Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Der alte Geist, er lebet noch

Die Fische­rei kennt den Begriff der Über­fi­schung. Etwas Ver­gleich­ba­res für die länd­li­che Jagd ist mir noch nicht begeg­net. Aber es gibt den ana­lo­gen Sach­ver­halt in den Wäl­dern. Die Schorf­hei­de – mit vier­zig­tau­send Hekt­ar Deutsch­lands größ­tes geschlos­se­nes Wald­ge­biet – hat heu­te nur noch zehn Pro­zent des ein­sti­gen Wild­be­stan­des. Und die Pegel der mei­sten Gewäs­ser im süd­li­chen Aus­läu­fer der Meck­len­bur­gi­schen Seen­plat­te lagen vor eini­gen Jahr­zehn­ten um etwa zwei Meter höher. An vie­len Seen ste­hen die Ste­ge inzwi­schen auf dem Trocknen.

Ulf Wos­ni­zek holt ein Taschen­mes­ser aus der Hosen­ta­sche. Zwei Klin­gen in Hirsch­horn gebet­tet, ein­fach, nichts Beson­de­res. Er hat das Mes­ser als Aus­zeich­nung erhal­ten, als er bester Forst­lehr­ling der DDR wur­de. Um es zu schüt­zen, steckt es in einem klei­nen Leder­etui. Das hat er auf dem Floh­markt erwor­ben. Gedacht für ein Maga­zin einer Walt­her PPK, nun steckt dar­in das Mes­ser. Es hat sowohl sym­bo­li­sche Bedeu­tung als auch, noch immer, prak­ti­schen Nutz­wert. Wos­ni­zek stammt von hier. Bis 1989 war der Wald Staats­jagd­ge­biet, das er als Teen­ager durch­streif­te. Jetzt ist er hier Revierförster.

Am Weges­rand erin­nern gül­de­ne Let­tern auf einer behaue­nen Kla­mot­te dar­an, dass Kai­ser Wil­helm II. just an die­ser Stel­le am 20. Sep­tem­ber 1898 sei­nen tau­send­sten Hirsch »von XX Enden« geschos­sen, nein, »gefällt« hat. Nicht weit ent­fernt liegt ein Find­ling mit dem schlich­ten Schrift­zug: »Gene­ral­feld­mar­schall v. Hin­den­burg 25.9.1932«. Der sei­ner­zei­ti­ge Reichs­prä­si­dent, der vier Mona­te spä­ter Hit­ler zum Reichs­kanz­ler berief, soll hier sei­nen letz­ten Bock in frei­er Natur geschos­sen haben. Die­ses Erin­ne­rungs­mal hat augen­schein­lich einen (?) Mann inspi­riert, eini­ge Hun­dert Meter wei­ter einen Stein an den Wald­we­ges­rand zu rol­len mit der Inschrift: »Mein letz­ter Hirsch 8.11.1989«. Wos­ni­zek empör­te die Nacht- und Nebel­ak­ti­on aus ver­schie­de­nen Grün­den, ließ aber den Stein lie­gen und ver­an­lass­te, dass dane­ben eine instruk­ti­ve Tafel errich­tet wur­de mit Fotos, der »Forst­kar­te des Mili­tär­forst­wirt­schafts­be­trie­bes Schorf­hei­de« und einem sach­li­chen Text. Der erklärt, dass hier Erich Hon­ecker – zwan­zig Tage nach sei­nem erzwun­ge­nen Rück­tritt – sei­nen letz­ten Hirsch erleg­te. Man fand das tote Tier am näch­sten Tag. Wel­che Iro­nie der Geschich­te: Es war der Tag, an dem auch die DDR starb. Denn mit der Öff­nung der Staats­gren­ze war das Ende der zwei­ten deut­schen Repu­blik besiegelt.

Erich Hon­ecker war, wie es auf der Tafel heißt, 1946 zum ersten Mal in der Schorf­hei­de. Fünf­zehn Som­mer spä­ter, im Jahr des Mau­er­baus, erklär­te er das Are­al zum Staats­jagd­ge­biet – nicht Staats- und Par­tei­chef Ulb­richt, der, im Unter­schied zu sei­nem Nach­fol­ger, kein Nim­rod war. Das Jagd­ge­biet erfuhr ste­te Erwei­te­rung, am Ende war es auf über zwan­zig­tau­send Hekt­ar ange­wach­sen. Etwas abseits von Groß Schö­ne­beck, mit­ten in jenem Wald, befand sich das ein­sti­ge Wohn­haus eines Elch­wäch­ters nebst Pfer­de­stall, das wur­de Hon­eckers Jagd­hüt­te »Wild­fang«.

Seit 2017 ist das Anwe­sen wie­der ver­pach­tet. Nach einer Pha­se der Nut­zung durch Natur­schüt­zer stand das Haus eini­ge Zeit leer. Die Natur­wacht zog zum Bahn­hof in Groß Schö­ne­beck – End­sta­ti­on der berühm­ten Hei­de­kraut­bahn von Ber­lin – und in Wild­fang der übli­che Van­da­lis­mus ein. Der jet­zi­ge Päch­ter, ein Ban­ker mit ost­deut­schen Wur­zeln, reno­viert nun­mehr seit meh­re­ren Jah­ren das Objekt mit Gespür für Geschich­te und den Geni­us loci. Das zeigt sich nicht nur dar­in, dass in den bereits wie­der­her­ge­stell­ten Räu­men Gemäl­de von Hon­eckers Enkel hän­gen. Rober­to Yáñez ver­brach­te sei­ne Kind­heit hier, ab und an schickt er dem neu­en Bewoh­ner Bil­der aus Val­pa­rai­so. Das ist der ein­zi­ge noch bestehen­de Kanal zur Fami­lie in Chi­le, nach­dem die Toch­ter der Hon­eckers, sei­ne Mut­ter Son­ja Yáñez, im Febru­ar 2022 ver­stor­ben ist.

Im Unter­schied zur Jagd­hüt­te Wild­fang exi­stiert das einst nur weni­ge Hun­dert Meter ent­fernt gele­ge­ne Bade­haus am Ufer des Gro­ßen Pin­now­sees nicht mehr. Ulf Wos­ni­zek brei­tet die Arme aus. Der Schilf­gür­tel ist nach­ge­wach­sen, wo einst ein klei­ner Strand war. Das Holz­häus­chen bil­de­te die Kulis­se auf einem Foto auf der ersten Sei­te im Neu­en Deutsch­land vom 1. Juni 1973, ohne dass ver­ra­ten wur­de, um wel­ches Anwe­sen es sich han­del­te. In der Bild­un­ter­schrift hat­te es ledig­lich pro­to­kol­la­risch gehei­ßen: »Der Erste Sekre­tär des ZK der SED, Erich Hon­ecker, emp­fing am Don­ners­tag­nach­mit­tag die Vor­sit­zen­den der SPD- und der FDP-Frak­ti­on im Bun­des­tag der BRD, Her­bert Weh­ner und Wolf­gang Mischnick, zum Abschluss ihres Auf­ent­hal­tes in der DDR zu einem gemein­sa­men Gespräch.«

Wor­über bei Kaf­fee und Kuchen am Ufer des Pin­now­sees par­liert wor­den war, ver­riet jüngst Egon Krenz im ersten Band sei­ner Memoi­ren »Auf­bruch und Auf­stieg 1937-1973«. »Die bun­des­deut­schen Medi­en ver­brei­te­ten spä­ter, Weh­ner sei wegen huma­ni­tä­rer Ange­le­gen­hei­ten in die DDR gefah­ren. Als Beleg dien­ten die soge­nann­ten Kof­fer­fäl­le. So bezeich­ne­te man im Westen offe­ne Aus­rei­se­pro­ble­me. DDR-Bür­ger saßen prak­tisch auf gepack­ten Kof­fern, und um die­se Fäl­le zu klä­ren, habe sich Weh­ner ent­schlos­sen, nach Ber­lin zu rei­sen und mit Hon­ecker dar­über zu spre­chen. Das war jedoch rei­ne Mas­ke­ra­de. Sol­che Legen­den brauch­te man als West­po­li­ti­ker, um sich bei DDR-Rei­sen nicht öffent­li­cher Kri­tik aus­zu­set­zen.« Nun, die­se Pra­xis ist nicht aus der Mode gekom­men. Wenn es heu­te um Krieg und Sank­tio­nen geht, spricht man auch vor­zugs­wei­se von Men­schen­rech­ten, die es zu wah­ren, und von huma­ni­tä­ren Kata­stro­phen, die es zu ver­hin­dern gelte.

Krenz wei­ter: Weh­ner habe um Zustim­mung zu dem am 21. Dezem­ber 1972 unter­zeich­ne­ten Grund­la­gen­ver­trag gewor­ben. Des­sen Rati­fi­zie­rung war näm­lich gefähr­det. Bay­erns Mini­ster­prä­si­dent Strauß hat­te vor dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt Kla­ge gegen den Ver­trag ein­ge­reicht, weil er gegen das Wie­der­ver­ei­ni­gungs­ge­bot des Grund­ge­set­zes ver­sto­ße. »Als Reak­ti­on woll­te die DDR mit der Rati­fi­zie­rung durch die Volks­kam­mer war­ten, bis Karls­ru­he ent­schie­den habe. Weh­ner kam mit der Bit­te des Bun­des­kanz­lers (Brandt): Nehmt das Geba­ren des Bay­ern nicht so ernst. Rati­fi­ziert den Ver­trag trotz des Stör­feu­ers aus München.«

Die Betei­lig­ten des Kaf­fee­kränz­chens sind tot, die Hüt­te ist abge­ris­sen und der von den Par­la­men­ten in Bonn und in Ber­lin schließ­lich ange­nom­me­ne Grund­la­gen­ver­trag längst ver­ges­sen. Hat es die DDR über­haupt jemals gege­ben? Über die Sache wächst Gras.

Im Gebiet liegt auch das Jagd­schloss Huber­tus­stock. Sei­nen hoch­sta­peln­den Namen ver­dankt das Haus der Tat­sa­che, dass es dem Kai­ser, den Reichs­prä­si­den­ten in der Wei­ma­rer Zeit und eben auch dem Staats­ober­haupt der DDR für reprä­sen­ta­ti­ve Auf­ga­ben dien­te. Hon­ecker begrüß­te hier unter ande­rem Bun­des­kanz­ler Hel­mut Schmidt, Franz Josef Strauß und Bert­hold Beitz, den west­deut­schen Wirt­schafts­ka­pi­tän ost­deut­scher Her­kunft, der häu­fig zum Jagen in den Osten kam. Das Gelän­de ist heu­te sehr gesi­chert, hin­ter dem Metall­zaun befin­det sich das Ringhotel/​Tagungszentrum der Wirt­schaft, das den laut­ma­le­ri­schen Titel trägt: Kom­mu­ni­ka­ti­ons­zen­trum des Bil­dungs­wer­kes der Wirt­schaft in Ber­lin und Bran­den­burg e. V., abge­kürzt bbw.

Die Zufahrt war fest ver­schlos­sen, als ich im Lich­te von übrig­ge­blie­be­nen DDR-Stra­ßen­la­ter­nen den Klin­gel­knopf drück­te und Ein­lass begehr­te. Die Dame am ande­ren Ende der Kame­ra­lei­tung erklär­te ihr Bedau­ern, mir nicht öff­nen zu kön­nen. Selbst mei­ne nach­ge­scho­be­ne Erklä­rung, dass ich nicht ins Haus, son­dern es mir nur von außen betrach­ten wol­le, erweich­te sie nicht. Die Teil­neh­mer der Tagung könn­ten sich allein durch mei­ne Anwe­sen­heit auf der Objekt­stra­ße belä­stigt füh­len. Sie sag­te tat­säch­lich »belä­stigt«. Ich Helot hat­te hier also nichts verloren.

Er lebt also noch, der alte Geist von ari­sto­kra­ti­scher Sie­ger­macht und Herr­lich­keit. Ich Naiv­ling dach­te, der neue Geist der Demo­kra­tie hät­te ihm den Gar­aus gemacht. Zumin­dest hier, in der Schorf­hei­de, die doch jetzt wie­der allen gehört. Angeb­lich. Zumin­dest hat­te Ulf Wos­ni­zek, der sym­pa­thi­sche Revier­för­ster, sol­ches behauptet.