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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Propaganda

»Soli­da­ri­tät« hat der­zeit Hoch­kon­junk­tur in der EU – das Wort wohl­ge­merkt, nicht die Pra­xis. Wäh­rend Poli­ti­ker wie der Bun­des­au­ßen­mi­ni­ster Hei­ko Maas die »geleb­te EU-Soli­da­ri­tät« prei­sen, erfährt Deutsch­lands Ego­is­mus in der Coro­na-Kri­se wie auch sein Zucht­mei­ster-Geha­be in der Wirt­schafts­po­li­tik Kri­tik und Ableh­nung von Län­dern, die zu den Ver­lie­rern die­ser Poli­tik gehö­ren. Der ehe­ma­li­ge Kom­mis­si­ons­prä­si­dent Jac­ques Delors warnt wegen der man­geln­den Soli­da­ri­tät in Zei­ten der Pan­de­mie vor dem Zer­fall der EU.

In einer solch kri­sen­haf­ten Pha­se ist ein »zuver­läs­si­ger« Feind viel wert. Mit sei­ner Hil­fe kön­nen Regie­run­gen die Stim­mung der Bevöl­ke­rung zu len­ken ver­su­chen, manch­mal auch vom eige­nen Ver­sa­gen ablen­ken. Das dach­ten wohl auch EU-Beam­te, als sie einen inter­nen Bericht der East Strat­Com Task Force rasch an aus­ge­wähl­te Medi­en wei­ter­ga­ben. Der Aus­wär­ti­ge Dienst der EU rich­te­te im Jahr 2015 die Task Force für »pro­ak­ti­ve Kom­mu­ni­ka­ti­on der EU-Poli­ti­ken und -Akti­vi­tä­ten« (Wiki­pe­dia) ein, um »Russ­lands lau­fen­den Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen ent­ge­gen­zu­wir­ken«, wie der Euro­päi­sche Rat begrün­de­te. Kurz vor­her hat­te bereits die NATO mit dem Stra­te­gic Com­mu­ni­ca­ti­on Cent­re of Excel­lence ein neu­es Gre­mi­um für psy­cho­lo­gi­sche Ope­ra­tio­nen ein­ge­rich­tet, um die öffent­li­che Mei­nung »zur Durch­set­zung der mili­tä­ri­schen und poli­ti­schen Inter­es­sen zu beein­flus­sen« (Tele­po­lis, 25.11.2016).

Aktu­ell ent­stand Bedarf an »pro­ak­ti­ver Kom­mu­ni­ka­ti­on«, hat­te doch Russ­land gewagt, Soli­da­ri­tät mit den vom Coro­na­vi­rus betrof­fe­nen Men­schen in Ita­li­en zu zei­gen: Es schick­te neben medi­zi­ni­schem Per­so­nal auch lebens­ret­ten­des Mate­ri­al, die ita­lie­ni­schen Regio­nen spar­ten nicht mit Dank und Aner­ken­nung. Dies umso mehr, als Deutsch­land eine sol­che prak­ti­sche Soli­da­ri­tät zuvor ver­wei­gert hat­te. Die deut­sche Medi­en­land­schaft reagier­te mit bei­na­he ein­hel­li­ger Kri­tik an Russ­land. Ohne die Infor­ma­ti­ons­quel­le zu nen­nen, behaup­te­ten Bild, FAZ, Zeit, Welt, Han­dels­blatt und auch die Tages­schau, es han­de­le sich zu 80 Pro­zent um unbrauch­ba­res Mate­ri­al, das Motiv der Rus­sen sei rei­ne Selbstdarstellung.

Auch die Vize­prä­si­den­tin der EU-Kom­mis­si­on, Vera Jou­ro­vá, Kom­mis­sa­rin für Wer­te und Trans­pa­renz – ja, das gibt es tat­säch­lich –, beklagt in der Coro­na-Kri­se vie­le Fal­sch­nach­rich­ten aus Russ­land. Sie wol­le zwar wegen unzu­rei­chen­der Bewei­se nicht von staat­lich gelenk­ten Nach­rich­ten spre­chen, stel­le aber fest, dass vie­le Pro-Kreml-Infor­ma­tio­nen von dort stamm­ten. Das Ziel sei, Äng­ste in der Bevöl­ke­rung der EU zu schü­ren. In die­sel­be Ker­be schlug das ZDF. Zur besten Sen­de­zeit brach­te »Ber­lin direkt« am 5. April einen Bericht: Auf­fäl­lig oft sei­en von rus­si­schen und chi­ne­si­schen Medi­en Des­in­for­ma­ti­on und fal­sche Gesund­heits­hin­wei­se im Inter­net und in sozia­len Medi­en ver­brei­tet wor­den. Als Quel­le nann­te man die East Strat­Com Task Force. Die ARD-Sen­dung Kon­tra­ste woll­te da nicht zurück­ste­hen: Aus­führ­lich wird dar­ge­stellt, »wie Russ­land ver­sucht, mit Coro­na die EU zu spal­ten«, die Hil­fe die­ne nur der Pro­pa­gan­da (16.4.2020).

Im Mit­tel­punkt der west­li­chen Wach­sam­keit steht meist der rus­si­sche Sen­der RT Deutsch. Es wäre naiv anzu­neh­men, Russ­land wür­de nicht ver­su­chen, die eige­ne poli­ti­sche Sicht der Lage zu ver­brei­ten. Aller­dings ist der von der Regie­rung finan­zier­te Aus­lands­sen­der, der vom Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet wird, erst 2005 gegrün­det wor­den, um laut Heise.de den schon lan­ge bestehen­den west­li­chen Medi­en wie Deut­sche Wel­le, BBC World­News, Voice of Ame­ri­ca oder Radio Free Euro­pe/​Radio Liber­ty etwas entgegenzusetzen.

Wochen­lang lief die Kam­pa­gne wäh­rend der Coro­na-Kri­se gegen »rus­si­sche Des­in­for­ma­ti­on«; im März hat­ten Bild und Tages­spie­gel begon­nen, dann wur­de sie in zahl­rei­chen Medi­en wei­ter­ge­führt, mit wenig Sub­stanz, aber har­ten Pro­pa­gan­da-Ban­da­gen: »Die bezahl­ten Pro­phe­ten des Unter­gangs. Rus­si­sche Pro­pa­gan­da­me­di­en ver­su­chen, Euro­pa zu desta­bi­li­sie­ren. Ver­fas­sungs­schutz beob­ach­tet« (BNN, 6.4.2020). Eine dif­fe­ren­zier­te Sicht oder gar eine eige­ne Über­prü­fung der etwa 150 angeb­li­chen rus­si­schen Fake News fand man nir­gends. Das blieb den Nach­Denk­Sei­ten und RT über­las­sen. Anhand eini­ger Bei­spie­le stell­te RT Deutsch dar, dass die behaup­te­ten Fake News auf schwa­chen Füßen stan­den (etwa am 6.4.2020 unter https://deutsch.rt.com/meinung/100815-desinfo-dossier-eu-gutesiegel-drauf-desinformation-drin/). Offen­sicht­lich sati­ri­sche Bei­trä­ge waren eben­so dar­un­ter wie Mei­nungs­ar­ti­kel west­li­cher Wis­sen­schaft­ler, die man nun den Rus­sen als Pro­pa­gan­da unterschob.

Zwei Bei­spie­le zei­gen den angeb­lich zer­set­zen­den Infor­ma­ti­ons­krieg der Rus­sen (fast möch­te man sagen: des Rus­sen) gegen die Wer­te des Westens. Das ZDF sah eine rus­si­sche Ver­schwö­rung dar­in, dass Exper­ten aus der Ukrai­ne in zahl­rei­chen Städ­ten auf­ge­tre­te­ne Krank­hei­ten der letz­ten Jah­re mit der wach­sen­den Anzahl ame­ri­ka­ni­scher Bio­la­bo­ra­to­ri­en in der Ukrai­ne in Zusam­men­hang brin­gen. Ein Zusam­men­hang mit Coro­na wur­de nicht behaup­tet. Aber tat­säch­lich hat­te ein ukrai­ni­scher Abge­ord­ne­ter und ehe­ma­li­ger Staats­an­walt über 15 US-Labo­ra­to­ri­en in Groß­städ­ten berich­tet, in denen Mili­tär­an­ge­hö­ri­ge töd­li­che Viren pro­du­zie­ren sol­len. Wäre es nicht sinn­voll und not­wen­dig, der Gefah­ren­quel­le nach­zu­ge­hen, statt sie als Pro­pa­gan­da abzutun?

Bemer­kens­wert auch der RT-Bericht über einen in Ber­lin leben­den rus­si­schen Schrift­stel­ler, der in einer Sen­dung deut­sche Exper­ten zitier­te, die auf einen Man­gel an Fach­kräf­ten zur Bekämp­fung der Coro­na-Kri­se hin­ge­wie­sen hat­ten. Nach Auf­fas­sung von East Strat­Com han­del­te es sich um Des­in­for­ma­ti­on. Tat­säch­lich hat­ten aber öffent­lich-recht­li­che deut­sche Sen­der in ver­schie­de­nen Bei­trä­gen Fach­kräf­te­man­gel beklagt, bei Anne Will bei­spiels­wei­se sogar vor einem Kol­laps gewarnt. Die Angst vor der Über­la­stung der Kli­ni­ken oder der Bedro­hung durch unzu­rei­chen­de Ver­sor­gung mit medi­zi­ni­schem Mate­ri­al war kei­ne Pro­pa­gan­da­mel­dung aus Russ­land oder Fake News aus Chi­na. Die ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­ker bemü­hen sich in Deutsch­land seit Wochen dar­um, die Infek­ti­ons­kur­ve abzu­fla­chen, um die Über­la­stung des Gesund­heits­we­sens wegen feh­len­der Inten­siv­bet­ten­ka­pa­zi­tä­ten zu ver­hin­dern. Alles nur Russen-Propaganda.?

Eine Nach­richt wur­de hier­zu­lan­de übri­gens nur neben­bei erwähnt: Deutsch­land rich­tet eine Luft­brücke aus Chi­na ein, um die Ver­sor­gung mit Atem­schutz­mas­ken und medi­zi­ni­schen Gütern zu sichern. Täg­lich 25 Ton­nen wer­den aus Shang­hai nach Deutsch­land geflo­gen. Ein Kampf für bes­se­re medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung statt gegen angeb­li­che Pro­pa­gan­da aus dem Osten wäre sinn­vol­ler. Denn gera­de in der Pan­de­mie konn­ten alle erken­nen, wie sehr die Markt­ori­en­tie­rung und Pri­va­ti­sie­rung des Gesund­heits­we­sens zur Aus­zeh­rung geführt hat. Statt­des­sen inten­si­vie­ren deut­sche Leit­me­di­en ihre Kam­pa­gne gegen Chi­na und die Sprin­ger-Pres­se dringt auf Scha­den­er­satz von der Volks­re­pu­blik als »Ver­ur­sa­cher der Pan­de­mie« (Ger­man For­eign Poli­cy, 17.4.2020).

Außen­mi­ni­ster Hei­ko Maas, Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er sowie EU-Prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en beton­ten aller­dings schon frü­her die Not­wen­dig­keit, gegen gesteu­er­te Desta­bi­li­sie­rung und staat­li­che Des­in­for­ma­ti­on vor­zu­ge­hen. Auch sie soll­ten ihr Augen­merk bes­ser auf eine qua­li­fi­zier­te Ver­sor­gung rich­ten und eine Bezie­hung zu ande­ren Län­dern und Völ­kern anstre­ben, die nicht durch Feind­bil­der die Pri­va­ti­sie­rung der Daseins­vor­sor­ge und die eige­ne Mili­ta­ri­sie­rung zu kaschie­ren sucht. Die Coro­na-Pan­de­mie hat auch dies deut­lich gemacht: Ohne inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen.

EU und NATO betrei­ben Pro­pa­gan­da – man­che sagen: einen Infor­ma­ti­ons­krieg – für eige­ne Macht­er­wei­te­rung, zumal »der Westen« glo­bal an Wirt­schafts­kraft und Ein­fluss ver­liert. Mas­sen­me­di­en unter­stüt­zen sie dabei. Wir müs­sen nicht Putin lie­ben und RT-Fol­lower wer­den. Wir soll­ten aber an eini­ge Fak­ten erin­nern: Wer hat wen über­fal­len und in einem Ver­nich­tungs­krieg 27 Mil­lio­nen Men­schen ermor­det? Wer hat wen – trotz gegen­tei­li­ger Zusa­gen – in den letz­ten zwan­zig Jah­ren syste­ma­tisch umzin­gelt? Beträgt etwa das Mili­tär­bud­get Russ­lands das Fünf­zehn­fa­che der NATO – oder umge­kehrt? Wer­den die Fra­gen rich­tig beant­wor­tet, brau­chen wir kein NATO Stra­te­gic Com­mu­ni­ca­ti­on Cent­re of Excel­lence, und auch die East Strat­Com Task Force erüb­rigt sich: Das könn­te eine gute Aus­gangs­la­ge sein für ehr­li­che Ver­hand­lun­gen und Ver­trä­ge mit Russ­land und China.