Als der Verleger Stefan Weidle vor zwei Jahren 65 wurde, gratulierte ihm sein Verleger-Freund Thedel von Wallmoden vom Wallstein Verlag in Göttingen mit den Worten, Weidle habe »maßgeblich an dem Projekt mitgeschrieben, verfolgte und vertriebene Autoren und Bücher wieder zu den deutschen Lesern zu bringen«. Aber auch »Entdeckerfreude in anderen Literaturen« treibe »diesen Kulturverleger« um (Online-Magazin BuchMarkt, 16. Februar 2018).
Ich habe schon einige der Buch-Entdeckungen aus dem Weidle Verlag, Bonn, in Ossietzky vorgestellt, heute kommen zwei weitere hinzu, die beispielhaft für die beiden Kategorien stehen.
Da ist zum einen »Die Frau ohne Reue«, der letzte von fünf Romanen des Arztes und Schriftstellers Max Mohr, zuerst 1933 im S. Fischer Verlag erschienen. Geschildert wird der Ausbruch einer Frau aus ihrem großbürgerlichen Leben als Ehefrau und Mutter, von einem Augenblick auf den anderen, und die gemeinsame Flucht mit ihrem spontan gefundenen Geliebten in die Ostalpen, auf einen Bauernhof.
Zitat aus dem Klappentext von 1933: »Mohrs Menschen … folgen auf ihren Wegen einem Drang aus dem Unbewußten. Es ist die Angst, das Gefühl des Abgeschnittenseins, das aus der Ebbe, dem Leersein der Welt kommt, was sie auf rastlose Wanderungen treibt.«
Hat sich in all den Jahren viel geändert?
Max Mohr, 1891 in Würzburg geboren, wanderte 1934 nach Shanghai aus. Als Jude hatte er in seinem Geburtsland keine Lebensgrundlage mehr, weder als Schriftsteller noch als Arzt. Tagsüber arbeitete er in seiner Praxis, nachts schrieb er, »zwischen Cholera und Lepra« (Brief an Thomas Mann, zitiert aus der »Biographischen Skizze« von Roland Flade, die zusammen mit dem Nachwort von Stefan Weidle das Buch beschließt). Mohr starb 1937 an einem Herzinfarkt.
Wie so mancher Schriftsteller aus jener unwirtlichen Zeit blieb auch Max Mohr in Deutschland lange Zeit vergessen, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Erst zu seinem 100. Geburtstag erinnerte sich seine Geburtsstadt an ihn. Im Frühjahr 2020 wollte die Arbeitsgemeinschaft »Würzburg liest ein Buch« den Autor und sein Werk wieder ins Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger der Stadt am Main und der Region bringen, unter der Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Christian Schuchardt und Josef Schuster, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Würzburg und Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Doch dann kam Corona. Lockdown. Jetzt soll das Vorhaben vom 22. April bis 2. Mai 2021 nachgeholt werden. Aber auch davor und danach finden Veranstaltungen zu Max Mohr und der Aktualität seines Romans über eine Frau »auf der Suche nach Liebe, Freiheit und Selbstständigkeit« statt. Näheres unter wuerzburg-liest.de.
Und noch einmal Corona. Pressemitteilung: »Der für 2020 geplante physische Ehrengastauftritt Kanadas auf der Frankfurter Buchmesse (14. – 18. Oktober) wird auf 2021 verschoben.« Und noch einmal betroffen: der Weidle Verlag. Dieser hatte den Roman »Nächtliche Erzählungen« des 1975 in Lomé, Togo, geborenen und in Kanada in der Nähe von Ottawa lebenden Schriftstellers Edem Awumey als seinen Beitrag zum Gastlandauftritt Kanadas konzipiert. Doch der Antrag des Verlags auf Übersetzungsförderung des PEN-America-Mitglieds wurde vom Canada Council for the Arts abgelehnt, der Autor nicht nach Frankfurt eingeladen und wird es auch nächstes Jahr nicht, wie der Verleger schreibt: »Die Gründe kennen wir nicht, vermutlich sind sie politischer Natur.«
Der vierte Roman des Schriftstellers und der erste in deutscher Übersetzung, die Stefan Weidle persönlich aus dem Französischen besorgte, beschreibt, was im afrikanischen Heimatland der Hauptfigur geschehen ist, wo ein Diktator Angst hat, zuerst vor Studenten, die Flugblätter mit Zitaten Samuel Becketts verteilen, dann vor den Alten, denen er Zauberkräfte unterstellt. Im Straflager liest der junge Student dem alten blinden Mitgefangenen im Schein einer gestohlenen Petroleumlampe nachts aus Werken der Weltliteratur vor, und so »finden sie gemeinsam in eine Zone, in der ihnen niemand etwas anhaben kann«. Nach dem Zusammenbruch des ungenannten Staates kommt der Student frei und erhält ein Arbeitsstipendium in Kanada, wo er bleibt. Wie der Autor.
Max Mohr: »Frau ohne Reue«, 221 Seiten, 14 €; Edem Awumey: »Nächtliche Erklärungen«, 208 Seiten, 22 €, beide Weidle Verlag