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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geistiges Gegengift

Der Histo­ri­ker Eric Hobs­bawm hat im Vor­wort zu sei­ner Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts »die Zer­stö­rung der Ver­gan­gen­heit« beklagt. Er schreibt, heu­te wüch­sen die mei­sten jun­gen Men­schen »in einer Art per­ma­nen­ter Gegen­wart auf«, »der sozia­le Mecha­nis­mus, der die Gegen­warts­er­fah­rung mit der­je­ni­gen frü­he­rer Gene­ra­tio­nen ver­knüpft«, funk­tio­nie­re nicht mehr. Die Dia­gno­se ist zutref­fend und alar­mie­rend. Denn die­je­ni­gen, die die Ver­gan­gen­heit nicht ken­nen, sind dazu ver­ur­teilt, sie zu wie­der­ho­len, hat der Phi­lo­soph Geor­ge San­ta­ya­na gewarnt.

Der Ein­sicht folgt auch der Schrift­stel­ler Wolf­gang Bitt­ner. Uner­müd­lich und kennt­nis­reich schreibt er mit inzwi­schen mehr als 60 Büchern gegen die Geschichts­ver­ges­sen­heit unse­rer Zeit an. Jetzt hat er mit »Die Hei­mat, der Krieg und der Gol­de­ne Westen« einen groß­ar­ti­gen Roman ver­öf­fent­licht, ein »deut­sches Lebens­bild«, das einen viel­fach ver­dräng­ten und ver­ne­bel­ten Abschnitt der jün­ge­ren deut­schen Ver­gan­gen­heit erkenn­bar macht. Auf 351 fes­selnd geschrie­be­nen Sei­ten lässt er uns wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges haut­nah in den Kos­mos einer schle­si­schen Groß­fa­mi­lie ein­tau­chen, die in der Stadt Glei­witz lebt, die 1945 in Gli­wice umbe­nannt wird und die seit­dem eine pol­ni­sche Stadt ist. Bitt­ner ist dort 1941 gebo­ren wor­den, und in der von ihm kom­po­nier­ten Geschich­te, die er aus der Per­spek­ti­ve eines klei­nen namen­lo­sen Jun­gen erzählt, mischt sich Fik­ti­on mit eige­nem Erleben.

Ent­lang des Schick­sals der Roman­fa­mi­lie nimmt Bitt­ner uns mit auf eine Rei­se durch die Zeit und die Fol­gen des Krie­ges. Die beginnt im Som­mer 1942 mit Sie­ges­mel­dun­gen aus dem Volks­emp­fän­ger über den Vor­marsch der deut­schen Trup­pen auf Sta­lin­grad. Sie endet Anfang der 1950er Jah­re mit dem begin­nen­den Wirt­schafts­wun­der in West­deutsch­land. Gekonnt ver­webt Bitt­ner das fami­liä­re Gesche­hen mit den rea­len histo­ri­schen Ereig­nis­sen, die er mit soli­de recher­chier­ten histo­ri­schen Fak­ten detail­reich und far­big in Erin­ne­rung ruft. Für die Glei­wit­zer Groß­fa­mi­lie scheint der Krieg anfangs weit weg zu sein. Der Vater schickt Feld­post­brie­fe aus vie­len Ecken Euro­pas. Ahnungs­voll unkt die Groß­mutter schon früh: »Gna­de uns Gott, wenn wir den Krieg ver­lie­ren soll­ten.« Doch es dau­ert lan­ge, die Städ­te im Westen Deutsch­lands lie­gen längst in Schutt und Asche, bis ein erster Alarm die Fami­lie in den Kel­ler flüch­ten lässt, der Scha­den in Glei­witz aber bleibt gering. Und der­weil die deut­schen Sol­da­ten im Rund­funk und in der Wochen­schau nach wie vor sieg­reich gegen Eng­land fah­ren, begin­nen die Men­schen schließ­lich auch in Glei­witz zu ahnen, »dass etwas Unvor­her­ge­se­he­nes, etwas Grau­en­haf­tes, das sie bis­lang woan­ders geor­tet hat­ten, auf sie zukom­men könnte«.

Wir Leser ver­fol­gen das Gesche­hen mit den Augen und Ohren des namen­lo­sen klei­nen Jun­gen, der im Roman »das Kind«, spä­ter »der Jun­ge« genannt wird. Das Kind begreift nicht alles, nimmt aber den Stim­mungs­wan­del wahr. Die Höl­le des Krie­ges bricht in Glei­witz schließ­lich los, als die Front­trup­pe der Roten Armee auf ihrem Weg nach Westen über die Stadt hin­weg­zieht. Die Fami­lie will in Glei­witz blei­ben, ein von der Groß­mutter in dunk­ler Nacht ver­gra­be­ner Schmalz­topf hilft beim Über­le­ben. Doch weni­ge Mona­te nach dem Ende des Krie­ges ist Schluss. Die Sie­ger­staa­ten spre­chen Schle­si­en dem pol­ni­schen Staat zu. Für Mut­ter und Sohn beginnt eine Schreckens­fahrt auf dem Dach eines Zuges in Rich­tung Westen, eine Odys­see, die durch Rui­nen­land­schaf­ten und via Pots­dam in die Ucker­mark führt, bis die bei­den schließ­lich halb ver­hun­gert die Klein­stadt an der Nord­see­kü­ste errei­chen, wo der in den letz­ten Kriegs­ta­gen in Bel­gi­en ver­wun­de­te Vater im Laza­rett liegt. Es fol­gen ent­beh­rungs­rei­che Jah­re in einem tri­sten nord­deut­schen Baracken­la­ger, wo die klu­ge Mut­ter bald einen »Salon« ein­rich­tet – einen gei­stig bele­ben­den Jour fix in ihrer Baracken­kü­che, wo Nach­barn und Bekann­te mun­ter über die Zeit­läu­fe und über Poli­tik debat­tie­ren. Die Mut­ter, die zunächst unpo­li­tisch dar­ge­stellt wird, lebt auf und pro­fi­tiert wie auch der Leser, der wie neben­bei viel über die west­deut­sche Restau­ra­ti­on erfährt und dar­über, wie nach dem Krieg die ersten Wei­chen für das gestellt wor­den sind, was Bitt­ner in sei­nem letz­ten Sach­buch »sie Erobe­rung Euro­pas durch die USA« (West­end Ver­lag 2017) genannt hat.

Auch der Jun­ge beginnt, sich für Poli­tik zu inter­es­sie­ren. Ihn empört, dass Poli­ti­ker wie Ade­nau­er und Strauß die ato­ma­re Bewaff­nung der Bun­des­wehr betrei­ben, doch er fin­det in der nord­deut­schen Klein­stadt kei­ne Gleich­ge­sinn­ten. Die Men­schen, die dort vor dem Krieg zu 70 Pro­zent für die Nazis votiert hat­ten, schei­nen nun nur dar­an inter­es­siert zu sein, »sich gemüt­lich ein­zu­rich­ten, unge­stört ihren Geschäf­ten nach­zu­ge­hen«. Dann, so lesen wir, streift er abends »durch die men­schen­lee­ren Stra­ßen mit ihren nied­ri­gen Klin­ker­häus­chen und »fühlt […] sich hei­mat­los«. Trotz der Weh­mut über den Ver­lust der »gelieb­ten Hei­mat« endet der Roman hoff­nungs­voll. Mit der Hil­fe eines cle­ve­ren Schwarz­markt­schie­bers erlangt die Fami­lie end­lich wie­der halb­wegs festen Boden unter den Füßen. Und auch dem Jun­gen wird es leicht ums Herz, wenn er nach den Schul­ar­bei­ten durch die grü­nen Fel­der in den duf­ten­den, blü­hen­den Wald lau­fen kann. »Und alles, alles ist gut«, heißt der Schlusssatz.

Bitt­ner hat einen brand­ak­tu­el­len histo­ri­schen Roman über Krieg und Ver­trei­bung geschrie­ben. Wer in ihn ein­taucht, erhält eine Lese­the­ra­pie gegen poli­ti­schen Gedächt­nis­ver­lust, gegen Frie­dens­ver­ges­sen­heit, und er spei­chert gei­sti­ges Gegen­gift gegen den aktu­ell wie­der regie­rungs­of­fi­zi­ell pro­pa­gier­ten Wahn, dass wir mit unse­ren rus­si­schen Nach­barn nicht anders als aus einer Posi­ti­on der mili­tä­ri­schen Stär­ke reden könnten.

Wolf­gang Bitt­ner: »Die Hei­mat, der Krieg und der Gol­de­ne Wesen. Ein deut­sches Lebens­bild«, Zeit­geist-Ver­lag, 351 Sei­ten, 21,90 €