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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von Fliegen

Der Tho­mas-Altar von um 1500, aus­ge­stellt im Köl­ner Wall­raf-Rich­artz-Muse­um, birgt an der rech­ten Flü­ge­lin­nen­sei­te ein bei­läu­fig mei­ster­li­ches Detail, eine aufs Fein­ste gepin­sel­te Flie­ge, die eine win­zi­ge Flie­gen­dreck­spur hinterlässt.

Frei­tag in Ber­lin, Bahn­hof Zoo­lo­gi­scher Gar­ten, im 145er singt und lärmt ein Betrun­ke­ner, der sich wei­gert, den Bus zu ver­las­sen. Alles ist genervt. Der Fah­rer infor­miert schließ­lich über Funk die Poli­zei. Da ver­kün­det der fröh­li­che Lär­mer: »Wenn jemand ›Flie­ge‹ ruft, gehe ich!« Eine jun­ge Frau baut sich vor ihm auf, sagt »Flie­ge« – und der Mann schwankt sin­gend von dannen.

Ein hal­bes Jahr­hun­dert zuvor schlug ich an einem frü­hen Dezem­ber­abend ver­geb­lich nach einer Stu­ben­flie­ge, und mein Vater hielt mei­nen Arm in der Bewe­gung fest. Er ver­tei­dig­te die letz­te Flie­ge des Jah­res im Haus, der nichts zu Lei­de getan wer­den dür­fe, so vie­le som­mers auch auf Flie­gen­leim­fän­gern ver­en­det sein mögen.

Es lebe die Stu­ben­flie­ge, mus­ca dome­sti­ca! Die geflü­gel­te Muse der Dich­ter, Aus­weich­künst­le­rin auch sie, die die Lam­pen ihrer Ein­fäl­le ewig umkreist. Oh, ihr Flie­gen, wah­re Mus­a­ge­ten der Poe­ten, mein­te schon Goe­then. Lein­wand­groß sehe ich sie mit Kugel­au­gen star­ren, facet­ten­äu­gig und kal­ten Blicks aus einem Hor­ror­film in den »Löns-Licht­spie­len« mei­nes Dor­fes. Da war mir die Poe­sie der Ein­tags­flie­ge noch gänz­lich unbe­kannt, das von Rin­gel­natz so fein mit­ge­fühl­te Zeit- und Schmerz­emp­fin­den ihres gan­zen Lebens.

Doch, Flie­gen­schiss und Augen­pul­ver, ich wuss­te auch nichts von im Blei­satz der Drucke­rei­en sich ver­ber­gen­den »Flie­gen­köp­fen«, einem Fach­be­griff der Drucker­spra­che. Lexi­ka­lisch ste­hen sie dort ver­lo­ren zwi­schen »Flie­gen­des Blatt« und »FM Raster«, wer­den aber heu­te kaum noch begriff­lich ver­merkt, weil es die einst ver­se­hent­lich ver­kehrt her­um gesetz­ten Buch­sta­ben so gut wie nicht mehr gibt, die Let­tern des klas­si­schen Blei­sat­zes. So wur­de bereits nost­al­gisch eine in den 1990er Jah­ren in Han­no­ver erschie­ne­ne Rei­he von Pro­sa­blät­tern »Flie­gen­köp­fe« benannt, nach den Lese­aben­den lite­ra­ri­scher Klein­kunst unter glei­chem Namen, die die Drucke­rei Inter­druck hin und wie­der ver­an­stal­te­te. Über gut zwölf Jah­re hin­weg erschien die Flie­gen­köp­fe-Pro­sa* eines bun­ten han­no­ver­schen Schreib­völk­chens. An Frei­tag­aben­den fand es sich mit Publi­kum in der geöff­ne­ten Drucke­rei­werk­statt bei Was­ser, Wein und Wor­ten vor einer impro­vi­sier­ten Lese-Büh­ne ein. Der dama­li­ge Drucke­rei­be­trei­ber (Mat­thi­as Ber­ger, heu­te in Däh­re/­Sach­sen-Anhalt, Ossietzky Ver­lag) zog fort aus der Lei­ne­stadt, und es mutier­ten die luf­ti­gen Flie­gen­köp­fe mehr und mehr zur ambi­tio­niert per­form­ten Klein­kunst­büh­nen­welt Han­no­vers. Die lite­ra­ri­schen Insze­nie­run­gen nah­men an Fahrt auf, waren fort­an kein Podi­um mehr allein für aus­ge­klü­gel­te Blei­sät­ze poe­ti­scher Flie­gen­köp­fe, die hier nur noch Geschich­te sind.

In den »Ter­zi­nen auf eine Flie­ge« sin­nier­te ein­mal Her­bert Eulen­berg: Nun lass ich dich, du lie­be Flie­ge, flie­gen! /​ Wir buhl­ten die­sen hei­ßen Som­mer lang. /​ Wie gern sah ich dich schwin­gen und dich wie­gen. Katin­ka, heißt sei­ne Flie­ge, der er 1911 einen 326 Sei­ten umfas­sen­den »zeit­ge­nös­si­schen Roman« gewid­met hat, ein Roman, der Wal­de­mar Bon­sels wie­der­um zu sei­nem Welt­best­sel­ler über die Bie­ne Maja inspi­rier­te. So geht es.

Doch das war ein­mal. Der geflü­gel­ten Spe­zi­es steht in Zukunft noch so eini­ges bevor, wenn ich etwa an das auf­kom­men­de und rasant sich ver­brei­ten­de »Novel Food« den­ke, wo ent­spre­chend zart zube­rei­te­te Flie­gen – neben aller­lei Gril­len und ande­rem Getier – auf dem Spei­se­plan ste­hen; die Schwar­ze Sol­da­ten­flie­ge zum Beispiel.

Da fliegt mir das »Flie­gen­lied« von Paul Scheer­bart aus der Erin­ne­rung zu: Flie­ge, flie­ge, klei­ne Flie­ge! /​ Flie­ge, flie­ge in die Wie­ge! /​ Sie­ge! Sie­ge!, reim­te er in sei­ner »Kater-Poe­sie« um 1900. Ob er die Schwar­ze Sol­da­ten­flie­ge im Blick hat­te? Es lässt sich nicht mehr sagen. Scheer­bart starb im Okto­ber 1915, da war der 1. Teu­to­ni­sche Welt­krieg schon ein Jahr im Gan­ge. Die­se Gefahr und das ult­ra­mi­li­tä­ri­sche Geha­be in deut­schen Lan­den, mögen ihm die hin­ter­häl­tig-bis­si­ge, klit­ze­klei­ne geflü­gel­te Stro­phe ein­ge­ge­ben haben.

* In Erin­ne­rung an Mat­thi­as Göke (1962 – 2021) und sei­ne Text­rei­he »Flie­gen­köp­fe« oder »Flie­gen­Fal­ter«.