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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Legaland Italien

Ein Jahr nach­dem am 4. März 2018 star­ke Ver­lu­ste bei der Par­la­ments­wahl die Demo­kra­ti­sche Par­tei (PD) von Matteo Ren­zi in eine tie­fe Iden­ti­täts­kri­se gestürzt und zur Über­ga­be der ita­lie­ni­schen Regie­rungs­ver­ant­wor­tung an die Fünf-Ster­ne-Bewe­gung (M5S) und die Lega geführt hat­ten, gibt es erste Zei­chen der Wie­der­be­le­bung einer schein­to­ten Oppo­si­ti­on. Am 3. März ließ die PD in einer soge­nann­ten offe­nen Pri­mär­wahl einen neu­en Par­tei­se­kre­tär wäh­len. 1,6 Mil­lio­nen belie­bi­ge Wäh­ler gaben ihre Stim­me ab. Es war der letz­te Ver­such, das Aus­ein­an­der­bre­chen der Par­tei zu ver­hin­dern, denn Ren­zi und sei­ne Haus­macht woll­ten sich selb­stän­dig machen. Gegen zwei Kan­di­da­ten aus dem Ren­zi-Lager gewann nun haus­hoch Nico­la Zin­ga­ret­ti, der Chef der Regi­on Lati­um, ein erfah­re­ner lin­ker Prag­ma­ti­ker und last but not least Bru­der von Luca Zin­ga­ret­ti, als Com­mis­sa­rio Mon­tal­ba­no einer der belieb­te­sten Schau­spie­ler Italiens.

Bei schön­stem Son­nen­schein hat­te es am Tag zuvor in Mai­land eine Demo von fast 250.000 Ras­sis­mus­geg­nern aus dem gan­zen Lan­de gege­ben, die weit grö­ßer war, als erwar­tet, denn Ver­an­stal­ter waren allein diver­se Bür­ger­be­we­gun­gen, die das Wei­ter­be­stehen eines »ande­ren« Ita­li­en bezeu­gen woll­ten, in dem alle zusam­men leben kön­nen. Schon einen Monat zuvor hat­ten am 9. Febru­ar in Rom die drei gro­ßen, nach lan­gem wie­der ver­eint auf­tre­ten­den Gewerk­schaf­ten (CGIL, CISL, UIL) gegen die Regie­rungs­po­li­tik und für eine »Zukunft der Arbeit« demon­striert. Matteo Lan­di­ni, der bis­he­ri­ge Chef der lin­ken Metal­ler (FIOM), ist neu­er Gene­ral­se­kre­tär der CGIL. Auch dar­an knüp­fen sich neue Hoff­nun­gen auf wach­sen­den Wider­stand gegen ein Ver­sin­ken Ita­li­ens in faschi­sto­iden Nie­de­run­gen. Denn der aben­teu­er­li­che Regie­rungs­pakt zwi­schen zwei so hete­ro­ge­nen Par­tei­en wie der natio­na­len Lega und der M5S hat das Land wei­ter nach rechts gerückt und dem einst hemds­är­me­li­gen Volks­tri­bu­nen Matteo Sal­vi­ni ermög­licht, das poli­ti­sche Kräf­te­ver­hält­nis in der Koali­ti­on zu sei­nen Gun­sten umzu­keh­ren. Er ver­kehrt zuneh­mend in Schlips und Kra­gen mit den »pote­ri for­ti«, den herr­schen­den Mäch­ten des Lan­des (Unter­neh­mer, Ban­ken, Kir­che), die längst auf Sal­vi­nis Lega umge­sat­telt haben. Als Innen­mi­ni­ster »regiert« er das Land per Twit­ter und mit mar­ki­gen Sprü­chen, hat den Flücht­lings­strom bru­tal ein­ge­dämmt, räumt die Blech-Slums der Ärm­sten mit Bag­gern und sorgt mit vie­ler­lei Dekre­ten über­haupt für law and order, was sehr vie­len Ita­lie­nern Angst macht. Aber er fin­det Zuspruch von all jenen, die auf sei­ne Sün­den­bock-Pro­pa­gan­da her­ein­fal­len und glau­ben, ihrem eige­nen gefürch­te­ten sozia­len Abstieg sowie der mas­si­ven Ver­ar­mung brei­ter Schich­ten durch Abschot­tung und Auto­no­mie­be­stre­bun­gen bei­kom­men zu können.

Sal­vi­nis Gegen­über, der Arbeits­mi­ni­ster und Fünf-Ster­ne-Chef Lui­gi De Maio, gibt meist klein bei, um Macht und Koali­ti­on nicht zu ris­kie­ren und im Gegen­zug sei­ne Wahl­ver­spre­chen durch­set­zen zu kön­nen. Er bringt nun unter ande­rem sein soge­nann­tes Bür­ger­geld auf den Weg, das etwa die Hälf­te der Arbeits­lo­sen 18 Mona­te lang unter­stüt­zen soll – nur ein mage­rer Hartz-IV-Ver­schnitt, für den aller­dings die struk­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen feh­len. Und zwar nicht nur die Job­cen­ter mit den Arbeits­ver­mitt­lern, die als »navi­ga­tors« erst noch aus den Arbeits­lo­sen rekru­tiert wer­den müs­sen, son­dern es feh­len vor allem die Arbeits­plät­ze, für die die Men­schen umge­schult wer­den sol­len. Die Wirt­schafts­da­ten zei­gen nichts als anhal­ten­des Null­wachs­tum, vor allem im Süden mit den mei­sten Betrof­fe­nen. Dort gibt es 18 Pro­zent Schul­ab­bre­cher, und dort lebt auch ein Groß­teil der etwa 2,2 Mil­lio­nen soge­nann­ten NEET (not in edu­ca­ti­on, employment, trai­ning) zwi­schen 15 und 29 Jah­ren, inzwi­schen 25 Pro­zent ihrer Alters­grup­pe lan­des­weit! Unter den Leu­ten gibt es wenig sub­stan­ti­el­le Kri­tik am Bür­ger­geld, denn eine Unter­stüt­zung für Mil­lio­nen Arme ist längst über­fäl­lig. Dass aber die auf Ban­co­mat-Kar­ten gewähr­ten Gel­der die Bin­nen­nach­fra­ge wesent­lich bele­ben wer­den, dar­an glau­ben weni­ge. Di Maio hat es eilig, die ersten Gel­der sol­len ab Mai flie­ßen, recht­zei­tig zur Euro­pa­wahl. Die Fünf-Ster­ne-Basis ist inzwi­schen aller­dings mehr als gespal­ten, und jüng­ste Regio­nal­wah­len in den Abruz­zen und in Sar­di­ni­en haben Di Maio eine ernüch­tern­de Rech­nung für sei­ne poli­ti­sche Grat­wan­de­rung prä­sen­tiert. Natio­na­le Umfra­gen las­sen M5S heu­te unter 20 Pro­zent absin­ken, und eine wei­te­re Ver­schlech­te­rung der Wirt­schafts­la­ge birgt gro­ße Unsicherheiten.

Das rech­te Lager steht hin­ge­gen auf feste­ren Füßen, ange­führt von Sal­vi­nis Lega mit cir­ca 30 Pro­zent plus For­za Ita­lia und den Ex-Faschi­sten Fra­tel­li d’I­ta­lia. Zusam­men lie­gen sie bei min­de­stens 40 bis 45 Pro­zent, rech­te Wäh­ler des M5S nicht ein­ge­rech­net. Ber­lus­co­ni drängt Sal­vi­ni, bald Kas­se zu machen und nach der Euro­pa­wahl im Mai zu Neu­wah­len zu schrei­ten, aber noch bremst die jet­zi­ge Koali­ti­on. Dass sie über die mei­sten poli­ti­schen Pro­gramm­punk­te uneins ist, zeigt sich exem­pla­risch an dem gespen­sti­schen Tau­zie­hen um den Bau der seit Jahr­zehn­ten geplan­ten und heiß umstrit­te­nen neu­en Schnell­zug­tra­sse Turin – Lyon (TAV) durch die pie­mon­te­si­schen Alpen (Val­le di Susa), zu der nun eine defi­ni­ti­ve Ent­schei­dung auch auf euro­päi­scher Ebe­ne ansteht.

Über­haupt wird es stark von den neu­en euro­päi­schen Kräf­te­ver­hält­nis­sen abhän­gen, was in Ita­li­en in Zukunft pas­siert. Die von der aktu­el­len Regie­rung bis­her gezeig­te Außen­po­li­tik ist so wider­sprüch­lich wie alles ande­re: Wäh­rend Sal­vi­ni sich inzwi­schen staats­män­nisch für ein rech­te­res Euro­pa pro­fi­liert, geht Di Maio auf grö­ße­re Distanz zum EU-Main­stream. Die Hal­tung Ita­li­ens zu Russ­land, zu Chi­na, zum Iran, zu Vene­zue­la, zu Hua­wei und ande­ren mehr stellt natio­na­le Wirt­schafts­in­ter­es­sen in den Vor­der­grund, das zeigt sich zum Bei­spiel an der Offen­heit für eine Teil­nah­me an Chi­nas Sei­den­stra­ßen­pro­jekt und am Zwist mit den USA wegen des ita­lie­ni­schen Rück­zugs vom Rüstungs­pro­jekt F 35, das auf ein Mini­mum redu­ziert wer­den soll und für das Ita­li­en ursprüng­lich 13,5 Mil­li­ar­den auf­brin­gen sollte.

Die Rück­kehr der PD auf die poli­ti­sche Büh­ne lässt vie­le auf­at­men und hof­fen, eine erneu­er­te PD kön­ne vie­le Wäh­ler zurück­ge­win­nen und die M5S beim näch­sten Urnen­gang – also schon in Euro­pa im Mai – über­ho­len. Aber selbst dann bräuch­te sie Ver­bün­de­te für eine ande­re Poli­tik, und bei­des ist noch nicht Sicht. Doch eine wie­der­auf­ge­wärm­te »Reform«-Suppe wird die Men­schen nicht satt­ma­chen. Nico­la Zin­ga­ret­ti steht also vor einer schwie­ri­gen Aufgabe:

Zunächst wäre eine inhalt­li­che Absa­ge an die Ren­zi-Poli­tik erfor­der­lich, die zum heu­ti­gen Zustand des Lan­des geführt hat, an Wachs­tums­glau­ben unter Austeri­täts­be­din­gun­gen in einer glo­ba­len Pha­se über­wie­gen­der Stagnation.

Neue Sze­na­ri­en müs­sen dann erprobt wer­den in einer brach­lie­gen­den Gesell­schaft, ein Per­spek­tiv­wech­sel, der auf eine dif­fu­se und nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung setzt, auf eine Erneue­rung aller Infra­struk­tu­ren des Lan­des, anstatt auf unsin­ni­ge Groß­pro­jek­te, sowie auf eine damit ver­bun­de­ne Umver­tei­lung des Vor­han­de­nen, von Arbeit, Ein­kom­men und Ver­mö­gen. Finan­ziert wer­den könn­te das unter ande­rem durch eine ange­mes­se­ne Besteue­rung des Reich­tums, wie es schon die Par­tei­pro­gram­me von San­ders und Cor­byn for­dern. Eine sol­che Per­spek­ti­ve könn­te auch die Kräf­te links von der PD aus ihrer Schock­star­re befreien.

Die von Peter Wahl im letz­ten Ossietzky (5/​2019) vor­ge­schla­ge­ne Über­win­dung der binä­ren Euro­pa-Logik durch eine »dif­fe­ren­zi­el­le und fle­xi­ble Koope­ra­ti­on« lie­ße sich gut mit einer sol­chen Ent­wick­lung verbinden.