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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Es geht um alles

In Erin­ne­rung an den kürz­lich 97-jäh­rig ver­stor­be­nen Anti­fa­schi­sten, Zeit­zeu­gen und Sozia­li­sten Sal­ly Perel gebe ich einen gemein­sa­men Appell zur Kennt­nis, den wir vor drei Jah­ren mit Esther Beja­ra­no zusam­men for­mu­liert haben. Er ist seit­her ein Bezugs­punkt für die Moti­va­ti­on zu sozia­lem Enga­ge­ment für Weg­ge­fähr­tin­nen und -gefähr­ten in den sozia­len Spektren.

Ein Schü­ler einer Esse­ner Gesamt­schu­le bezog sich vor eini­gen Jah­ren auf Sal­lys Erleb­nis­se in der NS-Zeit: Auf sei­ner Flucht vor den Nazis war er in einem sowje­ti­schen Kin­der­heim gelan­det, und nach dem Über­fall Nazi­deutsch­lands gegen die Sowjet­uni­on hat er durch Tar­nung und Täu­schung in einer Eli­te-Bil­dungs­ein­rich­tung der Hit­ler­ju­gend als Jude über­lebt. Das brach­te den Schü­ler auf die Fra­ge, wel­cher Ein­fluss sein Den­ken und Han­deln nach­hal­ti­ger geprägt habe. Sal­ly ant­wor­te­te, dass ihn der kom­mu­ni­sti­sche Traum der soli­da­ri­schen Gemein­schaft der Men­schen ohne Aus­beu­tung und Unter­drückung, wie er auch in der Berg­pre­digt steht, bis heu­te moti­viert, nicht auf­zu­ge­ben. Aus die­ser Hal­tung her­aus waren wir uns einig, dass die Kräf­te, die in die­sem Sin­ne wir­ken, ihre Ener­gien zusam­men­brin­gen soll­ten, um eine grö­ße­re Aus­sicht auf Erfolg zu haben. Dar­aus ent­wickel­ten wir vor drei Jah­ren die­sen Appell:

»Es geht um alles! – für das Zusam­men­wir­ken der sozia­len Bewe­gun­gen gegen die Zer­stö­rung der Erde.

Unser ›Nein‹ zu Kapi­ta­lis­mus und Gewalt ent­springt einem ›Ja‹ zum Leben. Das gleich­zei­ti­ge Auf­tre­ten gro­ßer Risi­ken macht die Gegen­wart zur gefähr­lich­sten Epo­che der Mensch­heits­ge­schich­te. Das for­dert von den Kräf­ten der Ver­än­de­rung eine Ver­stär­kung ihrer Anstren­gun­gen, gemein­sam und mutig einen Aus­weg zu fin­den und ihn zu gehen.

Es geht um nichts weni­ger als die Ret­tung des Lebens­rau­mes Erde. Das wird nur mit Abrü­stung, mit einer inter­na­tio­na­len Frie­dens­ord­nung, mit Ver­hand­lun­gen statt Erpres­sung, Sank­tio­nen und Krieg sowie mit einer Sozi­al­po­li­tik und öko­lo­gi­scher Koope­ra­ti­on, statt in Kon­kur­renz mög­lich sein.

Die Mensch­heit steht der­zeit vor zahl­rei­chen Gefah­ren, nicht nur vor der Gefahr eines öko­lo­gi­schen Abstur­zes. Auch die Gefahr eines Atom­krie­ges rückt näher. Span­nun­gen und Rüstung ver­brei­ten sich.

Die Nukle­ar­for­scher haben die Welt­un­ter­gangs­uhr auf zwei vor Mit­ter­nacht gestellt.

Die Pola­ri­sie­rung der Gesell­schaf­ten stei­gert in Ver­bin­dung mit der zuneh­men­den Kluft zwi­schen Arm und Reich die Gefah­ren des Zer­falls. Ego­is­mus zer­stört Gemein­schaf­ten. Wachs­tums­wahn, Dere­gu­lie­rung und Pri­va­ti­sie­rung zei­gen, dass der neo­li­be­ral ent­fes­sel­te Kapi­ta­lis­mus unfä­hig ist, den Bedürf­nis­sen der Men­schen gerecht zu wer­den. Die Kon­kur­renz um Stand­ort­vor­tei­le, um Res­sour­cen, Märk­te und Han­dels­we­ge führt ver­mehrt – in Ver­bin­dung mit dem Auf­stieg natio­na­li­sti­scher Kräf­te – zur wach­sen­den Rück­sichts­lo­sig­keit im Unrecht des Stär­ke­ren. Wirt­schafts­krie­ge stei­gern welt­wei­te Spannungen.

In Kri­sen­zei­ten spie­len rech­te Popu­li­sten mit wohl­wol­len­der Unter­stüt­zung ein­fluss­rei­cher Medi­en die natio­na­le Kar­te und spie­len benach­tei­lig­te Men­schen­grup­pen gegen­ein­an­der aus. Sün­den­böcke, wie einst Juden und heu­te Flücht­lin­ge, wer­den zu Ver­ant­wort­li­chen für den Zer­fall des Sozi­al­staats und der Sicher­heit abge­stem­pelt. Um die alter­na­ti­ven Kräf­te zu schwä­chen, betrei­ben die Herr­schen­den eine Kam­pa­gne zur Spal­tung und De-Legi­ti­mie­rung der Bewe­gun­gen, die sich gegen die kapi­ta­li­sti­sche Ord­nung stel­len: Sie deh­nen den Anti­se­mi­tis­mus-Begriff so weit aus, dass schon die Kri­tik an der Poli­tik der Regie­rung Isra­els als isra­el­feind­lich und dadurch mit anti­se­mi­ti­schen Mustern durch­setzt, dis­kre­di­tiert wird. Teil­wei­se gelingt es ihnen, die­se Posi­ti­on auch in lin­ken Spek­tren hof­fä­hig zu machen.

Auf der Grund­la­ge unse­rer jahr­zehn­te­lan­gen Erfah­run­gen mit Unrecht, Gewalt, Faschis­mus und Krieg rufen wir alle alter­na­ti­ven Kräf­te dazu auf, sich ihrer Gemein­sam­kei­ten zu besin­nen und sich aktiv für die Ret­tung des Lebens­raums Erde ein­zu­set­zen. Dabei ist es wich­tig, den Zusam­men­hang von öko­lo­gi­schen, frie­dens­po­li­ti­schen, gewerk­schaft­li­chen und demo­kra­ti­schen For­de­run­gen zu sehen.

Kon­kre­te For­de­run­gen wie die nach einer nukle­ar­frei­en Welt, nach bezahl­ba­rem Wohn­raum und einem Min­dest­lohn sowie nach einem Aus­stieg aus fos­si­len Ener­gie­trä­gern und nach einer kon­se­quen­ten Ein­hal­tung der Men­schen­rech­te gewin­nen ihre nach­hal­ti­ge Kraft, wenn sie mit dem Ziel der Über­win­dung der Ursa­chen, die im Kapi­ta­lis­mus lie­gen, ver­bun­den werden.

Das Zeit­fen­ster zur Über­win­dung der Gefähr­dun­gen unse­rer Zukunft ist viel­leicht nicht mehr lan­ge offen. Die­se Erkennt­nis erlegt uns die Ver­ant­wor­tung auf, gemein­sam Prio­ri­tä­ten zu set­zen und mit­ein­an­der beharr­lich, kon­se­quent und soli­da­risch in die­sem Sin­ne zu wirken.«

Nun sind Esther und Sal­ly von uns gegan­gen, die Ver­ant­wor­tung ist auf die über­ge­gan­gen, deren Weg­ge­fähr­ten sie waren. Der Schwur von Buchen­wald ver­bin­det uns, solan­ge er noch nicht vom Not-wen­di­gen Erfolg gekrönt ist.

Esther Beja­ra­no, die das Ver­nich­tungs­la­ger als Mit­glied im Mäd­chen­or­che­ster Ausch­witz über­leb­te und die vie­le Men­schen aller Gene­ra­tio­nen mit ihrer Lite­ra­tur und ihrer Musik, zusam­men mit der Grup­pe »Micro­pho­ne Mafia« beweg­te und zum Enga­ge­ment ermu­tig­te, bot an, die­se Wor­te in die­sem Zusam­men­hang zu ergän­zen: »Ich habe die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz und Ravens­brück und die Todes­mär­sche 1945 über­lebt. Beim Sie­mens-Kon­zern muss­te ich mit vie­len ande­ren schwe­re Zwangs­ar­beit lei­sten. Nie wie­der soll­te die Mensch­heit durch Krie­ge bedroht wer­den. Ich kann mir nichts Schlim­me­res vor­stel­len, als dass die Erfah­rung mei­ner Gene­ra­ti­on in Ver­ges­sen­heit gerät. Dann wären alle Opfer des Faschis­mus und des Krie­ges, alles, was wir erlit­ten haben, umsonst gewe­sen. Aber ihr seid da. Wir bau­en auf euch. Ich ver­traue euch, lie­be Freun­din­nen und Freun­de! Eine bes­se­re Welt ist mög­lich!« Eure Esther Bejarano

Es kann am ehe­sten gelin­gen, die­ses Ver­trau­en zu recht­fer­ti­gen, wenn sich die Bewe­gun­gen für die Zukunft des Lebens auf ihre Gemein­sam­kei­ten besin­nen und ihr Enga­ge­ment für die­se ande­re Welt mit dem lan­gen Atem ent­fal­ten, den wir von den Wider­stands­kämp­fe­rin­nen und -kämp­fern ler­nen kön­nen. Sal­ly Perel beton­te: »Gib nie­mals auf!«