li­ches Expe­ri­men­tie­ren und ste­te Ver­bes­se­run­gen durch Offen­le­gen der Schwach­stel­len) und ande­rer­seits bezüg­lich des Ver­hält­nis­ses von kul­tu­rel­ler Tra­di­ti­on, Mar­xis­mus und Kom­mu­ni­sti­scher Par­tei. Dabei wer­den neben den Kri­te­ri­en der sorg­fäl­ti­gen Rekru­tie­rung der Par­tei­mit­glie­der und Kader (»Füh­rungs­kräf­te«) auch die System­schwä­chen in Gestalt des Büro­kra­tis­mus angesprochen.

Die selbst­re­fle­xi­ve Hal­tung der chi­ne­si­schen Poli­tik und ihr syste­ma­ti­sches Vor­ge­hen kom­men sehr über­zeu­gend zur Gel­tung in einer 40-sei­ti­gen Stel­lung­nah­me des Mini­ste­ri­ums für Öko­lo­gie und Umwelt zu Fra­gen der zukünf­ti­gen Ent­wick­lung von Ener­gie und Umwelt. Die wört­li­che Über­nah­me der Stel­lung­nah­me in das Buch ist ein Gewinn, weil dar­in die kla­ren Prä­mis­sen der chi­ne­si­schen Umwelt­po­li­tik und die Schrit­te ihrer Umset­zung anschau­lich zur Gel­tung kom­men, ohne dass sich der Ein­druck von poli­ti­schen Wort­bla­sen aufdrängt.

Ein wei­te­res Inter­view, das Fitzt­hum mit dem Stell­ver­tre­ten­den Bür­ger­mei­ster von Shen­zhen geführt hat, the­ma­ti­siert auf zehn Sei­ten den »Auf­bau der Smart City Shen­zhen«. Bei der Lek­tü­re kamen dem Rezen­sen­ten aller­dings Zwei­fel, ob der digi­tal­tech­no­lo­gi­sche Opti­mis­mus des chi­ne­si­schen Gesprächs­part­ners nicht viel zu sehr die kri­ti­schen Sei­ten der »Vier­ten Indu­stri­el­len Revo­lu­ti­on« ausblendet.

Die­ser Ein­wand ergibt sich nicht zuletzt ange­sichts der beden­ken­lo­sen Adap­ti­on chi­ne­si­scher Coro­na-Maß­nah­men im Westen. Am Bei­spiel der west­li­chen Kopie des chi­ne­si­schen Vor­ge­hens in Wuhan lässt sich erken­nen, dass Chi­na nicht unbe­dingt als Vor­bild taugt, wenn digi­tal­tech­no­lo­gi­sche Neue­run­gen imple­men­tiert wer­den. Umge­kehrt erscheint es mir zwie­späl­tig, wenn bei der Über­set­zung aus dem Chi­ne­si­schen die west­li­che Ter­mi­no­lo­gie (»Smart City«, »Gover­nan­ce«, »Intel­li­gent Brain«) ver­wen­det wird. Jeden­falls stellt sich die Fra­ge, ob dadurch nicht irre­füh­ren­de Kon­ver­gen­zen auf­schei­nen, wel­che sowohl die Beson­der­hei­ten des chi­ne­si­schen sozia­li­sti­schen Weges als auch die der „nazi-libe­ra­len Seu­che« (Fran­co »Bifo« Berar­di) des Reset-Kapi­ta­lis­mus ausblenden.

Frei und befreit von der­lei Beden­ken liest sich das 1. Kapi­tel: »Der Weg aus der Armut«. Die Befrei­ung aus der Armut ruht in der VR Chi­na auf vier Säu­len: auf der Idee der »Volks­wohl­fahrt«, der poli­ti­schen Ent­schlos­sen­heit zu han­deln, einem umfas­sen­den Akti­ons-Manage­ment zur Umset­zung sowie auf der Bereit­stel­lung von finan­zi­el­len Mit­teln im erfor­der­li­chen Umfang. Wer die­ses Kapi­tel liest, erkennt auf Anhieb, dass das chi­ne­si­sche Kon­zept eben­so wie das orga­ni­sa­to­ri­sche und metho­di­sche Vor­ge­hen zur Befrei­ung aus der Armut grund­ver­schie­den sind vom »Kampf gegen die Armut«, wie er hier­zu­lan­de erfolg­los geführt wird und auf Kosten der Armuts­be­völ­ke­rung in Nie­der­la­gen endet; sie­he Obdach­lo­sig­keit, Kin­der­ar­mut, Woh­nungs­not, Arbeits­lo­sig­keit, Hartz IV und Alters­ar­mut. Das Kapi­tel wird jede/​n begei­stern (und ange­sichts der hie­si­gen Armuts­be­kämp­fung zugleich ver­zwei­feln las­sen), die oder der sich bei uns die Befrei­ung aus Armut zur Auf­ga­be macht.

Robert Fitzt­hum: »Erfolg­rei­ches Chi­na. Die Fak­ten zur Befrei­ung aus der Armut, zur grü­nen Umge­stal­tung und zu men­schen­ge­rech­ten Städ­ten der Zukunft«, Ber­lin 2021, Gold­egg Ver­lag, 292 S., 24 €.