Angela Merkel als Bundeskanzlerin ist ein erstaunliches Phänomen – so empfinden es viele im In- und Ausland. Doch Merkel polarisiert in zunehmendem Maße – sie wird »geliebt«, wie etwa von dem Schriftsteller Martin Walser, wird international hoch geachtet, aber auch heftig kritisiert und von manchen abgrundtief gehasst, wie von Pegida- und AfD-Anhängern. Ihr bedächtiger, vermittelnder, unaufdringlicher Regierungsstil, den sie als Kanzlerin pflegt, lullt das Land immer wieder ein, verdeckt die enormen Probleme, die sich längst aufgetürmt haben, was viele Menschen zu Recht erzürnt. Merkel und die Große Koalition werden ein Land im Reformstau hinterlassen.
Stephan Hebel, der Autor des vorliegenden Buches, ist kein Fan der CDU-Politikerin. Er geht nüchtern an sein Thema heran und liefert eine kritische und lesenswerte Bilanz ihrer Kanzlerschaft. Als langjähriger Leitartikler, Kommentator und politischer Autor, unter anderem der Frankfurter Rundschau und des Deutschlandradios, hat er sich häufig mit der Politik Merkels auseinandergesetzt und herumschlagen müssen. Und er hat ihr bereits zwei Bücher gewidmet – zuletzt: »Mutter Blamage und die Brandstifter. Das Versagen der Angela Merkel – warum Deutschland eine echte Alternative braucht« (2017).
Inzwischen hat Merkel ihren Rückzug aus der Politik angekündigt. Jetzt legt Merkel-Experte Stephan Hebel noch einmal bilanzierend nach. Und er kommt zu der Einsicht, dass zwar nicht alles schlecht war an der Politik der CDU-Kanzlerin und dass sie auch nicht für alle Übel der Nation verantwortlich gemacht werden kann – doch, so Hebel, »sie war und ist eine Politikerin, die es in 13 Jahren Kanzlerschaft auf entscheidenden Politikfeldern versäumt hat, den Zusammenhalt der Gesellschaft entschieden zu stärken und die Lage der Menschen im Land zu verbessern«. Angela Merkel hinterlasse jedenfalls »viele – zu viele – Hypotheken«.
Es ist das Verdienst dieses Buches, solche Hypotheken in den unterschiedlichen Politikfeldern knapp und konkret, mit Zahlen und Fakten untermauert, aufzudecken sowie den Erfolgen, Defiziten und Desastern Merkelscher Politik nachzuspüren. Vor allem angesichts ihrer neoliberalen Agenda und der daraus resultierenden »Sozialpolitik«, kommt Hebel zu einer ernüchternden Bilanz: »Trotz anhaltenden Wirtschaftsbooms hat die Spaltung der Gesellschaft zugenommen«, die soziale Ungerechtigkeit ist gewachsen, Merkels Neoliberalismus habe tiefe Spuren im Leben der Bürgerinnen und Bürger hinterlassen. Ihre Politik sei mitverantwortlich dafür, dass sich die Unzufriedenheit, die Angst vieler Menschen vor sozialem Abstieg und kulturellen Brüchen in einer globalisierten und digitalisierten Welt und einem grenzenlosen Kapitalismus wesentlich verstärkt haben – Reaktionen, die von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Kräften und Parteien mit Erfolg instrumentalisiert und missbraucht werden.
Angesichts dieser verhängnisvollen Entwicklung setzt Stephan Hebel, wie viele mit ihm, auf einen gehörigen Politikwechsel: auf angemessene, aber auch radikale politische Konsequenzen, die aus den Veränderungen und Verwerfungen in dieser Welt und dieser Republik endlich gezogen werden müssen. Ein alternativloses »Weiter so« kann und darf es nach der Ära Merkel jedenfalls nicht geben.
Stephan Hebel: »Merkel. Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft«, Westend Verlag, 128 Seiten, 14 €