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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutschland – ein Stolperstein

Ende Juni hielt ich mich zu einer Fort­bil­dung in Bonn-Castell auf. Es herrsch­te eine unzu­mut­ba­re Hit­ze, die Tem­pe­ra­tu­ren lagen bei 37 Grad, im Semi­nar­raum ver­wir­bel­ten zwei Ven­ti­la­to­ren ver­geb­lich den gan­zen Tag die hei­ße Luft um uns her­um. Der Abend ver­sprach nur dann Küh­lung, wenn man sich in einen Bier­gar­ten an den Rhein begab. Aber da saß man dann wie­der, und das hat­te ich schon den gan­zen Tag getan. Mir krib­bel­ten die Bei­ne, ich muss­te lau­fen. In Ber­lin geht mir dies so ähn­lich, mei­ne Frau und ich mar­schie­ren dann, wann abends immer mög­lich, durch den hei­mat­li­chen Fried­richs­hain, des Blut­druckes wegen und so wei­ter. Also ließ ich das Bier in Bonn ste­hen, wünsch­te den ande­ren Teil­neh­mern auf den Bän­ken noch einen schö­nen Abend und mach­te mich auf den Weg: Den Rhein am lin­ken Ufer ent­lang strom­auf­wärts wan­dernd, zwi­schen den Jog­gern, Fla­nie­rern und den Ska­tern bis zur Ken­ne­dy­brücke, quer­te sie und spuck­te – alte Ange­wohn­heit – ein­mal in die strö­men­de Tie­fe unter mir. Auf der ande­ren Rhein­sei­te, nun rechts, lief ich wie­der rhein­ab­wärts, durch die Ufer­au­en, direkt in die unter­ge­hen­de Son­ne hin­ein, wo die Luft­zü­ge dann tat­säch­lich küh­ler und die Schat­ten auch schon län­ger wur­den. Ich woll­te die Fried­rich-Ebert-Brücke über­que­ren, rech­ne­te mir aus, dass ich schon unge­fähr vier, fünf Kilo­me­ter zurück­ge­legt hat­te. Da ent­deck­te ich, gleich hin­ter einer Klär­an­la­ge, einen klei­nen Fried­hof, einen jüdi­schen, wie ein Gedenk­stein am Weg mich infor­mier­te. Ich setz­te mich auf eine Bank direkt am Deich, zück­te das Han­dy und rief zu Hau­se an, den Tag Revue pas­sie­ren zu las­sen, so dies und das. Am Ende mei­nes Gesprä­ches sag­te ich dann zu mei­ner Frau: »Übri­gens, ich sit­ze hier gera­de über dem Grab von Frau Sarah Kauf­man, gestor­ben 1928.« Und berich­te­te ihr von mei­ner »Ent­deckung« am Wegesrand.

Zurück im hei­mat­li­chen Ber­li­ner Fried­richs­hain ging mir der klei­ne Fried­hof am Rhein­ufer nicht mehr aus dem Kopf. Wie fried­lich er dort so gele­gen hat­te, im schon kit­schig anmu­ten­den Abend­rot. Bei unse­ren abend­li­chen Gesund­heits­mär­schen kom­men mei­ne Frau und ich an den mes­sing­schim­mern­den Stol­per­stei­nen in der Sama­ri­ter­stra­ße, der Riga­er Stra­ße und am Ber­sa­rin­platz vor­bei, dort, wo unse­re jüdi­schen Nach­barn wohn­ten, bis sie abge­holt und in den Tod geschickt wur­den. Beim Sur­fen im Inter­net war ich Anfang des Jah­res zufäl­lig auf die pri­va­te Web­site einer Frau gesto­ßen, die sämt­li­che Depor­ta­ti­ons­op­fer in Fried­richs­hain mit Stra­ße und Haus­num­mer auf­ge­li­stet hat­te. So lern­te ich, dass die Stol­per­stei­ne in mei­nem Kiez nur an einen Bruch­teil der Opfer erin­nern und dass in dem RFT-Laden mei­ner Stra­ße, zu dem ich in DDR-Zei­ten immer mein defek­tes Kas­set­ten­deck brach­te, in der Nr. 41, von 1916 bis 1938 Mey­er Mar­gu­lis, ein ost­jü­di­scher Ein­zel­händ­ler, die Ein­woh­ner des Schlacht­hof­vier­tels mit fri­schen Eiern ver­sorgt hat­te. Und dass eine Frau Dr. Lewin­sohn in der Nr. 10 bis 1933 in ihrer Sexu­al­be­ra­tungs­stel­le für die Pro­le­ta­rie­rin­nen des Zen­tral­vieh­ho­fes tätig gewe­sen war. Für die­se bei­den und die vie­len Unge­nann­ten gibt es noch kei­ne Stol­per­stei­ne. Und kann es wohl auch nicht geben, denn der­ar­tig vie­le Stol­per­stei­ne für die ver­schlepp­ten Nach­barn, für sol­che auch, die sich in den Jah­ren des Nazi­ter­rors in ihren Woh­nun­gen das Leben nah­men (in Ber­lin schät­zungs­wei­se allein 1800 Men­schen), wür­den wohl auch unse­re Auf­merk­sam­keit nicht mehr auf sich zie­hen, wir wür­den nicht mehr inne­hal­ten, weil sie in ihrer unfass­ba­ren Men­ge eine Ver­fla­chung unse­rer kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung bewirk­ten. Eine aus­ge­wähl­te Anzahl an Stol­per­stei­nen hin­ge­gen kann unser Gedächt­nis wach­hal­ten für das, was unse­ren Mit­men­schen, Nach­barn, Arbeits­kol­le­gen und deren Fami­li­en ange­tan wur­de. In gewis­ser Wei­se kann man eine ähn­li­che Pro­ble­ma­tik auch auf die Erfor­schung der Ermor­dung der euro­päi­schen Juden­heit über­tra­gen. In zehn bis fünf­zehn Jah­ren wird es welt­weit kei­ne jüdi­schen Über­le­ben­den mehr geben, die von Ent­rech­tung und Mas­sen­mord noch per­sön­lich Zeug­nis geben könn­ten. Die Doku­men­ta­ti­on und Erfor­schung im Bereich der Scho­ah hin­ge­gen wird vor­an­schrei­ten, sie wird Aus­kunft geben kön­nen über Vie­les, was bis­lang noch nicht erfasst wur­de. Doch wel­che Hil­fe­stel­lun­gen für die Gegen­wart, für unse­re Zukunft kön­nen aus histo­ri­schen Quel­len­la­gen gezo­gen wer­den, wenn es gegen Anti­se­mi­tis­mus, Rechts­extre­mis­mus oder Xeno­pho­bien jeg­li­cher Art zu argu­men­tie­ren gilt? Ganz ehr­lich? Ich glau­be, gar keine.

Ich habe deut­schen Anti­se­mi­tis­mus bis heu­te ratio­nal nie ver­ste­hen kön­nen, und irra­tio­nal fin­de ich auch kei­nen Weg zu ihm. Ratio­nal gese­hen ist klar, dass sich Deutsch­land vor acht­zig Jah­ren nicht nur des größ­ten und ersten indu­stri­ell durch­ge­führ­ten Mas­sen­mor­des der Geschich­te schul­dig gemacht hat. Klar ist aber auch, dass das dama­li­ge »Drit­te Reich« uns als die Nach­ge­bo­re­nen und die gesam­te Welt durch das sin­gu­lä­re Aus­maß an Dis­kri­mi­nie­rung und Tötung sei­ner eige­nen, spä­ter der euro­päi­schen jüdi­schen Bevöl­ke­rung, gei­stig und see­lisch bis heu­te unwi­der­ruf­lich ampu­tiert hat. Und dass natio­nal­so­zia­li­sti­sche Ideo­lo­gie und faschi­stisch-auto­ri­täts­gläu­bi­ge Grund­hal­tun­gen allen ande­ren auch Tod und Ver­nich­tung brach­ten, sei es nun in Sta­lin­grad, sei es unterm Fall­beil in Plöt­zen­see, mit der Phe­nol­sprit­ze der Eutha­na­sie, in den Luft­schutz-kel­lern des Bom­ben­ha­gels. So gese­hen ist ganz Deutsch­land ein ein­zi­ger Stol­per­stein. Aber: Nicht alle Opfer waren Juden, aber alle Juden waren Opfer – so hieß es seit 1945, und so ist es auch. Dass rech­ter Natio­na­lis­mus und Hass, auf wen auch immer – Juden, Libe­ra­le, Kom­mu­ni­sten, Frau­en, Homo­se­xu­el­le, Polen, Rus­sen und nicht zuletzt auch auf sich selbst – zumin­dest die deut­sche Nati­on ter­ri­to­ri­al, kul­tu­rell und mora­lisch in den letz­ten ein­hun­dert Jah­ren zwei­mal fast gänz­lich ver­nich­tet hat, müss­te doch auch dem letz­ten AfD-Wäh­ler klar sein. Ist es aber nicht. Denn das Refu­gi­um des gegen­wär­ti­gen Has­ses ist und bleibt das Irra­tio­na­le. Aber auch ein Phi­lo­se­mi­tis­mus, wie er als intel­lek­tu­el­les Vehi­kel vie­len heu­ti­gen Bil­dungs­bür­gern als Aus­weis ihrer mora­li­schen Inte­gri­tät daher­kommt, ist lei­der nicht glaub­wür­dig, wenn man gleich­zei­tig Res­sen­ti­ments gegen Mos­lems, Roma, sozi­al Schwa­che oder »Bil­dungs­fer­ne« erken­nen lässt. Will man sich sel­ber heu­te, da sich immer mehr Deut­sche ein­mal wie­der offen als faschis­mus­af­fin, anti­se­mi­tisch und anti­de­mo­kra­tisch zu erken­nen geben, als Huma­nist ver­ste­hen, dann geht das über­haupt nur noch mit bestimm­ten, uni­ver­sel­len Prä­mis­sen, die da lau­ten: Man bekommt die Mensch­heit halt nur im Paket. Alle oder kei­ner. Wer A sagt, muss auch B sagen. Oder: Wir las­sen nie­man­den zurück. Was uns, die wir ver­hin­dern wol­len, dass Deutsch­land in Zei­ten des NSU, der AfD, des Angrif­fes auf Kipp­a­trä­ger, der Mord­ver­su­che und Mor­de an demo­kra­ti­schen Poli­ti­kern ein drit­tes Mal an sei­nen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Schwä­chen schei­tert, was uns einig machen muss, sind vor allem zwei Din­ge: Hal­tung und Opti­mis­mus. Hal­tung braucht ein gewis­ses Maß an Mut und inne­rer Stär­ke. Juden- oder Tür­ken­wit­ze nicht mit­zu­be­lä­cheln. Dem Fami­li­en­mit­glied zu sagen, dass man mit die­ser oder jener Mei­nung zur »Aus­län­der­pro­ble­ma­tik« so nicht kon­form ist. Im Büro nicht zu schwei­gen, wenn alle ande­ren sich über Flücht­lings­hel­fer oder Fri­days for Future mokie­ren, und zu sagen: »Ich sehe das etwas anders. Nur mal so.« Opti­mis­mus hin­ge­gen ist etwas, das ent­steht, wenn man sich die Zeit nimmt, die mensch­li­che Fähig­keit zur huma­ni­sti­schen Selbst­hei­lung zu betrach­ten. Nach­weis­lich hat sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten auch ein gewal­ti­ges Poten­ti­al an gesell­schaft­li­cher Basis­de­mo­kra­tie ent­wickelt, das zur Stel­le ist, wenn sich der brau­ne Mob for­miert. Ein ermu­ti­gen­des Sinn­bild in Bezug auf das jüdi­sche Deutsch­land etwa erschloss sich mir kürz­lich bei einem Besuch auf Euro­pas größ­tem jüdi­schen Fried­hof, dem in Ber­lin-Wei­ßen­see. Hier lie­gen über ein­hun­dert­tau­send jüdi­sche Ber­li­ner begra­ben, die mei­sten von ihnen beer­digt zwi­schen 1880 und 1940. Und selbst­ver­ständ­lich fin­det man gleich am Ein­gang des Fried­ho­fes den Ver­weis auf den Mas­sen­mord. Ergrei­fen­der noch sind dann die Hin­wei­se wie »Ver­schol­len im Osten« oder »Ver­stor­ben in Ausch­witz«. Inzwi­schen jedoch gibt es auch grö­ße­re Bestat­tungs­fel­der von jüdi­schen Ber­li­nern mit rus­si­schen Wur­zeln. Es sind die­se Men­schen, die uns durch ihre Ent­schei­dung, hier zu leben und zu ster­ben, Ver­trau­en schenk­ten. Und so wird uns der Kampf für eine demo­kra­ti­sche, welt­of­fe­ne Hei­mat Deutsch­land hof­fent­lich so gelin­gen, wie es auf dem Grab­stein des am 14. Dezem­ber 2016 hier begra­be­nen Dan Lahav ver­merkt ist. Dort steht zu lesen: »Er ist nicht an Lan­ge­wei­le gestorben.«