Zuerst dachte ich, da vorn auf der Bühne auf Kampnagel in Hamburg sitzt ein Mensch, der einen Roboter imitiert. Starr, die Hände bewegten sich wenig, nach einem bestimmten Muster. Ein Bein über das andere geschlagen – den ganzen Abend lang. Die Augen halb geschlossen. Kabelstücke ragten aus seinem Hinterkopf. Dann kamen Laute aus dem Mund: »hm, hm« und ein »Herzlich Willkommen«. Das klang ziemlich normal, nur die Bewegungen des Mundes, die der Lippen: falsch. Der echte Autor, Thomas Melle, tauchte manchmal im Video an der Wand auf, als Kind und in anderen Entwicklungsstadien. Er wolle den Anfang seines letzten Buches vorlesen (»Die Welt im Rücken«). Nein, er erzählte was. Neben ihm ein Laptop. Er verriet, dass Briefe nicht beantwortet werden. Und immer wieder Hinweise auf seine Bipolarität: manisch-depressive Störung. Er stellt Fragen ans Publikum, keiner antwortet. Er (wer?) sagt, die Krankheit komme ihm vor wie eine große Fälschung. Die Handbewegungen roboterhaft. Im Video Fragen nach der Identität, nun mit quäkender Stimme gesprochen. »Irgendetwas stimmt hier nicht« – ein oft wiederholter Satz. Ein Scheinwerfer, den er »Theatermaschine« nennt, hört auf seine Befehle, führt sie aus. Was wäre, wenn die Menschen so wie diese Maschine funktionieren würden – die Frage von einem Roboter gestellt. Künstliche Hilfsmittel, Prothesen für Arm oder Bein oder für die Ohren, im Video vorgestellt. Und nur von dort der echte Autor auf einem Laufband. Dieser – vielleicht echte – Mensch wird vermessen, sein Kopf von vielen Händen bearbeitet mit Flüssigkeiten, Plastik, Gips. Heraus kommt eine Büste, totenweiß, auf dem Video. Der Robotermensch auf der Bühne bewegt die Arme und singt. Erklärt dann, dass psychisch Kranke sich oft als von Computern beherrscht vorkommen und an eingepflanzte Chips glauben. Das alles ist nicht neu. Ebenso der Hinweis, dass Firmen menschenähnliche Roboter herstellen, die in Altersheimen eingesetzt werden – nicht nur in Japan. Dort nennen Forscher diese Menschenähnlichkeit »Uncanny Valley« (Unheimliches Tal). So lautet auch der Titel des Stückes, das in Zusammen-arbeit mit Rimini Protokoll (Regie Stefan Kaegi) entstand. Er sei Dorian Gray sagt der Autor. Und auch Gedichte können von Computern geschrieben werden. Fast alles ist machbar. »Wenn er (wer?) plötzlich so macht …« Wie? Ein Fuß rebelliert, dreht sich knarrend um sich selbst. Am Ende kann er »immer den Stecker ziehen«. Nach einer Stunde ist Schluss, und der Roboter-Mensch wird durch Absperrseile geschützt.
Nachtrag: Lyrik, vom Computer erstellt oder von Menschen geschaffen? Am 2. Juni 2010 erschien im Feuilleton der Zeit das Ergebnis einer Befragung von zehn deutschen jungen Autoren zu ihrer Meinung über ältere Kollegen wie Grass, Döblin, Bachmann, Kafka, Brecht, Frisch, Hemingway, Handke und Celan. Vorschläge zur »Entschlackung des literarischen Kanons«. Auf dem Foto eines Regals mit schönen alten Bänden stand: »Weg damit!« Es interessiert hier nur der damals 35-jährige Autor Thomas Melle, vielleicht der Initiator der Idee. In seinem neuen Roman beschreibt er, wie er sich seiner Bibliothek entledigt. Weg damit. Und irgendwo, ganz nebenbei, schildert Melle, wie er die »wutentbrannten« Leserbriefe an die Zeit auf sein »Celan-Bashing« hin in den Landwehrkanal geworfen hatte – in den Kanal, in den die Weimarer Republik auch Rosa Luxemburg entsorgte.
2010, vielleicht steckte er da ja in einer Krise, schrieb er: »Aus berufenem Frankfurter Linksmund« werde es heißen »antisemitisch«, das wisse er schon. In »solchen Kategorien« denke er nicht, für ihn zähle nur der Text, nicht das »zumal funktionalisierte Schicksal«. Er nennt Celan einen »in der Opferrolle sich verstrickt habenden Fremdgänger«, den man »wie im Handumdrehen entlarven« könne. Denkt er an die unbegründeten Plagiatsvorwürfe von Claire Goll, Celan konnte sie nie überwinden und brachte sich im Mai 1970 in Paris um. Für Melle muss »die ganze Todessuppe« nun »einfach hurtigst ausgelöffelt« werden und »Schluss«. Er nannte Celan in der Zeit einen »Todescharmeur, der mit verschwirbelter Ornamentik Geheimniskrämerei im Leichentuch der Verwandten« betreibe. Melle spricht ihn an als »du Lamm« und »du Opfer«. Und als einen, der seine Frau »dauernd durch womöglich geklaute Goll-Metaphern hinterglyphig« betrüge. Kurz, Celan arbeite mit »kaballistischen [!] Tricks, bis in den Wahn hinein«. Ein guter Antisemit weigert sich, die orthodoxe Schreibweise für die Kabbala zu benutzen, und bei der Zeit fand sich auch kein Korrektor. Hauptsache, diese »Entschlackungskur«, so jubelte damals die Zeit, war »in hohem Maße ehrlich und sehr befreiend.«
Da freute sich die Sezession, Götz Kubitscheks Zentralorgan für die Nazi-Intellektuellen, über die Zeit: »Der Autor Thomas Melle … verabschiedete Paul Celan, den Dichter der ›Todesfuge‹, die immerhin zu einer Art Staatsdichtung geworden ist. Die Überschrift lautet: ›Die Mystik-Blase ist geplatzt‹.«
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Drei Stunden zuvor im Gängeviertel Hamburgs: die Gruppe Ligna (Ole Frahm, Michael Hueners und Torsten Michaelsen) mit »Schafft zwei, drei, viele Gänge!«. Das Publikum, eine Gruppe von 20 Leuten, ausgestattet mit Kopfhörern und einem kleinen Gerät, das Anleitungen und Informationen gab, sich diesen unbekannten Teil der Stadt zu erschließen – das, was übrig geblieben war von Abrissen und Sanierungen. Vor zehn Jahren hatten Künstler das Viertel besetzt. Die Geschichte sollte nicht total ausgelöscht werden. Wir gehen los, in die Nähe der Musikhalle – im Ohr die Stimmen des Gängeviertels, »einer ganz eigenen Kommune«. Geleitet von drei Stimmen und einem Sprechchor, der kommentiert, Fragen stellt, Hinweise gibt: »Die kommunistische Partei tagte hier – bis 1933. Zerschlagen und nie wieder zusammengesetzt.« Manchmal nennt der Chor flüsternd die Namen der Gänge. Eine Stimme spricht von einer Wegscheide: »Am Montag, den 14. April 1945 kamen Häftlinge mit Karren, Körben und Säcken hier entlang. Angetrieben von Polizisten.« Eine andere Stimme weist auf das nahe Untersuchungsgefängnis und die Gerichte hin. »Schauen Sie.« Der Historiker im Ohr: Vernehmungsprotokolle, Akten und Personalunterlagen mussten verschwinden – ins Kesselhaus des Gefängnisses. Die Gestapo wollte den Alliierten keine sie belastenden Beweise liefern. Schließlich wurden die Papiere mit Benzin übergossen und verbrannt, da, im Wallgraben am Sievekingplatz.
Wegscheide: »Gehen Sie den Triumphzug der Sieger oder den Weg der zerstörten Erinnerung? Oder gehen wir einen anderen Weg?« Chor: »Den Weg der Gespenster.« Der führt uns in die Poolstraße, in den »schlechtesten Teil der Neustadt«, die Gänge krumm und schmal. »Schauen Sie auf den Boden«, raunt es im Ohr. Hier wurden die Pestleichen verbrannt. Bei der Toreinfahrt »Auto Stern« geht es über einen Hof mit Werkstätten zur Synagoge im Hinterhof. Der Rest steht heute unter Denkmalschutz. 1842-44 sind hier ein Tempel und vier Wohnhäuser gebaut worden, eine Reformsynagoge. Eine andere in den Kohl-höfen existiert nicht mehr. »Schauen Sie auf die Steine. Fassen Sie die Backsteine der Apsis an. Schließen Sie die Augen.« Momente des Innehaltens, der Stille. Nicht in der Pogromnacht 1938 wurde die Synagoge zerstört, erst später im Krieg. Es scheint, als sei es gerade erst geschehen.
Irritiert verlassen wir den Ort. Eine blutrote Spur auf dem Boden führt wohin? Hier »hauset die niedrigste Volks-Classe und ärmere Menschengattung« befand ein Beobachter – mitfühlend? Das Berliner Tagblatt von 1897 nennt alles hier einen »Schandfleck Hamburgs«. Die Gruppe Ligna lässt uns nachspielen, was Zeitungen schreiben: »Die Polizei muß durch eine lebende Mauer von Menschen hindurch, die nur unwillig Raum gibt.« Die Enge, körperlich spürbar gemacht. Der Völkische Beobachter – sieht er dort Ratten? »Zur Nachtzeit aber beginnt das Gewimmel stärker zu werden, dann kommt alles heraus aus den Verstecken.« Eine Stadt, »nicht aus Steinen, sondern aus Fleisch und Knochen«, flüstert der Chor. Die anderen, nicht die Bürger, meint das Berliner Tagblatt, wenn es vom »rabiaten Menschenschlag« schreibt, dem das Messer »so lose wie möglich in der Tasche sitzt«. Kommt uns heute schon wieder bekannt vor, diese Sprache.
Die Polizisten haben es schwer mit der Identifizierung der Täter. Die vielen kleinen Fenster machen es schwer zu erkennen, woher Steine oder Unrat auf die Beamten geworfen werden. Da musste etwas geschehen. Die Nazis führten die dritte große Flächensanierung des Gängeviertels durch. Wichtig: Überall, wo überwiegend KPD und SPD gewählt wurde, sollten »Gesundungsgebiete« entstehen. NS-Ideologe Gottfried Feder: »Um die Brutstätten des Marxismus zu zerstören«, ein NS-Soziologe nennt sie »rotversifft«.
Die neuen Häuser, dorthin zogen nur wenige der Bewohner. Wir versammeln uns um das Hummeldenkmal. Dann breiten wir die Arme aus, um zu erfahren, wie eng die Gänge waren. Die schmalen Fugen des Pflasters zeigen es. Zitate aus Falladas Roman »Wer einmal aus dem Blechnapf fraß«. Das musste alles weg. Razzien, Räumung, Abriss. Aus dem roten Hamburg sollte eine Vorzeigestadt werden, die Führerstadt. Willi Bredels Roman »Die Prüfung« schildert, wie die Angst um sich griff. Jeder konnte unter Folter zum Spitzel werden – im Stadthaus. Dahin führt unser Gang. Leider teilen sich die Wege nun, und Verwirrung macht sich breit. Alle Gänge führen zum Stadthaus, oder? Das war die Gestapo-Zentrale zwischen Neuem Wall und Großen Bleichen, heute Hamburgs teuerste Einkaufsgegend. Gehen Sie über die Brücke, die zum Fleethof führt – der ist auch aus Backstein – wie die Neubauten der Nazis. Die Kontorhäuser haben das Gängeviertel der Altstadt ersetzt, alles schön ordentlich.
Wir kommen auf einen Hof, »Stadthof« nennt ihn heute das Marketing der Quantum AG, das Immobilienunternehmen, das alles saniert. Im Ohr die Stimme: »Betreten Sie die Brücke des Stadthauses. Da unter den Fenstern zum Alsterfleet, verläuft der Seufzergang.« Durch die Fenster dort sahen die Gefangenen den Alsterfleet. Der Raum wurde von der Quantum AG als »Gedenkort Stadthaus« bezeichnet – gezwungenermaßen. Denn, als die Firma das ganze Gelände von der Stadt kaufen wollte, wurde zur Bedingung gemacht, dass 700 Quadratmeter für einen Gedenkort bereitzustellen seien. Nur 50 Quadratmeter blieben übrig. Auf die Fenster, durch die man in den Keller sehen kann, in dem die Häftlinge der Gestapo eingesperrt waren – den Gedenkort –, ließ der Investor eine Schrift anbringen: »Kopp hoch, Cherie.« Um den »Branchen-Mix mit cleveren Food-Konzepten« nicht zu belasten.
Ein Gang durch diese Stadt in der Stadt – jeder, der ihn mitverfolgte, den Weg zurück in die Vergangenheit und den Blick auf das, was die Gegenwart ausmacht, wird diesen Teil des Sommerfestivals nie vergessen.
Am Tag des Offenen Denkmals, am 8. September, besteht die Möglichkeit, noch einmal daran teilzunehmen: um 13, 15, 17 und 19 Uhr. Anmeldung erforderlich: Telefon 040-270 949 49.