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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Renten-Legende

In Euro­pa lässt man arbei­ten, bis man nicht mehr kann, so ähn­lich schrieb die fran­zö­si­sche Huma­ni­te am 24. Janu­ar. Denn Nico­las Lam­bert, For­schungs­in­ge­nieur bei der staat­li­chen For­schungs­an­stalt CNRS im Fach­be­reich »Geo­gra­fi­sche Infor­ma­ti­on«, hat ein Man­tra der fran­zö­si­schen Regie­rung Macron wie auch der deut­schen Bun­des­re­gie­rung in der Ren­ten­fra­ge wider­legt: Man lebe län­ger, also müs­se auch län­ger gear­bei­tet wer­den. Er wider­leg­te die­ses Mär­chen gleich in zwei­fa­cher Wei­se. Nach Euro­stat betrug die Lebens­er­war­tung bei der Geburt 2020 im Durch­schnitt der sie­ben­und­zwan­zig Län­der der Euro­päi­schen Uni­on 80,4 Jah­re, im Jahr 2010 waren es 80 Jah­re. Das heißt, die Lebens­er­war­tung sta­gniert in Europa.

Aber Nico­las Lam­bert geht noch wei­ter. Die Lebens­er­war­tung ohne mehr oder weni­ger gro­ße gesund­heit­li­che Pro­ble­me gel­te es als Grund­la­ge zu neh­men, das Ziel der arbei­ten­den Men­schen ist: »ein paar gesun­de Jah­re in Ren­te«. Und in der EU ist die »Lebens­er­war­tung in guter Gesund­heit« bis zum Jahr 2020 auf 64 Jah­re gestie­gen. Im Jahr 2004 betrug sie noch 63 Jah­re, die Euro­pä­er haben gera­de ein gesun­des Jahr im Durch­schnitt gewon­nen. Der For­scher hat dazu eine Kar­te ange­legt, die den Ver­gleich ermög­licht: So beträgt die »gesun­de Lebens­er­war­tung« in Deutsch­land 65,7 Jah­re, in Frank­reich 64,6 Jah­re (https://www.touteleurope.eu/economie-et-social/l-age-legal-de-depart-a-la-retraite-dans-l-union-).

Mit der Kar­te von Nico­las Lam­bert wird es also mög­lich, die Ren­ten­sy­ste­me zu beur­tei­len. Wenn man den Zah­len zur Lebens­er­war­tung bei guter Gesund­heit die gesetz­li­chen Ren­ten­ein­tritts­zei­ten gegen­über­stellt, wird die bru­ta­le Rück­sichts­lo­sig­keit der deut­schen wie fran­zö­si­schen Ren­ten­re­form deutlich.

Denn wenn das gesetz­li­che Ren­ten­ein­tritts­al­ter auf 67 Jah­re fest­ge­legt wird, wäh­rend die Lebens­er­war­tung bei guter Gesund­heit bei 64 Jah­ren liegt, bedeu­tet dies nicht mehr und nicht weni­ger, als gesun­de Ren­ten­jah­re abzu­schaf­fen. Oder anders gesagt: Es läuft dar­auf hin­aus, die Men­schen so lan­ge arbei­ten zu las­sen, bis sie zum Weg­wer­fen taugen.

Dabei berück­sich­ti­gen die­se Zah­len nicht die sozia­le Lage der Bevöl­ke­rung. Im Jahr 2018 hat­te die fran­zö­si­sche Sta­ti­stik­be­hör­de INSEE in einer Stu­die der Jah­re 2012-2016 fest­ge­stellt, dass man umso län­ger lebt, je rei­cher man ist. Nur die Hälf­te der fünf Pro­zent wirt­schaft­lich Schwäch­sten wird 75 Jah­re alt, jedoch 83 Pro­zent der fünf Pro­zent wirt­schaft­lich Stärk­sten. Ein Vier­tel der Ärm­sten über­lebt das Alter von 62 Jah­ren nicht.

Bei den Män­nern sei das beson­ders aus­ge­prägt: Die Lebens­er­war­tung bei der Geburt der obe­ren fünf Pro­zent (mit einem Ein­kom­men von über 5.800 Euro) war 84,4 Jah­re, wäh­rend sie bei denen, die zu den ärm­sten gehö­ren (bei einem durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men von 466 Euro/​Monat), auf 71,7 Jah­ren sinkt – also eine Dif­fe­renz von fast 13 Jah­ren in der Lebens­er­war­tung. Kapi­ta­lis­mus ohne Maske!