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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bismarck versus Ossietzky

Bis­marck und Ossietzky? Ihre unter­schied­li­chen Lebens­da­ten ver­ra­ten eigent­lich, dass es zwi­schen ihnen kei­ne Berüh­rungs­punk­te geben kann. Als Otto von Bis­marck 1898 starb, war Carl von Ossietzky gera­de ein­mal acht Jah­re alt. In der Stadt­ge­schich­te von Hal­le gibt es aller­dings einen Zusam­men­hang zwi­schen bei­den, der ins soge­nann­te Pau­lus­vier­tel führt.

Das mar­kan­te Zen­trum des belieb­ten Wohn­vier­tels bil­det die wuch­ti­ge Pau­lus­kir­che mit ihren knapp 1000 Sitz­plät­zen; neben der Markt­kir­che ist sie der wohl impo­san­te­ste Sakral­bau der Stadt. Ihr 60 Meter hoher Vie­rungs­turm und die gro­ße Frei­trep­pe mit 62 Stu­fen stei­gern noch die Monu­men­ta­li­tät. Nach dem Vor­bild der nord­deut­schen Back­stein­go­tik wur­de die Kir­che in den Jah­ren 1900 bis 1903 auf dem damals außer­halb der Stadt lie­gen­den Hasen­berg errich­tet, einer cir­ca zehn Meter hohen Por­phyr­kup­pe. Die Grund­stein­le­gung erfolg­te am 22. Okto­ber 1900, dem Geburts­tag der Kai­se­rin Augu­ste Vik­to­ria. Am 6. Sep­tem­ber 1903 wur­de die Kir­che im Bei­sein der Kai­se­rin ein­ge­weiht, die auch einen Teil der Bau­ko­sten über­nom­men hat­te und zur Schutz­pa­tro­nin der Kir­che wur­de. Kai­ser Wil­helm II., ihr Gemahl, weil­te an die­sem Tag eben­falls in Hal­le, nahm aber an der Ein­wei­hung der Pau­lus­kir­che nicht teil. Wie zahl­rei­che histo­ri­sche Post­kar­ten bewei­sen, war es ein gro­ßer Tag für die Saal­e­stadt, obwohl die Hal­len­ser etwas ver­schnupft waren, dass »Sei­ne Maje­stät« nur mit der Kut­sche durch die reich geschmück­te Stadt fuhr und sei­nen Fuß nicht auf hal­le­schen Boden gesetzt haben soll.

Gleich­zei­tig mit dem Bau der Pau­lus­kir­che wur­den auch die Pla­nun­gen des »Kai­ser­vier­tels« rund um die Kir­che vor­an­ge­trie­ben. In den fol­gen­den Jahr­zehn­ten ent­stand ein ring- und strah­len­för­mi­ges Stra­ßen­sy­stem rund um den Kai­ser­platz: mit herr­schaft­li­chen Vil­len und vor­neh­men Wohn­häu­sern für Pro­fes­so­ren, Ärz­te und höhe­re Beam­te im inne­ren Kreis und jen­seits der Kron­prin­zen­stra­ße mit Miets­häu­sern für die nie­de­ren Beam­ten und die Ange­stell­ten. Noch heu­te sind hier alle Stil­rich­tun­gen des Histo­ris­mus und des frü­hen 20. Jahr­hun­derts ver­tre­ten – von der Neo­go­tik über den Jugend­stil bis zum Neu­en Bauen.

Die mei­sten Stra­ßen wur­den nach deut­schen Dich­tern benannt: Goe­the, Schil­ler, Les­sing, Her­der, Uhland, von Schef­fel …, sie alle waren hier ver­tre­ten, so dass die Hal­len­ser bald von ihrem »Dich­ter­vier­tel« spra­chen. Die Haupt­stra­ßen erhiel­ten aller­dings wil­hel­mi­ni­sche Namen: Kai­ser­stra­ße, Hohen­zol­lern­stra­ße, Kron­prin­zen­stra­ße oder Bis­marck­stra­ße. Nach 1945 – so ver­rät jeden­falls ein Stadt­plan von 1948 – wur­den die mei­sten die­ser Stra­ßen jedoch umbe­nannt. Kai­ser­platz und Kai­ser­stra­ße wur­den gleich mehr­fach durch Wil­ly Loh­mann (ein Leh­rer und Poli­ti­ker), Walt­her Rathen­au und Hein­rich Hei­ne ersetzt, der »Kron­prinz« muss­te Fried­rich Schlei­er­ma­cher wei­chen, die Hohen­zol­lern dem 1848-Poli­ti­ker Robert Blum. Selbst die Kai­se­rin Vik­to­ria wur­de stra­ßen­mä­ßig durch Maxim Gor­ki abge­löst. Allein der »Eiser­ne Kanz­ler« behaup­te­te sich wei­ter­hin. Irgend­wie schie­nen die neu­en sozia­li­sti­schen Stadt­obe­ren an ihm vor­erst kei­nen Anstoß zu neh­men. Selbst auf dem Stadt­plan von 1955 tauch­te sein Name noch auf, erst zwei Jah­re spä­ter muss­te er schließ­lich Carl (damals noch Karl geschrie­ben) von Ossietzky Platz machen. Nach über einem hal­ben Jahr­hun­dert sind die neu­en Stra­ßen­na­men längst im Sprach­ge­brauch auch der älte­ren Hal­len­ser ange­kom­men und die Umbe­nen­nun­gen nur noch eine Ange­le­gen­heit für Histo­ri­ker und Heimatforscher.

Seit eini­gen Jah­ren finan­ziert die Bürger.Stiftung.Halle unter dem Titel »Bil­dung im Vor­über­ge­hen« Zusatz­schil­der an hal­le­schen Stra­ßen­schil­dern, wel­che über den/​die Namens­ge­ber der Stra­ße infor­mie­ren. Eine Akti­on, die bis heu­te bei den Hal­len­sern eine brei­te Reso­nanz fin­det. 2016 wur­den schließ­lich sol­che Zusatz­schil­der an der Carl-von-Ossietzky-Stra­ße ange­bracht – mit der Infor­ma­ti­on: »Jour­na­list, Pazi­fist, Her­aus­ge­ber der Zeit­schrift ›Die Weltbühne‹, 1935 Friedensnobelpreis«.

Nach der Wen­de hat sich das Mie­ter­spek­trum im Pau­lus­vier­tel geän­dert, das nach der 1993 ein­set­zen­den Sanie­rung und Moder­ni­sie­rung heu­te zu den attrak­tiv­sten Wohn­ge­gen­den der Stadt gehört. Zwar woh­nen Pro­fes­so­ren, Ärz­te und Beam­te immer noch hier, aber auf Grund der Nähe zur Uni­ver­si­tät sowie zum Stadt­zen­trum und zu den »grü­nen« Frei­zeit­mög­lich­kei­ten an der Saa­le ist das Vier­tel inzwi­schen beson­ders bei Stu­den­ten und jun­gen Fami­li­en mit Kin­dern beliebt.