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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Sickergift des Vergessens

Schnell getex­tet, in Win­des­ei­le von Ber­lin in alle Him­mels­rich­tun­gen und auch bis nach Ham­burg geweht: der Song »Sai­gon ist frei« des Okto­ber­klubs mit dem ein­gän­gi­gen Refrain »Alle auf die Straße/​Rot ist der Mai/​Alle auf die Straße/​Saigon ist frei«.

Wir san­gen die Lied­zei­len wäh­rend des Mar­schie­rens auf der gewerk­schaft­li­chen Demon­stra­ti­on zum 1. Mai 1975. Am Vor­tag, dem 30. April und damit vor genau 45 Jah­ren, war Sai­gon gefal­len, am 1. Mai kapi­tu­lier­te die von den USA im Stich gelas­se­ne süd­viet­na­me­si­sche Regie­rung. Die direk­te Kriegs­be­tei­li­gung der USA hat­te schon mit der am 27. Janu­ar 1973 unter­zeich­ne­ten Ver­ein­ba­rung des Waf­fen­still­stands zwi­schen Nord­viet­nam und den USA geen­det, der letz­te US-Sol­dat hat­te am 23. März 1973 Süd­viet­nam ver­las­sen. Aber Waf­fen­lie­fe­run­gen an das süd­viet­na­me­si­sche Regime und die Tätig­keit ame­ri­ka­ni­scher »Bera­ter« waren weitergegangen.

Pas­send zum Jah­res­tag hat Gün­ter Gie­sen­feld (82) unter dem Titel »Kon­text Viet­nam – Histo­ri­sche Fein­ana­ly­sen und poli­ti­sche Per­spek­ti­ven« ein Resü­mee sei­nes Enga­ge­ments vor­ge­legt. Seit 1969 ist er in der Viet­nam­be­we­gung aktiv. 1976 war er Grün­dungs­vor­sit­zen­der der Freund­schafts­ge­sell­schaft Viet­nam, an deren Spit­ze er auch heu­te noch steht. Seit 50 Jah­ren beglei­tet er publi­zi­stisch die Ent­wick­lung des Lan­des mit Repor­ta­gen von sei­nen Rei­sen und Begeg­nun­gen sowie mit Refle­xio­nen über den anti­ko­lo­nia­len und anti­im­pe­ria­li­sti­schen viet­na­me­si­schen Kampf.

Sein aktu­el­les Sach­buch wird von der Sor­ge beglei­tet, dass in Anbe­tracht des zeit­li­chen Abstands das Sicker­gift des Ver­ges­sens immer häu­fi­ger Bestre­bun­gen begün­stigt, die US-ame­ri­ka­ni­sche Aggres­si­on umzu­deu­ten und im Sin­ne aktu­el­ler geo­po­li­ti­scher Inter­es­sen zu »ent­schär­fen«.

Gie­sen­feld schreibt dage­gen an. In dem »Arbeits­ta­ge­buch 1983« gibt er einen Ein­blick in die ersten insti­tu­tio­nel­len Freund­schafts­be­mü­hun­gen zwi­schen bun­des­deut­schen Akti­vi­sten und viet­na­me­si­schen Part­nern. Fast ein Buch im Buche ist das anschlie­ßen­de 150 Sei­ten umfas­sen­de Kapi­tel über den Viet­nam­krieg (»Von Dien Bien Phu nach Genf«). Ihm folgt eine kri­ti­sche Ana­ly­se der viel gelob­ten Fern­seh­se­rie des US-ame­ri­ka­ni­schen Sen­ders PBS, die vor eini­ger Zeit auch von Arte in einer eige­nen Schnitt­fas­sung gesen­det wur­de, nach Gie­sen­feld »nur ein neu­er Ver­such, US-Kriegs­ver­bre­chen in Viet­nam als ›Tra­gö­di­en‹ zu ver­harm­lo­sen«. Gie­sen­feld wirft auch einen Blick auf »Kam­bo­dscha nach dem Krieg« (1979) und por­trä­tiert abschlie­ßend inter­na­tio­nal bekann­te viet­na­me­si­sche Schriftsteller.

Was die Pro­gno­se für das Enga­ge­ment angeht, »dem all die­se Tex­te ent­sprun­gen sind«, so ist er eher pes­si­mi­stisch: »Soli­da­ri­tät, das war mal, ist man ver­sucht zu resi­gnie­ren. Aber auch hier gilt: Wenn über­haupt, kann nur aus der Ana­ly­se des­sen, was in unse­rem Bei­sein, aber gegen unse­ren Wil­len in unse­rem Land und in unse­rer Welt pas­siert, eine Per­spek­ti­ve ent­ste­hen. Wir wer­den sie suchen und fin­den, ohne das Davor­lie­gen­de zu entsorgen.«

Gün­ter Gie­sen­feld: »Kon­text Viet­nam«, Argu­ment Ver­lag, 362 Sei­ten, 22 €. Anm. K. N.: Die Meta­pher vom »Sicker­gift« fand ich bei Sieg­fried Lenz in »Der Über­läu­fer«, S. 101, dem 2016 post­hum erschie­ne­nen Roman aus den Jah­ren 1951/​52.