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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutschlands ostpolitische Kontinuität

»Woll­te man in Euro­pa Grund und Boden, dann konn­te dies im Gro­ßen und Gan­zen nur auf Kosten Russ­lands gesche­hen, dann muss­te sich das neue Reich wie­der auf der Stra­ße der ein­sti­gen Ordens­rit­ter in Marsch set­zen, um mit dem deut­schen Schwert dem deut­schen Pflug die Schol­le, der Nati­on aber das täg­li­che Brot zu geben.«

Der dies nach dem geschei­ter­ten Putsch am 9. Novem­ber 1923, wäh­rend der Festungs­haft 1924, geschrie­ben hat­te, war Adolf Hit­ler. Im ersten Teil sei­nes »Mein Kampf« sah er Deutsch­lands Expan­si­ons­ziel in der Erobe­rung und Kolo­ni­sa­ti­on »des Ostens«. Die­se Expan­si­ons­rich­tung war nicht neu. Offi­zi­ell war die Paro­le vom »unver­meid­li­chen Exi­stenz- und End­kampf« zwi­schen Sla­wen und Ger­ma­nen seit 1909, spä­te­stens seit 1912/​13 im Umlauf.

Zwei Tage nach dem Beginn des Ersten Welt­kriegs 1914 nann­te der deut­sche Reichs­kanz­ler Theo­dor von Beth­mann Holl­weg als Kriegs­ziel die Zurück­wer­fung der rus­si­schen Gren­ze auf Mos­kau. Zwi­schen Deutsch­land bzw. Öster­reich-Ungarn einer­seits und Russ­land ande­rer­seits soll­ten »Puf­fer­staa­ten« ent­ste­hen. Als sol­che waren Finn­land, Polen, Geor­gi­en und die Ukrai­ne vor­ge­se­he­nen. Nach wei­te­ren Mona­ten for­der­te das sog. Sep­tem­ber­pro­gramm des Reichs­kanz­lers, dass Russ­land so weit wie mög­lich zurück­ge­wor­fen und sei­ne Herr­schaft über die nicht-rus­si­schen Völ­ker gebro­chen wer­den müs­se. Die­se Ziel­set­zung der deut­schen Ost­po­li­tik wur­de auch nach der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on 1917 beibehalten.

Der Frie­de von Brest-Litowsk im März 1918 war ver­ein­bart wor­den zwi­schen dem Deut­schen Reich und sowohl der Sowjet­uni­on als auch – mit Unter­stüt­zung der Mit­tel­mäch­te – einer selb­stän­dig gewor­de­nen Ukrai­ne. Zu die­sem Zeit­punkt waren bereits Polen und Finn­land zu selb­stän­di­gen Staa­ten erklärt wor­den. Im August 1918 folg­ten Est­land und Georgien.

Moti­ve deut­scher Ost­po­li­tik bil­de­ten neben raum­po­li­tisch-stra­te­gi­schen vor allem wirt­schaft­li­che Inter­es­sen. Die Ukrai­ne galt als Korn­kam­mer und Lie­fe­rant von Erzen. Der Histo­ri­ker Fritz Fischer scheibt: »Es führt eine gera­de Linie von die­sem Frie­den (von Brest-Litowsk; R. B.) zu dem Milieu Adolf Hit­lers in Mün­chen. Dort sam­mel­ten sich nach Kriegs­en­de neben Luden­dorff und ent­las­se­nen deut­schen Offi­zie­ren bal­ten­deut­sche, rus­si­sche und ukrai­ni­sche Emi­gran­ten: unter ihnen der von den Deut­schen ein­ge­setz­te ›Het­man‹ (= Füh­rer; R. B.) des deut­schen Vasal­len­staa­tes Ukrai­ne, Sko­ro­pad­sky, ein Mit­be­grün­der des ›Völ­ki­schen Beobachters‹.«

In der Tra­di­ti­on von 1909 und 1912/​13 stei­ger­te sich unter den Nazis die anti­rus­si­sche und an der Ukrai­ne inter­es­sier­te Stoß­rich­tung der deut­schen Ost­po­li­tik. 1936/​37 star­te­ten wil­den Pro­pa­gan­da­ak­tio­nen gegen die UdSSR und den »Bol­sche­wis­mus«. Nach dem von bei­den Sei­ten am 24. August 1939 unter­zeich­ne­ten deutsch-sowje­ti­schen Nicht­an­griffs-Pakt erfolg­te am 22. Juni 1941 des­sen Bruch durch den Über­fall Nazi-Deutsch­lands auf die Sowjetunion.

Fischer resü­mier­te in sei­nem Buch »Hit­ler war kein Betriebs­un­fall«: »Die geo­po­li­tisch-stra­te­gi­sche und öko­no­mi­sche Ziel­set­zung (›Nach Ost­land wol­len wir rei­ten!‹) ist Kon­ti­nui­tät des wil­hel­mi­nisch-all­deut­schen Expan­sio­nis­mus.« Die­se Tra­di­ti­ons­li­nie setzt sich bis in die Gegen­wart fort. Von Sei­ten des Aus­wär­ti­gen Amtes der Bun­des­re­pu­blik wur­de 2022 von der amtie­ren­den Mini­ste­rin Baer­bock die Devi­se »Russ­land rui­nie­ren« ausgegeben.

In einer Art »Par­al­lel­ak­ti­on« hat sich Kanz­ler Scholz eben­falls als Ver­fech­ter einer mili­tä­risch-aggres­si­ven Ost­po­li­tik erwie­sen. In einem Bei­trag für die US-ame­ri­ka­ni­sche Zeit­schrift For­eign Affairs vom 5. Dezem­ber 2022 beton­te er: »Einer der ersten Beschlüs­se, die die Bun­des­re­gie­rung (…) gefasst hat, war die Schaf­fung eines Son­der­ver­mö­gens in Höhe von 100 Mil­li­ar­den Euro, um die Bun­des­wehr bes­ser aus­zu­rü­sten. Wir haben sogar unser Grund­ge­setz geän­dert, damit die­ses Ver­mö­gen ein­ge­rich­tet wer­den kann.«

Scholz wirft der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on »revan­chi­sti­schen Impe­ria­lis­mus« vor und schreibt: »Ange­sichts sei­ner Geschich­te kommt mei­nem Land eine beson­de­re Ver­ant­wor­tung zu, die Kräf­te des Faschis­mus, Auto­ri­ta­ris­mus und Impe­ria­lis­mus zu bekämp­fen.« Das ist, in ver­lo­gen-ver­klau­su­lier­ter Form, eine Feind- und Kriegs­er­klä­rung gegen­über Russland.

»Die Zei­ten­wen­de«, so der Bun­des­kanz­ler in For­eign Affairs, »hat die Bun­des­re­gie­rung außer­dem dazu ver­an­lasst, einen seit Jahr­zehn­ten bestehen­den, fest eta­blier­ten Grund­satz deut­scher Poli­tik in Bezug auf Rüstungs­expor­te zu über­den­ken. Zum ersten Mal in der jün­ge­ren Geschich­te Deutsch­lands lie­fern wir heu­te Waf­fen in einem Krieg zwi­schen zwei Staaten.«

Deutsch­land kom­me »jetzt die wesent­li­che Auf­ga­be zu, als einer der Haupt­ga­ran­ten für die Sicher­heit in Euro­pa Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, indem wir in unse­re Streit­kräf­te inve­stie­ren, die euro­päi­sche Rüstungs­in­du­strie stär­ken, unse­re mili­tä­ri­sche Prä­senz an der Nato-Ost­flan­ke erhö­hen und die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te aus­bil­den und ausrüsten«.

Unter dem Vor­wand deut­scher Ver­ant­wor­tung und im Wind­schat­ten der EU- und Nato-Inter­es­sen wer­den erneut Expan­si­ons­zie­le for­mu­liert. Zuneh­mend deut­li­cher wer­den jetzt, im 21. Jahr­hun­dert, wie­der die bedroh­li­chen Anzei­chen jener Kriegs- und Expan­si­ons-Kon­ti­nui­tät deut­scher Ost­po­li­tik, die Anfang des 20. Jahr­hun­derts ihren zunächst wil­hel­mi­nisch-all­deut­schen Anfang genom­men und unter Hit­ler ein schreck­li­ches Ende gefun­den hat – ein nur vor­läu­fi­ges Ende, wie sich zeigt.

Im Fall der heu­ti­gen Ukrai­ne und der dort wuchern­den Tra­di­ti­ons­pfle­ge (sie­he das Asow-Regi­ment und den Ban­de­ra-Kult) kann die mili­ta­ri­sti­sche deut­sche Ost­po­li­tik heu­te erneut bei ver­bre­che­ri­schen anti-rus­si­schen und faschi­sti­schen Gemein­sam­kei­ten in der Geschich­te anknüp­fen. Das deut­sche Ost­erwei­te­rungs-Pro­gramm wird ideo­lo­gisch über­tüncht durch die Fal­se-Flag-Beru­fung auf demo­kra­ti­sche Wer­te, das Völ­ker­recht und »enge Abspra­chen mit den Verbündeten«.

Scholz wirft Russ­land beim Ver­such, sich gegen die west­li­che Umzin­ge­lung mili­tä­risch zur Wehr zu set­zen, jene impe­ria­li­sti­schen Absich­ten vor, die in der deut­schen Ost­po­li­tik eine schreck­li­che Kon­ti­nui­tät erken­nen lassen.