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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von kranken Menschen und kranken Hirnen

Manch­mal kommt so eine Art Aha-Erleb­nis fast ein Men­schen­al­ter spä­ter. Ich hat­te zwar den Sinn­zu­sam­men­hang nicht gesucht, ja, der Vor­gang war mir voll­kom­men aus dem Gedächt­nis ver­schwun­den. Dann aber stieß ich auf das 2018 erschie­ne­ne Buch »Schwind­sucht« der in Ber­lin leben­den Histo­ri­ke­rin Ulri­ke Moser, und da war sie wie­der prä­sent, die Erin­ne­rung aus der Kindheit.

Damals in der Nach­kriegs­zeit kam es vor, sel­ten zwar, dass jeman­dem aus dem Dorf oder der Gegend, wo ich leb­te, irgend­et­was so Außer­ge­wöhn­li­ches wider­fuhr, dass es auch mir als Kind auf­fiel. Viel­leicht wur­de der/​die Dorfbewohner/​in unter Sicher­heits­maß­nah­men in ein Kran­ken­haus gebracht. Viel­leicht galt für Haus oder Woh­nung eine Art Qua­ran­tä­ne wie für Bau­ern­hö­fe, wenn die Maul- und Klau­en­seu­che aus­ge­bro­chen war. Ich weiß es nicht mehr. Mei­ne Groß­mutter aller­dings, noch zu Zei­ten Kai­ser Wil­helms II. gebo­ren, wuss­te Bescheid, senk­te die Stim­me, flü­ster­te: Das ist die Schwindsucht.

War­um aber flü­ster­te sie, als habe der/​die Kran­ke Schimpf und Schan­de über Fami­lie, Haus und Dorf gebracht? Bei Ulri­ke Moser fand ich die mut­maß­li­che Ant­wort: Die­ses Flü­stern war wohl die Spät­fol­ge der NS-Pro­pa­gan­da, als die Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se nicht allein als per­sön­li­ches Leid emp­fun­den wor­den war, son­dern als Angriff auf den »gesun­den Volks­kör­per« der Deutschen.

Die Indok­tri­na­ti­on, ich lese es in Mosers Buch, nahm Ende des 19. Jahr­hun­derts in Eng­land mit einer Bewe­gung ihren Anfang, für die deren Grün­der Fran­cis Gal­ton, ein Vet­ter Charles Dar­wins, den Begriff »Euge­nics« präg­te. Die Euge­nik wur­de als Wis­sen­schaft defi­niert, »die sich mit allen Ein­flüs­sen befasst, wel­che die ange­bo­re­nen Eigen­schaf­ten einer Ras­se ver­bes­sern und wel­che die­se Eigen­schaf­ten zum größt­mög­li­chen Vor­teil der Gesamt­heit zur Ent­fal­tung brin­gen« (Moser zitiert hier die Defi­ni­ti­on der Histo­ri­ke­rin Doris Kaufmann).

Aus­ge­hend von der Theo­rie sei­nes Cou­sins vom »Kampf ums Dasein« mach­te Gal­ton die bio­lo­gi­sche Aus­le­se »zu einem sozia­len und poli­ti­schen Modell«. Schon im Deut­schen Kai­ser­reich wur­de Ende des 19. Jahr­hun­derts aus der eng­li­schen »Eugenics«-Bewegung die spe­zi­fisch deut­sche »Gesell­schaft für Ras­sen­hy­gie­ne«. Eines ihrer Mit­glie­der war Ger­hart Hauptmann.

Moser: Die­se »Ras­sen­hy­gie­ne woll­te einen ›gesun­den Volks­kör­per‹ der Zukunft schaf­fen, indem sie ver­hin­der­te, dass kran­ke Erb­an­la­gen wei­ter­ge­ge­ben wer­den konn­ten. Gemeint waren damit auch Schwind­süch­ti­ge. Zwar war der Erre­ger bekannt, den­noch blieb rät­sel­haft, war­um nicht jeder Infi­zier­te auch tat­säch­lich erkrank­te. Wur­de das Lei­den etwa doch direkt ver­erbt? Oder wur­de eine Dis­po­si­ti­on, an der Tuber­ku­lo­se zu erkran­ken, von den Eltern an die Kin­der wei­ter­ge­reicht, wie eini­ge Ras­sen­hy­gie­ni­ker und Ärz­te fol­ger­ten? Die Fra­ge, ob und wie Krank­hei­ten sich ver­er­ben, wur­de für Ras­sen­hy­gie­ne und Euge­nik zu eige­nen wis­sen­schaft­li­chen Disziplinen.«

Die Autorin zeigt, wie »die sozia­len und demo­gra­fi­schen Fol­gen« des Ersten Welt­kriegs die ras­sen­hy­gie­ni­sche Dis­kus­si­on »radi­ka­li­sier­ten, wel­che von ›völ­ki­schen‹ Kräf­ten zusätz­lich ange­sta­chelt wur­de«. Schon 1923 bezeich­ne­te der Hygie­ni­ker Alfred Grot­jahn in der drit­ten Auf­la­ge »sei­nes Stan­dard­wer­kes ›Sozia­le Patho­lo­gie‹ die Tuber­ku­lo­se als ›Krank­heit der kör­per­lich min­der­wer­ti­gen Per­so­nen‹«. Im sel­ben Jahr rief ein zu der Zeit noch ziem­lich unbe­kann­ter Adolf Hit­ler auf einer NSDAP-Ver­samm­lung in Mün­chen sei­nen Zuhö­re­rin­nen und Zuhö­rern zu: »Der Jude ist das Eben­bild des Teu­fels. Das Juden­tum bedeu­tet Ras­sen­tu­ber­ku­lo­se der Völ­ker« (Moser zitiert hier aus einem Buch des Histo­ri­kers Dirk Blasius).

Von hier bis zu den Men­schen­ver­su­chen kran­ker Hir­ne, spe­zi­ell den Tuber­ku­lo­se­ex­pe­ri­men­ten in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern des »Drit­ten Rei­ches«, war es ideo­lo­gisch nur noch ein klei­ner Schritt. Am Ende die­ses Buch­ka­pi­tels vol­ler Grau­en steht der Kin­der­mord am Bul­len­hu­ser Damm in Ham­burg. Im Kel­ler der ehe­ma­li­gen Schu­le ermor­de­te die SS 1945 im April 20 Kin­der zwi­schen fünf und zwölf Jah­ren sowie min­de­stens 48 Erwach­se­ne aus dem KZ Neu­en­gam­me, dem nahe gele­ge­nen größ­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Nord­west­deutsch­lands. Sie wur­den vor den näher rücken­den Alli­ier­ten aus dem Wege geschafft, waren sie doch Opfer und Zeu­gen ver­bre­che­ri­scher Tuberkulose-Experimente.

»Eine ande­re deut­sche Gesell­schafts­ge­schich­te« lau­tet der Unter­ti­tel des Buches. Und eine wahr­lich ande­re Geschich­te ist es, die in den Tei­len I bis III erzählt wird. Das zei­gen schon die Über­schrif­ten der Kapi­tel: »Roman­ti­sches Fie­ber« ist der zwei­te Haupt­teil benannt, denn: »Kei­ne Krank­heit hat von der Roman­tik bis zur Moder­ne einen ähn­li­chen Nach­hall und viel­ge­stal­ti­ge Dar­stel­lung in der Lite­ra­tur und Kul­tur gefun­den wie die Schwind­sucht.« Moser nennt unter ande­rem: Cho­pin, krank an Schwind­sucht auf Mal­lor­ca, Arthur Schnitz­lers Novel­le »Ster­ben« mit dem schwind­süch­ti­gen Felix, Theo­dor Fon­ta­nes »Effi Briest«, Leo Tol­stois Lewin in »Anna Kare­ni­na«, Maxim Gor­kis Anna im »Nacht­asyl«, Tho­mas Mann und »Der Zau­ber­berg«, im Schwind­sucht-Kur­ort Davos ange­sie­delt, Nova­lis, Kaf­ka, Kla­bund, alle an Schwind­sucht erkrankt. Und Ver­di »zeigt in ›La Tra­via­ta‹ zum ersten Mal den Tod durch Schwind­sucht … auf der Opernbühne«.

Die Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se gehör­te seit Beginn der indu­stri­el­len Revo­lu­ti­on zu den gro­ßen Seu­chen und stell­te – laut Brock­haus-Enzy­klo­pä­die – noch um die Wen­de vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert in Mit­tel­eu­ro­pa die häu­fig­ste Todes­ur­sa­che dar. Wäh­rend Künst­ler und Lite­ra­ten durch die Krank­heit »gezeich­net und aus­ge­zeich­net«, »ver­fei­nert« wur­den in ihren Gesichts­zü­gen, star­ben »Bau­ern oder Fabrik­ar­bei­ter … in ihren Katen oder Hin­ter­häu­sern, ohne von ihrem Leid einen Bericht zu hin­ter­las­sen«. »Krank­heit der Pro­le­ta­ri­er« heißt daher fol­ge­rich­tig der drit­te Teil des Buches. In dem Kapi­tel begeg­nen wir auch Hein­rich Zil­le (»Vom Arme­leu­te­kind zum Arme­leu­te­ma­ler«), Edvard Munch (»Ein Maler von Krank­heit, Angst und Tod«) und Oskar Kokosch­ka (»Kran­ken­bild­nis­se aus dem Schwei­zer Sanatorium«).

Mit ihrem Buch gelang Ulri­ke Moser, ich pflich­te dem Ver­lag bei, »ein neu­er, ori­gi­nel­ler Blick auf die Geschich­te der deut­schen Gesell­schaft«. Und selbst­ver­ständ­lich fehlt auch die Dar­stel­lung des Kamp­fes um die Ent­deckung des Erre­gers der Infek­ti­ons­krank­heit nicht, bis hin zu jenem Tag im Jahr 1944, als es Wis­sen­schaft­lern in den USA gelang, aus dem Stoff­wech­sel­pro­dukt eines Pil­zes das Anti­bio­ti­kum Strep­to­my­zin zu ent­wickeln. Von da an war »die Dia­gno­se Tuber­ku­lo­se … kein Todes­ur­teil mehr«. Aber das alles lesen Sie am besten selbst.

Ulri­ke Moser: »Schwind­sucht«, Matthes & Seitz, 264 Sei­ten, 26 €