Schnell getextet, in Windeseile von Berlin in alle Himmelsrichtungen und auch bis nach Hamburg geweht: der Song »Saigon ist frei« des Oktoberklubs mit dem eingängigen Refrain »Alle auf die Straße/Rot ist der Mai/Alle auf die Straße/Saigon ist frei«.
Wir sangen die Liedzeilen während des Marschierens auf der gewerkschaftlichen Demonstration zum 1. Mai 1975. Am Vortag, dem 30. April und damit vor genau 45 Jahren, war Saigon gefallen, am 1. Mai kapitulierte die von den USA im Stich gelassene südvietnamesische Regierung. Die direkte Kriegsbeteiligung der USA hatte schon mit der am 27. Januar 1973 unterzeichneten Vereinbarung des Waffenstillstands zwischen Nordvietnam und den USA geendet, der letzte US-Soldat hatte am 23. März 1973 Südvietnam verlassen. Aber Waffenlieferungen an das südvietnamesische Regime und die Tätigkeit amerikanischer »Berater« waren weitergegangen.
Passend zum Jahrestag hat Günter Giesenfeld (82) unter dem Titel »Kontext Vietnam – Historische Feinanalysen und politische Perspektiven« ein Resümee seines Engagements vorgelegt. Seit 1969 ist er in der Vietnambewegung aktiv. 1976 war er Gründungsvorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam, an deren Spitze er auch heute noch steht. Seit 50 Jahren begleitet er publizistisch die Entwicklung des Landes mit Reportagen von seinen Reisen und Begegnungen sowie mit Reflexionen über den antikolonialen und antiimperialistischen vietnamesischen Kampf.
Sein aktuelles Sachbuch wird von der Sorge begleitet, dass in Anbetracht des zeitlichen Abstands das Sickergift des Vergessens immer häufiger Bestrebungen begünstigt, die US-amerikanische Aggression umzudeuten und im Sinne aktueller geopolitischer Interessen zu »entschärfen«.
Giesenfeld schreibt dagegen an. In dem »Arbeitstagebuch 1983« gibt er einen Einblick in die ersten institutionellen Freundschaftsbemühungen zwischen bundesdeutschen Aktivisten und vietnamesischen Partnern. Fast ein Buch im Buche ist das anschließende 150 Seiten umfassende Kapitel über den Vietnamkrieg (»Von Dien Bien Phu nach Genf«). Ihm folgt eine kritische Analyse der viel gelobten Fernsehserie des US-amerikanischen Senders PBS, die vor einiger Zeit auch von Arte in einer eigenen Schnittfassung gesendet wurde, nach Giesenfeld »nur ein neuer Versuch, US-Kriegsverbrechen in Vietnam als ›Tragödien‹ zu verharmlosen«. Giesenfeld wirft auch einen Blick auf »Kambodscha nach dem Krieg« (1979) und porträtiert abschließend international bekannte vietnamesische Schriftsteller.
Was die Prognose für das Engagement angeht, »dem all diese Texte entsprungen sind«, so ist er eher pessimistisch: »Solidarität, das war mal, ist man versucht zu resignieren. Aber auch hier gilt: Wenn überhaupt, kann nur aus der Analyse dessen, was in unserem Beisein, aber gegen unseren Willen in unserem Land und in unserer Welt passiert, eine Perspektive entstehen. Wir werden sie suchen und finden, ohne das Davorliegende zu entsorgen.«
Günter Giesenfeld: »Kontext Vietnam«, Argument Verlag, 362 Seiten, 22 €. Anm. K. N.: Die Metapher vom »Sickergift« fand ich bei Siegfried Lenz in »Der Überläufer«, S. 101, dem 2016 posthum erschienenen Roman aus den Jahren 1951/52.