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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Was wäre, wenn?

Es ist span­nend zu hören, was ein Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ker zu einer emo­ti­ons­be­la­de­nen Fra­ge wie Krieg und Pazi­fis­mus zu sagen hat. Olaf Mül­ler, Inha­ber des Lehr­stuhls für Wis­sen­schafts­theo­rie an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Ber­lin, plä­diert für einen prag­ma­ti­schen Zugang zum The­ma und stützt sich dabei beson­ders auf die Arbei­ten von Hila­ry Put­nam (1926-2016). Was ist Prag­ma­tis­mus? Eine Hal­tung, die Hand­lungs­an­wei­sun­gen weni­ger aus Prin­zi­pi­en ablei­tet als aus den kon­kre­ten Gege­ben­hei­ten einer Situa­ti­on. Inter­es­sant ist dabei der Ansatz, die abso­lut set­zen­de Oppo­si­ti­on von Gut und Böse zu ver­mei­den, son­dern eher in ver­glei­chen­den Kate­go­rien wie »bes­ser« oder »schlech­ter« zu den­ken. Damit wird auch die in der Poli­tik inzwi­schen so belieb­te Gegen­über­stel­lung von »gesin­nungs­ethisch« und »ver­ant­wor­tungs­ethisch« rela­ti­viert. Mül­ler bemüht sich um eine ver­ant­wor­tungs­ethi­sche Begrün­dung des Pazifismus.

Im Zen­trum steht bei ihm die Fra­ge: »Was wäre, wenn?« Denn im Krieg geht es immer wie­der um die Fra­ge: »Was wäre, wenn die Betei­lig­ten anders (z. B. weni­ger krie­ge­risch) han­deln wür­den, als sie es tun?« Mül­ler weist nach, dass die­se Fra­ge nicht immer eine Chi­mä­re blei­ben muss, und argu­men­tiert, dass ein pazi­fi­sti­sches Her­an­ge­hen an einen Kon­flikt weni­ger Tote und Ver­letz­te zur Fol­ge hät­te als das krie­ge­ri­sche. Als Bei­spiel, das er gründ­li­cher erforscht hat, dient ihm der Kosovo-Krieg.

Eine wei­te­re wich­ti­ge Fra­ge ist die nach dem Men­schen­bild. Befür­wor­ter gewalt­frei­er Lösun­gen ver­trau­en eher in opti­mi­sti­scher Wei­se auf die Güte der Men­schen, wer in die­ser Hin­sicht pes­si­mi­stisch ist, optiert für Waf­fen. Mül­ler gelingt es, dem Opti­mis­mus einen argu­men­ta­ti­ven Vor­teil zu verschaffen.

Prag­ma­tis­mus bedeu­tet für Mül­ler aber auch, dass er Mili­tär nicht grund­sätz­lich ablehnt. Das wird bei man­chen Pazi­fi­sten Kopf­schüt­teln her­vor­ru­fen. Aber ent­schei­dend dazu sind die Über­le­gun­gen, die er ganz am Schluss sei­nes Buches anstellt zum The­ma »Waf­fen­lie­fe­rung an die Ukrai­ne« (die er ablehnt) und in denen er dar­auf hin­weist, dass in einem Kriegs­fall nie­mand ohne Schuld blei­ben kann.

Mül­ler plä­diert für einen bewuss­ten Umgang mit dem The­ma Angst. Sei­ne per­sön­li­che Angst vor dem Ein­satz von Atom­waf­fen im Ukrai­ne­krieg ver­gleicht er mit der Sor­ge eines Inge­nieurs in einem Atom­kraft­werk. Ein ver­ant­wor­tungs­vol­ler Inge­nieur wird ange­sichts der Grö­ße der Gefahr auch die klein­ste Sor­ge um das Funk­tio­nie­ren der gewal­ti­gen Anla­ge ernst neh­men. Nicht anders kann es in einem Kriegs­fall sein, in dem, wie Mül­ler schreibt, ganz vie­le unbe­re­chen­ba­re Akteu­re in die Kal­ku­la­ti­on einfließen.

Es gäbe aber auch Ein­wän­de zu for­mu­lie­ren. Etwa gegen die prag­ma­ti­sche Unter­schei­dung zwi­schen mehr oder weni­ger krie­ge­ri­schen Hand­lun­gen. Ein aggres­si­ver oder krie­ge­ri­scher Gedan­ke wird sich, wenn er gepflegt wird und wach­sen darf, in aggres­si­ve Wor­te ver­wan­deln, die­se in aggres­si­ve Taten. Vor­be­rei­ten­de Hand­lun­gen, wie etwa das Trai­ning aus­wär­ti­ger Sol­da­ten an einer Waf­fe, sind daher eben­so krie­ge­risch wie die Anwen­dung der Waf­fe selbst.

Ein wei­te­rer Ein­wand könn­te aus der Beob­ach­tung kom­men, dass Poli­tik nie­mals ohne Kor­rup­ti­on ein­her­geht. Dem Zynis­mus, mit dem die Herr­schen­den ihre Krie­ge pla­nen, ent­spricht die wil­li­ge Selbst­ent­mün­di­gung der Beherrsch­ten. Damit rela­ti­viert sich Mül­lers For­de­rung, nun end­lich den gewalt­frei­en Wider­stand ein­zu­üben. Kon­zep­te dafür gibt es spä­te­stens seit Ber­tha von Sutt­ner. Aber ihre Wir­kung schei­ter­te bis­her noch an den Macht- und Manipulationsverhältnissen.

Olaf Mül­ler: Pazi­fis­mus. Eine Ver­tei­di­gung, Reclam, 2022, 116 S., 6 €.