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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nur MUT!

Robert war in die Auf­zeich­nun­gen von Can Dündars »Lebens­lang für die Wahr­heit« ver­tieft. Die Zeit­schrift Ossietzky woll­te zum 130. Geburts­tag Carl von Ossietzky ein Son­der­heft her­aus­brin­gen. Da lag es nah, end­lich ein­mal den Gefäng­nis­be­richt Dündars zu lesen.

Dündars Geschich­te erin­ner­te ihn unwei­ger­lich an Ossietzky, der gegen Ende der Wei­ma­rer Repu­blik in den Knast ging, weil er 1929 Wal­ter Kreisers Bei­trag in der Weltbühne abge­druckt hat­te, in dem der Autor unter dem Pseud­onym Heinz Jäger die ver­bo­te­ne Auf­rü­stung der Reichs­wehr auf­ge­deck­te. »Win­di­ges aus der Deut­schen Luft­fahrt« hat­te 18 Mona­te Gefäng­nis für CvO zur Fol­ge. Obwohl 1932 nach 227 Tagen Haft amne­stiert, wur­de er 1933 – noch in der Nacht des Reichs­tags­bran­des – wie­der ver­haf­tet und in ver­schie­de­ne Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gebracht, zuletzt in das KZ Ester­we­gen im Ems­land, wo die Gefan­ge­nen unter schreck­li­chen Bedin­gun­gen die Moo­re trocken­le­gen muss­ten. Er wur­de dort miss­han­delt, erkrank­te, von einer Lun­gen­ent­zün­dung erhol­te er sich nicht mehr …

Und was hat der tür­ki­sche Jour­na­list Dündar »ver­bro­chen«? Er war als Jour­na­list der Cum­hu­ri­yet der Fra­ge nach­ge­gan­gen, ob die Tür­kei Waf­fen an radi­kal­is­la­mi­sche Orga­ni­sa­tio­nen in Syri­en lie­fer­te. Gerüch­te gab es ohne­hin, doch dann wur­de der Redak­ti­on ein Video zugespielt.

In sei­nem von Sabi­ne Ada­te­pe über­setz­ten »Lebens­lang für die Wahr­heit« schil­dert Dündar, was ein Video vom 19. Janu­ar 2014, das der Redak­ti­on zuge­spielt wur­de, preis­gab: »Auf dem Video war ein Last­wa­gen des Geheim­dien­stes MIT zu sehen. Die Gen­dar­me­rie hielt den Lkw an. Es kam zum Streit zwi­schen Geheim­dienst­lern und Gen­dar­men. Die Gen­dar­me­rie hol­te die MIT-Leu­te aus dem Lkw und durch­such­te ihn auf Ver­an­las­sung der Staats­an­walt­schaft. Als die Stahl­tü­ren geöff­net wur­den, stie­ßen die Gen­dar­men zunächst auf Kisten mit Medi­ka­men­ten, die zur Tar­nung gela­den waren. Dar­un­ter auf schwe­re Muni­ti­on: Mör­ser­gra­na­ten, Kano­nen­ku­geln u. a.« Das war der Beweis! Die Jour­na­li­sten waren wie elek­tri­siert und bastel­ten schon an der Schlag­zei­le »Hier sind die Waf­fen, die Erdoğan leug­net«. Was aber wären die Fol­gen, wenn sie die »Bom­be« hoch­ge­hen lie­ßen? Die Anwäl­te der Zei­tung warn­ten, sie waren nicht gegen die Ver­öf­fent­li­chung, aber Erdoğan wür­de zurück­schla­gen und sagen, es han­de­le sich um die Ver­öf­fent­li­chung eines Staats­ge­heim­nis­ses. Haft wäre unaus­weich­lich. So kam es dann auch. Die Cum­hu­ri­yet-Redak­ti­on ent­schloss sich zur Ver­öf­fent­li­chung, fühl­te sich der Wahr­heit ver­pflich­tet. Schritt für Schritt zeich­net Dündar in sei­nem Buch das Gesche­hen nach.

Robert saß an sei­nem Lap­top. Der Cur­sor blink­te, die lee­re Sei­te schau­te ihn an. Er spür­te, das wür­de nichts. Er bräuch­te noch mehr Zeit für die Recher­che. Viel mehr Zeit! Dann war da noch die Debat­te um die Sicher­heits­an­for­de­run­gen an ein Atom­müll­la­ger, ein Anti-Atom­fe­sti­val, eini­ge Lesun­gen aus sei­nem Roman »Der Kastor kommt«… Er war Spre­cher einer Umwelt­in­itia­ti­ve, die sich seit über 40 Jah­ren mit Gor­le­ben her­um­schlug, und sie ver­sack­ten gera­de in zeit­rau­ben­der Gre­mi­en­ar­beit. Viel lie­ber wäre ihm, end­lich wie­der auf die Stra­ße zu gehen. Aber er war sich gewiss, der Tag wür­de schon bald kom­men. Gor­le­ben gehör­te auf den Mist­hau­fen der Atom­ge­schich­te. Und schließ­lich wür­de Sel­ma vorbeikommen.

Er kann­te sie aus Anka­ra, wo er für eini­ge Jah­re an der Hacet­te­pe-Uni­ver­si­tät als Dozent gear­bei­tet hat­te. Sel­ma war eine sei­ner Kol­le­gin­nen gewe­sen, sie und ihr Mann Oktay hat­ten ihm die Stadt gezeigt und ihm das Land »erklärt«. Mit ihnen war er an die Schwarz­meer­kü­ste gefah­ren und an den Van-See. Es war damals die Zeit des poli­ti­schen Tau­wet­ters in der Tür­kei und die Debat­te um einen EU-Bei­tritt nahm gera­de Fahrt auf. Vor allem ver­band sie bei­de die Idee, Deutsch spie­le­risch zu leh­ren. Klei­ne Sze­nen mit einem Mini­mum an Requi­si­ten, Sprach- und Stimm­trai­ning, Brechts Übun­gen für Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler. Selbst Satz­bau­übun­gen konn­te man als Wort- und Satz­schlan­gen dar­stel­len. Dabei wur­de viel gelacht und in Restau­rants im Sze­ne­vier­tel Kızılay zu Mese-Plat­ten, den lecke­ren Vor­spei­sen, Rakı getrun­ken. Manch­mal zu viel, obwohl er das Zeugs gar nicht mochte.

Robert hat­te sich, als er begann, Tür­kisch zu ler­nen, mäch­tig amü­siert. Oktay war Anwalt, er arbei­te­te im Mini­ste­ri­um für Umwelt und Forst­wirt­schaft oder so. Hukuk hat­te er stu­diert. Das klang lustig, wie Kuckuck. Doch dann wur­de Oktay ernst und sag­te einen Satz, den er nicht ver­ges­sen hat­te: »Hukuk ve siya­set iki far­klı şey­dir.« Sel­ma über­setz­te: »Recht und Poli­tik sind zweierlei.«

Robert gab sich einen Ruck. Schwe­ren Her­zens, schrieb er an die Redak­ti­on Ossietzky, müs­se er den geplan­ten Bei­trag absa­gen, er fin­de kei­ne Zeit.

Sel­ma war da. End­lich! Sie waren in Gesprä­che ver­tieft. Was gibt es Neu­es? Up-Gra­ding nann­te sie das. Sie kam nur für kur­ze Zeit zu Besuch. Viel zu kurz. Wie immer vol­les Pro­gramm! Wie geht es Oktay? Was ist in der Tür­kei los, was in Anka­ra? Er hat­te noch so vie­le Fragen …

Hun­ger! Robert briet gera­de Brat­kar­tof­feln, frisch geern­tet. Er war stolz auf sei­nen klei­nen Gemü­se­gar­ten mit dem Boh­nen­feld und den Kräu­tern. Sel­ma scroll­te ihre Mails durch.

»Hast du das schon gehört?!« Sel­mas Stim­me ver­riet Empö­rung – und Ver­un­si­che­rung. Robert schau­te sie an.

»Was denn?«

»Mah­mut Can­bay darf nicht in die Tür­kei ein­rei­sen. Man hat ihn in Istan­bul acht Stun­den lang ver­hört und ihn post­wen­dend in einen Flie­ger nach Köln gesetzt.«

Robert schau­te ein wenig rat­los drein. Er wuss­te nicht, wer Mah­mut Can­bay war, aber Sel­ma erklär­te es ihm schon: »Mah­mut Can­bay führt das Mut!Theater in Eims­büt­tel. Und ich habe das Thea­ter letz­te Woche ange­schrie­ben, weil ich nach Pra­xis­bei­spie­len für inter­kul­tu­rel­le Pro­jek­te suche.«

»Du hast was? Das Thea­ter kon­tak­tiert? Na und?« Robert hielt inne, bei ihm klin­gel­te es, es hat­te gedau­ert, bis der Gro­schen fiel.

Sie war ernst gewor­den und bedrückt gewe­sen, als er sie tags zuvor, als sie über alte Zei­ten und Bekann­te klön­ten, gefragt hat­te, ob sie nach dem Putsch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 nicht auch Angst hat­ten, auf einer der dubio­sen Ent­las­sungs­li­sten aus dem öffent­li­chen Dienst zu ste­hen. Rund 129.000 Staats­be­dien­ste­te waren wegen angeb­li­cher Ver­bin­dun­gen zum Putsch­ver­such gefeu­ert wor­den, unter ihnen zahl­rei­che Aka­de­mi­ker, wahl­wei­se waren ver­meint­li­che Güle­ni­sten oder Kur­den­freun­de aus dem öffent­li­chen Dienst ent­las­sen worden.

Sel­ma und Oktay waren Sozi­al­de­mo­kra­ten, wähl­ten immer noch CHP. Damals, in Anka­ra, hat­ten sie sich zu dritt wie­der­holt über die Posi­tio­nen der Par­tei gestrit­ten, die kema­li­sti­sche Cum­hu­ri­yet Halk Par­ti­si (CHP), die war Robert zu mili­tärgläu­big. Und das bru­ta­le Vor­ge­hen des Mili­tärs, der kema­li­sti­schen Gene­ra­li­tät, gegen das Auto­no­mie­stre­ben der Kur­den hat­te dazu geführt, dass die Oppo­si­ti­on nach wie vor in der Tür­kei gespal­ten gegen Erdoğan und sei­ne AKP ope­rier­te, hielt ihnen Robert vor.

»Ich habe kei­ner­lei Ver­bin­dun­gen zu den Gülen-Leu­ten und auch kei­ne zur pro-kur­di­schen HDP. Doch im Land bewegt sich was, schließ­lich hat­ten alle gemein­sam dafür gestimmt, bei der Wahl des Istan­bu­ler Bür­ger­mei­sters, deren Ergeb­nis von der AKP ange­foch­ten wur­de, für den CHP-Kan­di­da­ten Ekrem İmam­oğlu zu stim­men. Und war­um, bit­te sehr, soll­te ich dann rausfliegen?«

Das hat­te sie ihm gesagt, ein wenig trot­zig, und nun war da die Angst, dass aus einem beruf­li­chen Inter­es­se, einer Anfra­ge, mehr wer­den könn­te. Denn das, was dem Thea­ter­mann vor­ge­wor­fen wur­de, war an Tri­via­li­tät kaum zu über­bie­ten, sorg­te trotz­dem dafür, dass er nicht in die Tür­kei zu einem Thea­ter­tref­fen in Izmir ein­rei­sen konn­te: Eine Kari­ka­tur des tür­ki­schen Prä­si­den­ten Recep Tayyip Erdoğan, die ihm ein Bekann­ter per Whats­App zuge­schickt hat­te, wur­de ihm zum Ver­häng­nis. Auf der Zeich­nung wür­de Erdoğan als Dik­ta­tor dar­ge­stellt. Mah­mut Can­bay sei ver­hört und immer wie­der gefragt wor­den, war­um er die Kari­ka­tur nicht gelöscht habe.

»Und das in einem Land, das berühmt ist für sei­ne Kari­ka­tu­ren, das geht bei uns zurück bis ins Osma­ni­sche Reich, wo sich Sati­re­ma­ga­zi­ne über den des­po­ti­schen Sul­tan Abdül­ha­mid II. lustig mach­ten, der heu­te eines der Vor­bil­der von Prä­si­dent Erdoğan ist. Der Sul­tan hat­te eine gro­ße Nase, Erdoğan auch. Ach, las­sen wir das, woher wuss­ten die eigent­lich, wel­che Nach­rich­ten und Bil­der auf dem Smart­phone sind?« Sel­ma schüt­tel­te den Kopf.

Am näch­sten Mor­gen hat­te er sie schließ­lich zur Bahn gebracht, Sel­ma hat­te – wie immer – noch eini­ge Ver­ab­re­dun­gen und woll­te noch einen Work­shop zur Thea­ter­päd­ago­gik besu­chen, bevor es wie­der zurück nach Anka­ra ging. Eben vol­les Pro­gramm! »Vie­le Grü­ße an Oktay!«

»Könnt´ jeder­zeit bei uns hier unter­kom­men«, sag­te Robert zum Abschied, sie drück­te sei­ne Hand. »Dan­ke! Ken­di­ni iyi bak! – Pass gut auf dich auf«, sag­ten sie fast gleich­zei­tig und muss­ten lachen.

Doch Robert war nicht mehr zum Lachen zumu­te. Er mal­te sich aus, wie aus einer Bana­li­tät, aus einer Whats­App-Nach­richt, eine Fest­nah­me wer­den könn­te und wie die auf­kei­men­de Angst die Lebens- und Arbeits­lust von Men­schen zer­fraß, wie banal dem­ge­gen­über die gan­zen Abhör­ge­schich­ten der Poli­zei und des Staats­schut­zes im Gor­le­ben-Wider­stand anmuteten.

Er ging in den son­nen­durch­flu­te­ten Gar­ten. Es hat­te in der Nacht leicht gereg­net, end­lich! Wie­der hat­te ein hei­ßer Som­mer den Büschen und Bäu­men zuge­setzt. Er hat­te noch einen wei­te­ren Knast­be­richt gekauft. Ahmet Alt­ans »Ich wer­de die Welt nie wie­der­se­hen. Tex­te aus dem Gefäng­nis« in der Über­set­zung von Ute Bir­gi-Knel­les­sen. Altan wur­de zu lebens­lan­ger Haft ver­ur­teilt. Der Vor­wurf: Er habe am Tag vor dem Umsturz­ver­such 2016 »unter­schwel­li­ge Bot­schaf­ten« über den bevor­ste­hen­den Putsch in einer Talk­run­de im Fern­se­hen verbreitet.

Der Rich­ter: »Sie haben sich nicht den­ken kön­nen, dass die­se Män­ner einen Putsch durch­zie­hen wür­den?« Und mit einem selbst­ge­fäl­li­gen Lächeln füg­te er hin­zu: »Ich habe das erwartet.«

Der Ver­tei­di­ger: »Einen Putsch nicht vor­her­zu­se­hen, ist kein Verbrechen.«

Für einen Tag kam Altan tat­säch­lich frei, wur­de abends wie­der fest­ge­nom­men. Er und sein Bru­der Meh­met, Mit­her­aus­ge­ber der Zei­tung Taraf, wer­den schließ­lich im Febru­ar 2018 gemein­sam mit vier wei­te­ren Jour­na­li­sten­kol­le­gen zu lebens­lan­ger Haft ver­ur­teilt, genau an dem Tag, wo Deniz Yücel nach 367 Tagen aus der Unter­su­chungs­haft ent­las­sen wird. Die Taraf war schon im Juli 2016 ver­bo­ten wor­den. Inve­sti­ga­ti­ver Jour­na­lis­mus, Bei­trä­ge zum arme­ni­schen Völ­ker­mord wie auch zur Kur­den- und Zypern­fra­ge waren sowie­so und fort­an unerwünscht.

Wie wird man fer­tig mit dem Leben im Knast für immer? Ahmet Altan schreibt.

»Stil­le.

Eine tie­fe, dunk­le Stille.

Kein Ton, kei­ne Bewegung.

Das Leben hat­te plötz­lich halt­ge­macht. Es war erstarrt. Kalt und leblos.

Das Leben war gestorben.

Unver­se­hens gestorben.

Ich leb­te, aber das Leben war tot.«

Robert ließ das Buch sin­ken. Gän­se­haut! Er wür­de, so war ihm jetzt klar, doch etwas für das CvO-Son­der­heft zum 130. schrei­ben, etwas über die vie­len inhaf­tier­ten Jour­na­li­stin­nen und Jour­na­li­sten in der Tür­kei schrei­ben. Nur MUT!

Ahmet Altan: »Ich wer­de die Welt nie wie­der­se­hen. Tex­te aus dem Gefäng­nis«, über­setzt von Ute Bir­gi-Knel­les­sen, S. Fischer, 176 Sei­ten, 12 €; Can Dündar: »Lebens­lang für die Wahr­heit. Auf­zeich­nun­gen aus dem Gefäng­nis«, über­setzt von Sabi­ne Ada­te­pe, Hoff­mann und Cam­pe, 304 Sei­ten, 22 €