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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Steinacker der Herkunft

Das Durch­ein­an­der eines Lebens ist nicht gerad­li­nig zu erzäh­len – bei einem Lebens­lauf in einer Fami­lie wie die­ser schon gar nicht. Zudem bekun­det die Autorin, dass sie auto­bio­gra­fi­sches Schrei­ben »abwe­gig fand«. Wenn nun aber jemand schon in Kin­der­jah­ren und als Jugend­li­che Heft um Heft mit Tage­buch­auf­zeich­nun­gen füllt und als rei­fe, erfolg­rei­che Schrift­stel­le­rin mit solch einem Buch an die Öffent­lich­keit tritt – muss da nicht der Ruf »Koket­te­rie« erschal­len? Kei­nes­wegs. Schrei­ben muss hier als Über­le­bens­trai­ning begrif­fen wer­den, die Publi­ka­ti­on viel­leicht, auch wenn es hehr klingt, als Ver­such der Befrei­ung von Gespen­stern und Dämo­nen. Und die wird man, wie man vom uralt gewor­de­nen Faust bei Goe­the ler­nen kann, »schwer­lich los«.

Nun, es muss offen­blei­ben, ob Befrei­ung oder Teil­be­frei­ung hier gelang. Auf jeden Fall erlebt der Leser den muti­gen Auf­tritt einer Schrift­stel­le­rin mit der Prä­sen­ta­ti­on ihres Lebens. Und das ist nicht wenig in Zei­ten, wo Kor­rekt­heit gar zu gern zele­briert wird. Die Behaup­tung des Umschlag­tex­tes, es sei ein »schmerz­haft-schö­nes Buch der Selbst­be­haup­tung« ist wohl ein Ver­such, in die­sem Sin­ne tätig zu wer­den. Schmerz­haft ist es. Aber auch schön? Es braucht Mut, ein Buch wie die­ses zu schrei­ben, es braucht auch Mut, es zu lesen, wenn man sich auf alle Schil­de­run­gen ein­lässt. Denn bei­de, Pro­du­zent und Rezi­pi­ent, sehen sich kon­fron­tiert mit der Ver­wor­ren­heit der Bio­gra­fie, wie sie letz­ten Endes typisch für unser aller Lebens­läu­fe ist. Wir alle mühen uns auf die­sem stei­ni­gen Fel­de, und wir wer­den nicht fer­tig damit, auch nicht mit dem Scham­ge­fühl beim »Erzäh­len«.

Die Geschich­te, Julia Francks Geschich­te: Gebo­ren in Ost­ber­lin, mit acht Jah­ren nimmt ihre Mut­ter sie und ihre Schwe­stern mit in den Westen. In einem über­aus chao­ti­schen Haus­halt in einem schles­wig-hol­stei­ni­schen Bau­ern­haus wächst das Mäd­chen her­an, in Ver­hält­nis­sen, die man heu­te gern als »pre­kär« bezeich­net. Mit 13 zieht sie aus und zurück nach Ber­lin, aber dies­mal nach West­ber­lin. Sie lebt von Sozi­al­hil­fe, muss sich Geld mit Putz­ar­beit ver­die­nen, ist auf im Grun­de frem­de Men­schen ange­wie­sen. Als sie end­lich ihren Vater ken­nen­lernt, ist es zu spät für ein Vater-Toch­ter-Ver­hält­nis. Sie ver­liert ihn wie auch ihre gro­ße Lie­be Ste­phan an den Tod.

Den Osten frei­lich wird das Mäd­chen, die jun­ge Frau nicht los. Er hängt ihr an in der Gestalt ihrer Fami­lie, und es sind sämt­lich eben­so stei­ni­ge Bio­gra­fien, geprägt von den Schreck­lich­kei­ten des 20. Jahr­hun­derts und des Beginns des ihm fol­gen­den. Ables­bar etwa am Leben der Groß­mutter Inge, einer Bild­haue­rin. Des­sen Schil­de­rung gibt zugleich Gele­gen­heit zur Erwäh­nung all der gro­ßen »DDR-Namen«, die dort aus- und eingingen.

Dass der Wirr­warr die­ses Lebens sich im Text wider­spie­gelt, ist klar. Den­noch: Man­che Wie­der­ho­lung wäre wohl zu umge­hen gewe­sen, mit­un­ter häu­fen sich die Erwäh­nun­gen von Büchern, Fil­men und Musik­ti­teln – und man­che, auch sprach­li­che, Unge­nau­ig­kei­ten wären eben­so ver­meid­bar gewe­sen. Am mei­sten neh­men einen die kar­gen Sät­ze gefan­gen, manch­mal aber, beson­ders bei der Dar­stel­lung der Lie­be zu und mit Ste­phan, gerät der Text haar­scharf an den Rand des Zuckerzusatzes.

Die schön­sten Sät­ze des Buches jedoch ste­hen an sei­nem Beginn und sind auch Pro­gramm: »Auch in mei­nem wirk­li­chen Leben habe ich eine Mut­ter, vier Schwe­stern und Freun­de, die ich lie­be. Auch in die­sem wirk­li­chen Leben habe ich näch­ste Men­schen viel zu früh an den Tod ver­lo­ren und lebe den­noch bis ans Ende mit ihnen. Ich kann­te sie, ken­ne sie und wer­de sie in Zukunft etwas anders ken­nen. Weder sie noch ich selbst blei­ben dieselben.«

So lässt sich Bio­gra­fie erzäh­len und begreifen.

Julia Franck: Wel­ten aus­ein­an­der, S. Fischer Ver­lag, Frank­furt am Main 2021, 368 S., 23 €.