Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die sind längst wieder da

War es der 30. Jah­res­tag sei­nes Todes am 12. Febru­ar 1989 oder eher ein Satz wie die­ser: »Es dau­ert nicht mehr lan­ge, bis die Nazis wie­der an der Macht sind«, der das Ham­bur­ger Schau­spiel­haus dazu brach­te, einen gan­zen Abend Tho­mas Bern­hard zu wid­men? »Die Übrig­ge­blie­be­nen« ent­stand aus den Stücken »Vor dem Ruhe­stand« und »Rit­ter, Dene, Voss« sowie aus dem spä­ten Pro­sa­werk »Aus­lö­schung. Ein Zer­fall«. Bear­bei­tet von Rita Thie­le und Karin Hen­kel, die auch Regie führ­te. Gemein­sam­kei­ten in den drei Tex­ten auf­zu­spü­ren mag fas­zi­nie­rend gewe­sen sein, für die Zuschau­er weni­ger. Das trägt zur Ver­wir­rung bei und schafft gegen­über den Ein­zel­stücken kei­nen Erkennt­nis­ge­winn. Die Kon­stel­la­tio­nen der Figu­ren sind gleich: drei Geschwi­ster­paa­re, zu den bei­den Schwe­stern kommt ein Bru­der von außen hin­zu. Die Eltern sind gestor­ben, doch beherr­schen sie die Nach­kom­men durch ihren auto­ri­tä­ren Geist mit der Mischung aus Katho­li­zis­mus und Faschis­mus, der sie wie ein kleb­ri­ges Gewe­be umhüllt, noch immer.

In »Aus­lö­schung« sind die kürz­lich ver­un­glück­ten Eltern hin­ten auf der Büh­ne sicht­bar auf­ge­bahrt. Die Schwe­stern, zwei alte Damen in schwar­zen Kleid­chen, agie­ren wie Bestat­te­rin­nen: Ama­lia (Bri­git­te Cuve­lier) und Cae­ci­lia, von einem Mann (Jean Chai­ze) dar­ge­stellt. Ihre Trau­er­pan­to­mi­men: tod­ernst komisch. Dazu ein gemisch­ter Kin­der­chor mit erbau­li­chen Lie­dern, magisch beleuch­tet. Alles in einem düste­ren Haus mit Spitz­dach, in drei Ebe­nen, voll­ge­stellt mit Spiel­zeug (Büh­ne, Muri­el Gerst­ner, Seli­na Puor­ger). Die Requi­si­ten signa­li­sie­ren: im Infan­ti­lis­mus stecken­ge­blie­ben. Der Bru­der Franz-Josef Murau (Til­man Strauß), der nach Rom geflüch­tet war, um der ersticken­den Atmo­sphä­re im Eltern­haus, dem Schloss Wolf­s­egg, zu ent­flie­hen, er kehrt zur Bestat­tung zurück. Bezeich­nend, dass er immer wie­der die Fen­ster auf­reißt – fri­sche Luft für sein kran­kes Herz? Nein, um sich hin­aus­zu­stür­zen. Er kennt jene Übrig­ge­blie­be­nen der NS-Zeit genau, sie wur­den von sei­nen Eltern im Schloss nach Kriegs­en­de ver­steckt, bis ihre Zeit erneut kam und das Ver­ges­sen regier­te. Der Ekel vor dem elter­li­chen Erbe, das Murau antre­ten soll, beherrscht ihn so sehr, dass er nur noch dar­an denkt, alles aus­zu­lö­schen – auch sich selbst.

Im ande­ren Geschwi­ster­stück »Rit­ter, Dene, Voss« – benannt nach den Schau­spie­lern der Erst­auf­füh­rung – kehrt ein Bru­der zurück vom Auf­ent­halt in einer psych­ia­tri­schen Anstalt, der para­do­xer­wei­se auch eine Flucht sein soll­te aus dem Fami­li­en­ge­fäng­nis, das nur noch in einem Gegen­ein­an­der, jeder gegen jeden, besteht. Die Schwe­stern, Dene (Bet­ti­na Stucky) und Rit­ter (Gala Othe­ro Win­ter), berei­ten ein Fest­essen vor. Der Bru­der wird als Phi­lo­soph gese­hen, dem man sei­ne Marot­ten ver­zeiht. Er heißt Lud­wig, nach Witt­gen­stein. Gespielt wird er von einer Frau: Lina Beck­mann, die alle Regi­ster des absurd Komi­schen zieht, was ablenkt, ver­wirrt: Wer sagt was? Die drei Stücke flie­ßen inein­an­der. Wenn von Lud­wigs Anstalt Stein­hof gespro­chen wird, schiebt sich eine Sze­ne des drit­ten Stücks »Vor dem Ruhe­stand« dazwi­schen. In eine Anstalt hät­te die behin­der­te Schwe­ster Cla­ra (auch wie­der männ­lich: Jan-Peter Kamp­wirth) eigent­lich gehört, heißt es. Ihre Lei­stung, den gan­zen Abend in gebück­ter Hal­tung zu ver­har­ren – nicht im Roll­stuhl – bewun­derns­wert. Dabei fixiert sie – mit halb­ge­scho­re­nem Kopf – das Publi­kum und schweigt zu den Angrif­fen ihrer Schwe­ster Vera (Ange­li­ka Rich­ter). Die berei­tet alles für die­sen beson­de­ren Fest­tag vor, den 7. Okto­ber. Es ist Himm­lers Geburts­tag. Noch muss er heim­lich gefei­ert wer­den, aber »eines Tages kannst du ganz offen dar­über reden«, trö­stet Vera den heim­keh­ren­den Bru­der Rudolf Höl­ler, Gerichts­prä­si­dent und ehe­ma­li­ger SS-Offi­zier. Schwe­ster Vera bringt alles auf Hoch­glanz, sei­nen Talar, sei­ne SS-Uni­form, sei­ne Stie­fel. Sie liebt den Bru­der – nicht nur pla­to­nisch. Gespräch über Ärz­te. Es war Dr. Fromm, der Rudolf einen »stell­ver­tre­ten­den Lager­kom­man­dan­ten« genannt hat­te. Im Prin­zip hat er ja nichts gegen Juden – aber »man merkt da gleich, dass er Jude ist«, denn als er, Rudolf, Cla­ras Unglück kurz vor Kriegs­en­de, eine Mine, »Ter­ror­an­griff« nann­te, sei Dr. Fromm sicht­lich erregt gewe­sen. Dar­auf eine Sze­ne mit Murau, der weiß, wer einem Arzt glau­be, sei ver­lo­ren. Zurück zu Rudolf und Cla­ra. »Sol­che wie du«, er sagt es ohne Scheu, »hät­ten wir in unse­rer Zeit ganz ein­fach ver­gast.« Sie kön­ne froh sein, dass sie heu­te mal nicht die alte KZ-Jacke anzie­hen muss. Wie sonst immer am 7. Okto­ber. Vera schiebt die Schwe­ster immer mal zur Sei­te, so dass Cla­ra umfällt. Die fami­liä­ren Grau­sam­kei­ten sind wie ein Virus, der alle ansteckt.

Nach der Pau­se ste­hen drei weiß­ge­deck­te Tische auf der Büh­ne. Dazu das gute Geschirr oder eine Urne – für den gei­sti­gen Genuss? Bet­ti­na Stucky tischt Unmen­gen von Brand­teig-Krap­fen auf, die Lud­wig ver­schlingt, bis ihm alles wie­der hoch­kommt. Komisch? Genau­so Sät­ze über brau­ne Soße, die alles über­zieht. Das Publi­kum lacht. Cla­ra sitzt am Tisch auf einem alten Schau­kel­pferd wie ein Kind. Neben ihr ser­viert Vera Kalbs­me­dail­lons, die Cla­ra ablehnt. Das Blät­tern im alten Foto­al­bum ver­eint Vera und Rudolf. Sie: »So schö­ne Men­schen …, dass man sol­che schö­nen Men­schen umbrin­gen kann.« Rudolf: »Im Krieg gibt es kein Gefühl.« Spä­ter: »Die war aus War­schau, die ist dann gleich ver­gast wor­den.« In Ausch­witz hat­ten sie Höß besucht, Himm­ler ist nicht gekom­men. Dann ein Satz von Lud­wig oder von Murau: »Wir sind ein Volk der Gefühl­lo­sig­keit.« Sie trin­ken Fürst-von-Met­ter­nich-Sekt – wie damals. Sie wer­den immer aus­ge­las­se­ner. Rudolf holt sein Gewehr, darf lei­der nicht zum Fen­ster hin­aus bal­lern. Noch nicht. Jetzt nicht auf­fäl­lig wer­den. Vera, die den Bru­der ver­steckt hat­te nach dem Krieg, beru­higt ihn. Nun zieht er auch noch die Pisto­le aus dem Half­ter, setzt sie Cla­ra ans Genick. Kom­men­tar zu einem Foto: »Das war die Hin­rich­tung. Die­se paar habe ich eigen­hän­dig erschos­sen, weil kein ande­rer da war.«

Cla­ra steht auf, gebückt, starrt ins Publi­kum. Rudolf stürzt zu Boden: Herz­in­farkt. Vera denkt an die SS-Uni­form, die muss sie ihm abzie­hen, bevor der Arzt kommt. Panik.

Tho­mas Bern­hard schrieb sein Stück ein Jahr vor dem Mau­er­fall. Wir leben heu­te. Wie hat­te Rudolf kurz zuvor beim Glas Met­ter­nich gesagt: »War­te nur ab /​ die Zeit kommt wo wir es wie­der zei­gen kön­nen /​ Es spricht alles dafür dass wir es wie­der zei­gen kön­nen und nicht nur zeigen.«