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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Chile: Ein neoliberales Psychogramm

Der Kon­fe­renz­saal des Hotels Vil­la del Rio im süd­chi­le­ni­schen Val­di­via ist gut gefüllt, die Power­point-Prä­sen­ta­ti­on auf Stand-by, und die rote Kra­wat­te von Fran­cis­co Peréz Macken­na, Geschäfts­füh­rer der Luk­sic-Invest­ment­grup­pe, sitzt per­fekt. Auch das indi­rek­te Licht in den vier Ecken des Saa­les ist auf kräf­ti­ges Rot gedimmt. Auf den Stuhl­rei­hen haben Geschäfts­füh­rer mit­tel­stän­di­scher Unter­neh­men, eini­ge Selbst­stän­di­ge, ein paar städ­ti­sche Ange­stell­te, Start-Up-Beschäf­tig­te und Men­schen Platz genom­men, die über genü­gend Muße ver­fü­gen, um sich abends noch ein­mal ins Auto zu set­zen und das etwas abge­le­ge­ne Hotel an der Ave­ni­da Espa­ña auf­zu­su­chen. Das Vil­la del Rio liegt am Fluss Cal­le Cal­le, direkt neben der Asen­av-Werft, einem der größ­ten Arbeit­ge­ber der Stadt. Unter den etwa sech­zig Besu­chern des von der Stif­tung Fund­a­ción para el pro­gre­so heu­te und hier ver­an­stal­te­ten Vor­tra­ges »War­um Chi­le nicht wächst« befin­den sich genau sie­ben Frau­en. Herr Macken­na sieht auf die Uhr. Es ist 10 Minu­ten nach sie­ben, wir schrei­ben Don­ners­tag, den 29. August 2019.

Die Stif­tung Fund­a­ción para el pro­gre­so wur­de im Jah­re 2011 als neo­li­be­ra­ler Thinktank ins Leben geru­fen und defi­niert sich als Zusam­men­schluss von Unter­neh­mern und Intel­lek­tu­el­len, denen die Ent­fal­tung der frei­en Markt­wirt­schaft bei gleich­zei­ti­ger Berück­sich­ti­gung der Men­schen­rech­te in Chi­le am Her­zen liegt. Eine nicht ganz ein­fa­che Auf­ga­be. Für außer­halb des neo­li­be­ra­len Wirt­schafts­den­kens Ste­hen­de eine eigent­lich unlös­ba­re, weil bei­de Kom­po­nen­ten – Men­schen­rech­te und Pro­fit­stei­ge­rung – kaum jemals mit­ein­an­der kor­re­lie­ren. Aber zurück zu Macken­na: Er beginnt sei­nen Vor­trag mit einem Ver­weis auf einen 2018 in den USA erschie­ne­nen Doku­men­tar­film »El Capi­tan«, der die Bezwin­gung eines Fel­sens im kali­for­ni­schen Yose­mi­te-Natio­nal­park durch einen Sol­oberg­stei­ger ohne Siche­run­gen und Sei­le beschreibt. Macken­na ist sicht­lich begei­stert von der Mes­sa­ge sei­nes Teasers: Du schaffst es, wenn du nur willst. Gehe ein Risi­ko ein, und du wirst obsie­gen. Wer wagt, gewinnt. Es fol­gen Foli­en, die ver­deut­li­chen, dass das chi­le­ni­sche Brut­to­in­lands­pro­dukt seit 1970 in Zyklen durch­schnitt­lich sechs Jah­re lang wuchs, um dann immer wie­der abzu­fal­len. Zwar sei das Pro-Kopf-Ein­kom­men in den letz­ten zwei Jah­ren um run­de 600 US-Dol­lar gestie­gen, doch – so Macken­na – sei die­se Ent­wick­lung durch die Über­re­gu­lie­rung der chi­le­ni­schen Wirt­schaft in Wirk­lich­keit gar kei­ne Stei­ge­rung, son­dern besten­falls Sta­gna­ti­on. Staat­li­che Inter­ven­tio­nen bei Inve­sti­ti­ons­vor­ha­ben natio­na­ler und aus­län­di­scher Kon­zer­ne wirk­ten sich hem­mend auf das Wirt­schafts­wachs­tum aus, erläu­tert Macken­na. Und weil der Refe­rent nicht zwin­gend das zykli­sche Wel­len­mo­dell des unter Sta­lins Ter­ror 1938 erschos­se­nen Wirt­schafts­wis­sen­schaft­lers Kond­rat­jew und die Lan­ge-Wel­len-Betrach­tun­gen des mar­xi­sti­schen Öko­no­men Ernest Man­del her­an­zie­hen kann, die in ihren Theo­rien erklä­ren, wie sich ent­grenz­tes Wachs­tum zu einer rezi­prok wir­ken­den Pro­fit­brem­se wan­deln kann, beruft er sich statt­des­sen auf US-Iko­nen der Finan­zia­li­sie­rung wie John B. Tay­lor, Robert E. Lucas oder Micha­el C. Jen­sen. Finan­zia­li­sie­rung bedeu­tet die Wert­zu­wei­sung und anschlie­ßen­de Ver­mark­tung aller mate­ri­el­len und imma­te­ri­el­len Din­ge die­ser Welt, han­delt es sich nun um krea­ti­ve Ideen, mensch­li­ches Blut oder Oze­an­was­ser. Finan­zia­li­sie­rung näm­lich, mahnt der Refe­rent mit einem an Gläu­big­keit erin­nern­den Eifer, ver­bän­de die Bezwin­gung zykli­scher Sta­gna­ti­on mit bestimm­ten For­de­run­gen zur markt­wirt­schaft­li­chen Resta­bi­li­sie­rung. Dazu gehör­te die Bereit­stel­lung staat­li­cher Kre­di­te zur Inve­sti­ti­ons­si­che­rung, denn schließ­lich sei Wachs­tum der Schlüs­sel zur Ent­wick­lung, zur Erschlie­ßung neu­er Kon­sum­fel­der und zur Zurück­drän­gung staat­li­cher Regu­lie­rung. Macken­na for­dert mehr »Ela­sti­zi­tät« bei der Umge­hung, wenn nicht gar Aus­he­be­lung gesetz­li­cher Vor­schrif­ten, geht es doch um die Erschlie­ßung neu­er Inve­sti­ti­ons­vor­ha­ben. Er erzählt begei­stert von einem ener­gie­wirt­schaft­li­chen Anbie­ter, dem es im US-Bun­des­staat South Caro­li­na gelang, durch pure Pro­fit­be­tei­li­gung staat­li­cher Behör­den ein Gesetz zur vor­ge­schrie­be­nen Höhe von Strom­ma­sten ein­fach zu kip­pen. Frü­her durf­ten sie nur 40 Meter hoch sein, jetzt wären es 140. So gedei­he eine gute Wirt­schafts­po­li­tik. Inve­sti­ti­ons­si­cher­heit bedür­fe also einer dyna­misch ange­leg­ten Wachs­tums­struk­tur, die Prio­ri­tät vor einer poli­tisch moti­vier­ten Sozi­al­ab­si­che­rung habe. Macken­na redet sich in Rage, sein lin­ker Arm hebt und senkt sich vor der immer schnel­ler wer­den­den Abfol­ge von Fotos sei­ner Vor­bil­der. Jetzt gera­de kommt John F. Muth ins Bild. Muth war der Theo­re­ti­ker der ratio­na­len Erwar­tung, der Wirt­schafts­pro­gno­sen ger­ne mit einer Modell­haf­tig­keit mensch­li­cher Bedürf­nis­la­gen sto­cha­stisch abzu­glei­chen such­te. Die Absen­kung der Löh­ne, die Ein­däm­mung staat­li­cher Regu­lie­rung und die Ein­schrän­kung juri­sti­scher All­macht, fol­gert Macken­na nun, sei­en das ein­zi­ge Mit­tel im Kampf gegen die wirt­schaft­li­che Hoff­nungs­lo­sig­keit eines Drit­tels der Mensch­heit. Und auch der 300.000 Chi­le­nen, denen die Kre­dit­wür­dig­keit im letz­ten Jahr ent­zo­gen wor­den ist. Schuld an alle­dem, so meint Macken­na, sei letzt­end­lich die Poli­tik: Die Lin­ken woll­ten die Ver­mö­gens­steu­er anhe­ben, die Rech­ten däch­ten nur an Steu­er­last und Aus­ga­ben, und die natio­na­len Regu­lie­rungs­be­hör­den mein­ten, die Ver­tei­lungs­sy­ste­me des Finanz­haus­hal­tes taug­ten nichts. Chi­le, so Macken­na, und er wan­dert jetzt, von sei­nem eige­nen Appell phy­sisch ange­spornt, hin und her, wach­se nicht, weil die Wirt­schafts­po­li­tik des Staa­tes nicht die­je­ni­gen för­de­re, die ein Risi­ko ein­gin­gen. Sei­ne Zuhö­rer lau­schen ihm mit gespann­ten Mie­nen, gehen doch die mei­sten von ihnen schon allein des­halb ein Risi­ko ein, weil sie alle in der einen oder ande­ren Form ver­schul­det sind und ihr täg­li­ches Leben, dem jewei­li­gen sozia­len Sta­tus ange­passt, aus »Cuo­tas«, aus Raten­zah­lun­gen besteht. Raten für die Finan­zie­rung des Hau­ses, der bei­den Autos, des Schul­gel­des für die Kin­der, Raten für die pri­va­te Kran­ken­ver­si­che­rung, die Haus­halts­füh­rung, ja selbst die Aus­rich­tung von Hoch­zeits­fei­ern. Und obwohl Macken­na sie geschickt als Ziel­grup­pe einer wirt­schaft­li­chen Sta­gna­ti­on anspricht, kann auch er ihnen kei­ne Hoff­nung auf höhe­re Löh­ne, Preis- oder Steu­er­sen­kun­gen geschwei­ge denn auf neue Beschäf­ti­gungs­be­rei­che machen. Der Han­dels­krieg zwi­schen den USA und Chi­na, die gegen­wär­ti­gen Pro­ble­me Chi­les in der Forst- und Fische­rei­in­du­strie, Bran­chen, die sich gera­de in der Regi­on Nord­pa­ta­go­ni­en ernst­haf­ten Absatz­kri­sen und hoher Arbeits­lo­sig­keit aus­ge­setzt sehen, sowie eine sich abzeich­nen­de Bla­se im Immo­bi­li­en­markt mit dro­hen­dem Wert­ver­lust von Eigen­tum und damit ver­bun­de­nen Zwangs­voll­streckun­gen las­sen die mei­sten hier Erschie­ne­nen eher nach­denk­lich zurück.

Obwohl die letz­ten Monats­in­di­zes der Zen­tral­bank Chi­les (IMACEC) zur wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung und die Ein­schät­zun­gen des Natio­na­len Sta­ti­stik­in­sti­tuts (INE) ein Wachs­tum in bestimm­ten Berei­chen des Wirt­schafts- und Arbeits­mark­tes und eine gleich­blei­ben­de Arbeits­lo­sen­quo­te um die 7,2 Pro­zent andeu­ten, traut man dem Frie­den nicht. Das lässt sich dann auch nach einer Stun­de erken­nen, als Macken­na sei­nen Vor­trag been­det hat und die Anwe­sen­den um Fra­gen bit­tet. Doch die vier Fra­ge­stel­ler, deren gemein­sa­mer Grund­te­nor von der Hoff­nung geprägt ist, aus Macken­nas beru­fe­nem Mun­de eine posi­ti­ve Ant­wort hin­sicht­lich zukünf­ti­ger Wachs­tums­pro­gno­sen zu bekom­men, erhal­ten vom Vor­tra­gen­den kei­ne ermun­tern­den Ant­wor­ten. Er bleibt bei sei­nen wenig erhel­len­den und kaum kon­kre­ten Aus­sa­gen zu Chi­les Still­stand. Am Ende blen­det er auf der letz­ten Folie sei­ner Prä­sen­ta­ti­on das Leit­mo­tiv der ihn heu­te Abend bezah­len­den Stif­tung Fund­a­ción para el pro­gre­so ein. »Für ein freie­res, lebens­wer­te­res und pro­spe­rie­ren­des Chi­le« steht dort. Und er lässt den Abend aus­klin­gen, indem er der Hoff­nung des chi­le­ni­schen Mit­tel­stan­des, hier in Val­di­via, an der wirt­schaft­li­chen Peri­phe­rie im Süden des Lan­des, nicht als erste abge­kop­pelt zu wer­den vom über­mäch­ti­gen Finanz­markt­platz Sant­ia­gos, dann doch noch vor­sich­tig Nah­rung gibt: »Wer wagt, gewinnt!« Die­ser Kern­satz bleibt den nun schei­den­den Vor­trags­be­su­chern in Erin­ne­rung, auch wenn sie sich immer wie­der neu­en »Cuo­tas« auf Gedeih und Ver­derb aus­lie­fern, um so den eige­nen Traum von einem per­sön­li­chen Wohl­stand auf­recht­erhal­ten zu kön­nen. Heu­te, sie­ben Wochen spä­ter, am Sonn­abend, den 26. Okto­ber, hat sich der Traum zer­schla­gen. Wie in Sant­ia­go und ande­ren Städ­ten Chi­les, so gehen auch in Val­di­via Tau­sen­de auf die Stra­ße, um gegen ihre Ver­schul­dung, gegen die sie aus­beu­ten­den Ban­ken, Kapi­tal­ge­sell­schaf­ten und ihre eige­ne neo­li­be­ra­le Gefan­gen­schaft zu protestieren.