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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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1848: Längst vergangen, doch gegenwärtig

Wie ein Soli­tär ragt das Jahr 1848 zu uns her­über in die Gegen­wart. End­lich schien die Zeit gekom­men, um mit dem Flicken­tep­pich aus 34 deut­schen Klein­staa­ten und ihrer »gro­ßen Doua­nen­ket­te«, wie Hein­rich Hei­ne die omni­prä­sen­ten Zoll­schran­ken nann­te, Schluss zu machen. Die Zeit schien reif, um auf­zu­ste­hen für einen Natio­nal­staat unter ein­heit­li­cher Füh­rung, für Pres­se­frei­heit, ein zen­tra­les deut­sches Par­la­ment, für die Auf­he­bung der Feu­dal­rech­te, für Refor­men in der Recht­spre­chung, für ein all­ge­mei­nes und direk­tes Wahl­recht, für eine libe­ra­le Ver­fas­sungs­ord­nung, kurz gesagt: für Men­schen- und Bürgerrechte.

Im Febru­ar war es in Frank­reich zur drit­ten Revo­lu­ti­on seit 1789 gekom­men, und end­lich war der Fun­ke über den Rhein gesprun­gen. Im »Vor­märz«, wie die­se Febru­ar-März-Pha­se der Revo­lu­ti­on genannt wird, ver­sam­mel­ten sich in ganz Deutsch­land Arbei­ter, Bau­ern, Hand­wer­ker, Stu­den­ten, aber auch Ange­hö­ri­ge des wirt­schaft­lich erstark­ten Bür­ger­tums, um für die­se For­de­run­gen zu demon­strie­ren. Der heu­ti­ge Platz des 18. März vor dem Bran­den­bur­ger Tor in Ber­lin erin­nert an die Demon­stran­ten, die sich dort und in den Stra­ßen der Stadt der Armee ent­ge­gen­stell­ten und getö­tet wurden.

Vor 50 Jah­ren, als sich die Ereig­nis­se jener Zeit zum 125. Mal jähr­ten, wur­de in der Bun­des­re­pu­blik in den Lehr­plä­nen der Schu­len das Ver­ständ­nis deut­scher Frei­heits­be­we­gun­gen gepflegt und der Wett­be­werb »Deut­sche Revo­lu­ti­on 1848/​49« ausgerufen.

Die mehr­fach aus­ge­zeich­ne­ten Volks­sän­ger und Lie­der­ma­cher Hein und Oss aus dem rhein­land-pfäl­zi­schen Pir­ma­sens – einem Städt­chen nicht all­zu weit ent­fernt vom Ham­ba­cher Schloss, das neben der Frank­fur­ter Pauls­kir­che zum Sym­bol der dama­li­gen Demo­kra­tie­be­we­gung wur­de – ver­öf­fent­lich­ten damals mit Bezug auf den Schul-Wett­be­werb ihre LP »Deut­sche Lie­der 1848/​49« mit Tex­ten u. a. von Hein­rich Hoff­mann von Fal­lers­le­ben, Fer­di­nand Frei­li­grath und Georg Her­wegh. Das Geleit­wort schrieb der dama­li­ge Bun­des­prä­si­dent Gustav Heinemann.

Für Hei­ne­mann war, wie es auf der aktu­el­len Home­page der Bun­des­prä­si­den­ten zu lesen steht, auch 30 Jah­re nach dem Zwei­ten Welt­krieg immer noch die »Über­win­dung der Unter­tä­nig­keit und die Erzie­hung der Deut­schen zu mün­di­gen Men­schen mit bür­ger­li­chem Han­deln und Ver­hal­ten, die sich aktiv für die frei­heit­li­che Demo­kra­tie, die Recht­staat­lich­keit und sozia­le Gerech­tig­keit ein­set­zen soll­ten«, eines der dring­lich­sten Anliegen.

Es ist erschreckend, wie wenig die­se For­de­rung auch 50 Jah­re spä­ter an Aktua­li­tät ein­ge­büßt hat. Zwei Lehr­jah­re Coro­na-Pan­de­mie haben uns vor Augen geführt, wie wich­tig und not­wen­dig es ist, wei­ter­hin für Grund­rech­te und par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie offen­siv ein­zu­tre­ten. Und sie haben uns ver­mit­telt, dass sich die Demo­kra­tie stär­ker als bis­her gegen ihre Geg­ner, gegen ihre Fein­de weh­ren muss.

In zwei Wochen schrei­ben wir das Jahr 2023, und dann wer­den sich zum 175. Mal die Ereig­nis­se von 1848/​49 jäh­ren. Aber wer kennt oder singt heu­te noch das »Hecker-Lied«, so wie wir damals in den 1970er Jah­ren? Das »Bür­ger­lied«? »Die freie Repu­blik«? Das »Trotz alledem«?

Immer­hin, als im ver­gan­ge­nen Monat uns der 9. Novem­ber wie all­jähr­lich als »deut­scher Schick­sals­tag« in Erin­ne­rung geru­fen wur­de, been­de­te die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung ihre Auf­zäh­lung der bedeu­tend­sten histo­ri­schen Ereig­nis­se zu die­sem Datum nach der Erwäh­nung der Jah­re 1989 (Tag des Mau­er­falls), 1938 (»Reichs­po­grom­nacht«), 1923 (Putsch­ver­such Hit­ler-Luden­dorff) nicht wie sonst üblich mit der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on 1918 und der Aus­ru­fung der Wei­ma­rer Repu­blik, son­dern erwähn­te auch »das Schei­tern der demo­kra­ti­schen März­re­vo­lu­ti­on von 1848« unter die­sem Datum. Am 9. Novem­ber 1848 war der in Köln gebo­re­ne Abge­ord­ne­te der Frank­fur­ter Natio­nal­ver­samm­lung und Schrift­stel­ler Robert Blum in Wien unter Miss­ach­tung sei­ner Immu­ni­tät stand­recht­lich erschos­sen wor­den. Und einen Tag spä­ter war der preu­ßi­sche Gene­ral­feld­mar­schall Fried­rich von Wran­gel mit sei­nen Trup­pen ins revo­lu­tio­nä­re Ber­lin ein­mar­schiert und hat­te die Revo­lu­ti­on beendet.

Zur 175. Wie­der­kehr der deut­schen Revo­lu­ti­on von 1848/​49 hat der Schrift­stel­ler und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jörg Bong, bis 2019 Ver­le­ger des S. Fischer Ver­lags, die Ereig­nis­se der Jah­re 1848/​49 aus ihrem Schat­ten­da­sein her­aus­ge­holt, um sie ganz im Sin­ne Gustav Hei­ne­manns »ins Bewusst­sein unse­res Vol­kes« zu heben und so deut­lich zu machen, »wie schon damals für unse­re heu­ti­gen Grund­rech­te gekämpft« wor­den ist. Der Anlass für das Buch sei Wut gewe­sen, schreibt der Rezen­sent der Zeit nach sei­nem Gespräch mit dem Autor. »Wut dar­über, dass das poli­ti­sche Ver­mächt­nis die­ser Zeit, allen vor­an der Wil­le zur Demo­kra­tie, so gut wie ver­ges­sen sei.«

Das Buch »Die Flam­me der Frei­heit« ist Anfang Okto­ber erschie­nen. Das lei­den­schaft­li­che Enga­ge­ment des Ver­fas­sers für die dar­ge­stell­te The­ma­tik, sei­ne Sym­pa­thie für die frü­hen Demo­kra­tin­nen und Demo­kra­ten von 1848/​49, ist von Kapi­tel zu Kapi­tel spür­bar. Ihnen hat er das Buch gewid­met, 15 Frau­en und 38 Män­ner führt er – »stell­ver­tre­tend« – im Anhang nament­lich auf.

Dass die­ses Geschichts­buch so gut les­bar daher­kommt, fast wie ein Roman, ver­dankt sich auch der schrift­stel­le­ri­schen Fähig­keit des Ver­fas­sers, der nicht nur in Frank­furt am Main, son­dern auch in der Bre­ta­gne zu Hau­se ist, auf einem ande­ren Gebiet. Unter dem Pseud­onym Jean-Luc Ban­na­lec hat Bong zahl­rei­che im bre­to­ni­schen Fini­stère ange­sie­del­te Kri­mi­nal­ro­ma­ne mit »Kom­mis­sar Dupin« in der Haupt­rol­le geschrie­ben, von denen neun im Auf­tra­ge der ARD ver­filmt wurden.

Bong beginnt sei­nen Bericht über die 1848er Ereig­nis­se in Paris, mit der am 24. Febru­ar erzwun­ge­nen Abdan­kung des fran­zö­si­schen Königs und der Flucht des Königs­paars über den Ärmel­ka­nal ins eng­li­sche Exil. Miss­ern­ten, extre­me Ungleich­heit und Unge­rech­tig­keit – ein Pro­zent der Fran­zo­sen war im Besitz der gesell­schaft­li­chen Macht und des Reich­tums – hat­ten eine explo­si­ve revo­lu­tio­nä­re Mischung erge­ben. Jetzt hieß es für die Mon­ar­chie: Rien ne va plus.

Die deut­sche Revo­lu­ti­on begann schon zwei Tage spä­ter, am 26. Febru­ar, sin­ni­ger­wei­se im Pari­ser Hof, einem Gast­haus in der badi­schen Resi­denz­stadt Karls­ru­he, wo die Nach­richt vom Auf­stand in Paris in eine Zusam­men­kunft revo­lu­tio­när gesinn­ter Akti­vi­sten platz­te. In der Fol­ge ent­wirft Bong das »Pan­ora­ma einer Zeit im Umbruch: Von den ersten revo­lu­tio­nä­ren Ver­samm­lun­gen Ende Febru­ar bis hin zu den Schlach­ten einer demo­kra­ti­schen Armee der Frei­heit gegen die Trup­pen des Bundes«.

Ist die 1848er/​49er Revo­lu­ti­on geschei­tert? Die­ses Eti­kett haf­tet ihr an. Sicher­lich ist sie geschei­tert in dem Sin­ne, dass so man­che For­de­rung uner­füllt blieb, dass weder »Einig­keit und Recht und Frei­heit« noch der ein­heit­li­che Natio­nal­staat erreicht wur­den. Aber: Im Dezem­ber 1848 wur­den in der Pauls­kir­che immer­hin die »Grund­rech­te« ver­ab­schie­det, die unse­re heu­ti­ge Ver­fas­sung in wei­ten Tei­len vorwegnahmen.

Der eng­li­sche Histo­ri­ker Chri­sto­pher Clark hat vor Jah­ren an der Goe­the-Uni­ver­si­tät in Frank­furt am Main in einem Vor­trag »das Bild von der geschei­ter­ten Revo­lu­ti­on» revi­diert und die von ihr inspi­rier­ten Ver­än­de­run­gen über den natio­na­len Rah­men hin­aus in einen euro­päi­schen Kon­text gestellt: »Das Ent­ste­hen neu­er tech­no­kra­tisch-ori­en­tier­ter Koali­tio­nen der poli­ti­schen Mit­te, die Ein­bin­dung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ne in den poli­ti­schen Pro­zess und fun­da­men­ta­le Neue­run­gen im Infor­ma­ti­ons­ma­nage­ment der Regie­run­gen gegen­über der Öffent­lich­keit« hät­ten ihre Wur­zeln in der 1848er Revolution.

Die Ant­wort Jörg Bongs auf die Fra­ge nach dem Schei­tern der Revo­lu­ti­on müs­sen wir abwar­ten. Der vor­lie­gen­de Band ist der erste einer Tri­lo­gie. Band 2, »Tage der Ent­schei­dung«, ist für den 5. Okto­ber 2023 ange­kün­digt. Er soll die dra­ma­ti­schen Debat­ten im ersten deut­schen Par­la­ment um eine demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung und die histo­ri­schen Kämp­fe für Volks­sou­ve­rä­ni­tät und gegen Für­sten­will­kür in Frank­furt, Wien und Ber­lin in der zwei­ten Hälf­te des Jah­res 1848 beinhal­ten. Band 3, »Frei­heit oder Tod«, ist für den 2. Okto­ber 2024 ange­kün­digt. Er soll den Zeit­raum von Janu­ar bis Juli 1849 umfas­sen mit der berühm­ten »Ver­fas­sungs­kam­pa­gne« für die Aner­ken­nung der Pauls­kir­chen­ver­fas­sung durch die deut­schen Für­sten und die end­gül­ti­ge Nie­der­schla­gung der Demo­kra­tie­be­we­gung über­all in Deutschland.

Viel­leicht aber kommt ein lite­ra­ri­sches Werk der Ant­wort auf die Fra­ge nach dem histo­ri­schen Stel­len­wert der Revo­lu­ti­on von 1848/​49 nahe, für die 1928 nach Brecht, Bar­lach, Frank, von Unruh, Zuck­may­er und Hasen­cle­ver die bis dato unbe­kann­te Schrift­stel­le­rin Anna Seg­hers den Kleist­preis erhielt? Schon im ersten Abschnitt ihrer Erzäh­lung »Auf­stand der Fischer von St. Bar­ba­ra« hat sie Schei­tern und Auf­bruch untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den: »Aber längst, nach­dem die Sol­da­ten zurück­ge­zo­gen, die Fischer auf See waren, saß der Auf­stand noch auf dem lee­ren, wei­ßen, som­mer­lich kah­len Markt­platz und dach­te ruhig an die Sei­ni­gen, die er gebo­ren, auf­ge­zo­gen, gepflegt und behü­tet hat­te für das, was für sie am besten war.«

Die Flam­me der Frei­heit ist 1848/​49 nicht erlo­schen. Ihre Geschich­te hat Jörg Bong auf­ge­schrie­ben. Sein Buch soll­te im kom­men­den Jubi­lä­ums­jahr Ein­gang in den Geschichts­un­ter­richt an den Schu­len finden.

Jörg Bong: Die Flam­me der Frei­heit – Die deut­sche Revo­lu­ti­on 1848/​49, Kie­pen­heu­er & Witsch, Köln 2022, 555 S., 29 €. 

»Hein und Oss: Deut­sche Lie­der 1848/​49« ist noch als CD erhält­lich, eben­so wie die 1973 erschie­ne­nen »Lie­der der deut­schen Revo­lu­ti­on – 1848« von Die­ter Süverkrüp. 

In mei­nem Ham­bur­ger Stadt­be­zirk gibt es eine Robert-Blum-Stra­ße und, eini­ge Kilo­me­ter ent­fernt, im soge­nann­ten »Gene­rals­vier­tel« neben ande­ren noch immer nach preu­ßi­schen Gene­rä­len benann­ten Stra­ßen auch eine Wrangelstraße.