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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein freundlicher Mensch

Am 28. Juli starb Peter Höl­len­rei­ner. Er war ein freund­li­cher Mensch. Freund­lich zu dem klei­nen, drei­far­big gescheck­ten Hünd­chen, das ihn in den letz­ten Jah­ren über­all­hin beglei­te­te. Freund­lich zu den Kin­dern, die bei den Ver­an­stal­tun­gen im Kul­tur­haus von Mün­chen-Hasen­bergl ihr musi­ka­li­sches Kön­nen zeig­ten. Freund­lich zu uns und den ande­ren Ver­an­stal­tungs­be­su­chern, egal ob Sin­ti, Roma oder nicht der Min­der­heit ange­hö­ren­de »Gad­sche«. Aber er konn­te auch sehr zor­nig wer­den. Das war immer der Fall, wenn er spür­te, dass ihm und sei­nes­glei­chen nicht die gebüh­ren­de Ach­tung ent­ge­gen­ge­bracht wurde.

Peter Höl­len­rei­ner war ein Münch­ner Sin­to. Ein Deut­scher, dar­auf leg­te er Wert. Nicht weil er Deutsch-Sein für etwas Beson­de­res hielt, son­dern weil er klar­stel­len woll­te, dass Deutsch-Sein für Sin­ti genau so nor­mal ist wie für Nicht-Sin­ti. Das müss­te eigent­lich selbst­ver­ständ­lich sein. Ist es aber bis heu­te nicht – und war es in der Ver­gan­gen­heit erst recht nicht.

Auf Peter Höl­len­rei­ners lin­kem Unter­arm war, wenn er den Ärmel hoch­krem­pel­te, eine Num­mer zu sehen: Z 3531. Sei­ne KZ-Num­mer. Sie wur­de ihm ein­tä­to­wiert, als er am 16. oder am 18. März 1943 – einen Tag vor oder einen Tag nach sei­nem vier­ten Geburts­tag (die Anga­ben schwan­ken) – im »Zigeu­ner­la­ger« Ausch­witz-Bir­ken­au ankam, zusam­men mit sei­nen Eltern, sei­nen fünf älte­ren Geschwi­stern, sei­nen Onkeln und Tan­ten, Cou­sins und Cou­si­nen sowie Hun­der­ten wei­te­rer Deut­scher aus der Grup­pe der Sin­ti und Roma. Sechs schreck­li­che Tage und fünf ent­setz­li­che Näch­te lang waren sie in über­füll­ten Vieh­wag­gons aus Bay­ern ins besetz­te Polen gekarrt wor­den. Nach Mei­nung der faschi­sti­schen deut­schen Macht­ha­ber hat­ten sie kein Recht, sich Deut­sche zu nen­nen, nicht ein­mal das Recht, zu leben. Fünf­hun­dert­tau­send Sin­ti und Roma aus dem NS-besetz­ten Euro­pa fie­len dem Ras­sen­wahn der Nazis zum Opfer, etwa fünf­und­zwan­zig­tau­send wur­den nach Ausch­witz depor­tiert, die mei­sten von ihnen dort umge­bracht. Allein die Fami­lie Höl­len­rei­ner hat­te 39 ermor­de­te Ange­hö­ri­ge zu bekla­gen. Wer über­leb­te, hat­te die Höl­le durchgemacht.

Peter Höl­len­rei­ner hat über­lebt, und wie durch ein Wun­der kehr­ten auch sei­ne Eltern und alle sei­ne Geschwi­ster nach der Befrei­ung nach Mün­chen zurück. An die Zeit in den Lagern – auf neun Mona­te Ausch­witz folg­ten noch die KZs Ravens­brück, Maut­hau­sen und Ber­gen-Bel­sen – konn­te sich der Jun­ge nach 1945 nur bruch­stück­haft erin­nern. Trotz­dem litt er schwer unter den trau­ma­ti­sie­ren­den Erleb­nis­sen. Lebens­lang pei­nig­ten ihn nicht nur kör­per­li­che Fol­ge­schä­den, son­dern auch Alb­träu­me und Angstzustände.

Wie wenn nichts gewe­sen wäre
Maria Anna Wil­ler, die Peter Höl­len­rei­ners Leben auf­ge­schrie­ben hat, resü­miert den Zustand des Kin­des, das mit sechs Jah­ren schon unvor­stell­ba­re Schrecken hin­ter sich hat­te und nun schul­pflich­tig gewor­den war: »Die Schul­zeit beginnt für ihn, wie wenn nichts gewe­sen wäre. Doch er hat­te sei­ne Klein­kin­der­zeit unter Todes­ge­fahr ver­bracht. Im Kin­der­gar­ten erkun­den Kin­der die Welt, machen ihre ersten Schrit­te, fin­den erste Freun­de, bau­en Sand­bur­gen, las­sen ihrem Spiel­trieb und ihrer Neu­gier­de frei­en Lauf. Peters Erfah­rung und Erin­ne­rung in die­sem Alter war, dass ein Mann in Uni­form auf ein Kind, das mit dem Ball spielt, schießt, dass in meter­ho­hen Zäu­nen lebens­ge­fähr­li­cher Strom fließt und dass Kin­der von Men­schen in Uni­form ein­fach erschos­sen wer­den dür­fen.« Erfah­run­gen des Aus­ge­lie­fert-Seins, der Ohn­macht, der Wehrlosigkeit.

Der Staat, in den die Über­le­ben­den zurück­ge­kehrt sind, ist nicht geeig­net, das ver­lo­re­ne Ver­trau­en in die Mit­men­schen wie­der­her­zu­stel­len. Es sind nicht nur die gewalt­tä­ti­gen, wei­ter­hin mit ras­si­sti­schen Vor­ur­tei­len voll­ge­stopf­ten Leh­rer, deren »Erzie­hung« Peter aus­ge­lie­fert ist. Die Vor­ur­tei­le sind all­ge­gen­wär­tig. Noch im Jahr 2014 sagt Höl­len­rei­ner: »Der Zigeu­ner ist in den Köp­fen drin.« Anfang 1956 – Peter ist sieb­zehn Jah­re alt – weist der Bun­des­ge­richts­hof die Beschwer­de eines ehe­ma­li­gen KZ-Häft­lings gegen die Ableh­nung sei­nes Ent­schä­di­gungs­an­trags ab und bestä­tigt die Auf­fas­sung der Vor­in­stanz, wonach Sin­ti und Roma zum gro­ßen Teil nicht aus ras­si­sti­schen Grün­den in die KZs depor­tiert wor­den sei­en, son­dern wegen eines angeb­li­chen ange­bo­re­nen Hangs zur Kri­mi­na­li­tät. Sie sei­en selbst schuld gewe­sen, heißt das, und daher hät­ten sie kei­nen Anspruch auf Ent­schä­di­gung. Das Urteil und sei­ne Begrün­dung offen­ba­ren den unge­bro­che­nen Ras­sis­mus des ober­sten Gerichts der BRD: »Die Zigeu­ner .… nei­gen, wie die Erfah­rung zeigt, zur Kri­mi­na­li­tät, beson­ders zu Dieb­stäh­len und Betrü­ge­rei­en«, heißt es da. Und: »Es feh­len ihnen viel­fach die sitt­li­chen Antrie­be der Ach­tung vor frem­dem Eigen­tum, weil ihnen wie pri­mi­ti­ven Urmen­schen ein unge­hemm­ter Okku­pa­ti­ons­trieb eigen ist …« Kei­ne Ach­tung vor frem­dem Eigen­tum? Unge­hemm­ter Okku­pa­ti­ons­trieb? Als vor 1945 die deut­schen Her­ren­men­schen hem­mungs­los das Hab und Gut ihrer Opfer stah­len und deren Eigen­tum zer­stör­ten, hat­ten die­sel­ben Rich­ter kein Unrecht erkannt. Als die deut­sche Wehr­macht ein Land nach dem ande­ren okku­pier­te, hat­ten sie nicht dage­gen pro­te­stiert. Jetzt beschul­dig­ten die Täter ihre Opfer der Ver­bre­chen, die sie selbst began­gen hat­ten. Es dau­er­te sech­zig Jah­re, bis sich 2016 die dama­li­ge Prä­si­den­tin des BGH, Bet­ti­na Lim­perg, offi­zi­ell ent­schul­dig­te (s. Ossietzky 7/​2017).

Trotz alle­dem
»Der Zigeu­ner ist in den Köp­fen drin« – Peter Höl­len­rei­ner erfährt es in die­sen Jah­ren täg­lich, in der Schu­le, bei der Lehr­stel­len­su­che, auf dem Sport­platz, in der Wirt­schaft, vor Gericht. Man darf ihn unge­straft zurück­set­zen, belei­di­gen, grund­los ver­däch­ti­gen, ihn ver­ur­tei­len für Din­ge, die er nicht getan hat. Wenn er erklä­ren will, wie es war, hört man ihm nicht zu. Ein Rich­ter über ihn wäh­rend einer Ver­hand­lung: »Der hat doch die Schlech­tig­keit schon mit der Mut­ter­brust ein­ge­nom­men.« Bei der Poli­zei, in den Behör­den sind noch Per­so­nen zugan­ge, die schon bei den Depor­ta­tio­nen in den 1940er Jah­ren mit­ge­wirkt haben. Die Akten der »Reichs­zen­tra­le zur Bekämp­fung des Zigeu­ner­un­we­sens« sind wei­ter­hin in Gebrauch. Die »Zigeu­ner­po­li­zei« ist unter dem Namen »Land­fah­rer­zen­tra­le« wie­der auf­er­stan­den; erst 1970 wird sie auf­ge­löst. Die Rich­ter, die Recht spre­chen sol­len, ken­nen das Urteil des Bun­des­ge­richts­ho­fes und hal­ten sich dar­an. Die­se Rich­ter sind nicht in der Lage, staat­li­ches Unrecht als sol­ches zu erken­nen. Erst 1982 wird die Ermor­dung einer hal­ben Mil­li­on Sin­ti und Roma durch den dama­li­gen Bun­des­kanz­ler Hel­mut Schmidt »in völ­ker­recht­lich rele­van­ter Wei­se« als Völ­ker­mord anerkannt.

Peter Höl­len­rei­ner lässt sich nicht unter­krie­gen und wird trotz allem ein erfolg­rei­cher Kauf­mann. Er kann gut mit den Bau­ern in der Umge­bung von Mün­chen. Die ver­kau­fen ihm ihre alten Zinn­krü­ge sowie manch alten Schrank und man­ches aus­ran­gier­te Erb­stück. Er hat einen Blick für Schö­nes, restau­riert lie­be­voll die Fund­stücke. Er han­delt mit Anti­qui­tä­ten, spä­ter mit Schmuck und teu­ren Uhren. Er kauft ein Haus, hei­ra­tet und hat vier Kin­der. Glück habe er gehabt, sagt er.

Die KZ-Num­mer auf sei­nem Unter­arm lässt er ent­fer­nen. Das muss in der Zeit gewe­sen sein, die er als Glück bezeichnete.

Dass nicht ver­ges­sen wird
Vie­le Jah­re spä­ter, 2015, lässt er die Num­mer neu täto­wie­ren. »Der Zigeu­ner«, stellt er fest, »ist noch immer in den Köp­fen.« Zwar hat sich viel ver­än­dert. Es gibt jetzt eine akti­ve Bür­ger­rechts­be­we­gung der Sin­ti und Roma. Der Hun­ger­streik zu Ostern 1980 in der KZ-Gedenk­stät­te Dach­au hat inter­na­tio­na­les Auf­se­hen erregt und die öffent­li­che Auf­merk­sam­keit auf die fort­ge­setz­te Dis­kri­mi­nie­rung der Min­der­heit gelenkt. Der Zen­tral­rat Deut­scher Sin­ti und Roma wur­de gegrün­det und ist zu einer ver­nehm­ba­ren Stim­me gewor­den. In Bun­des­tag und Bun­des­rat fin­den jetzt an bestimm­ten Jah­res­ta­gen offi­zi­el­le Gedenk­ver­an­stal­tun­gen statt. In Mün­chen gibt es seit 1995 am Ran­de des Plat­zes der Opfer des deut­schen Faschis­mus eine Gedenk­plat­te für die ermor­de­ten Sin­ti und Roma aus der Lan­des­haupt­stadt. Bei der Ein­wei­hung ist Peter Höl­len­rei­ner dabei gewe­sen, auch wenn ihm die Plat­te zu unschein­bar ist. Auch an der Ein­wei­hung des von dem israe­li­schen Künst­ler Dani Kara­van schön gestal­te­ten Mahn­mals in Ber­lin hat der Münch­ner 2012 auf Ein­la­dung von Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel teil­ge­nom­men. Die offi­zi­el­le Aner­ken­nung des Völ­ker­mor­des liegt da bereits drei­ßig Jah­re zurück. In die­ser Zeit ist Peter Höl­len­rei­ner zum akti­ven Mit­glied der Bür­ger­rechts­be­we­gung gewor­den. Beson­ders die Jugend ist ihm wich­tig. Sie muss dafür sor­gen, dass nicht ver­ges­sen wird, was »damals« geschah, vor und auch nach 1945. Im August 2015 erscheint sei­ne Bio­gra­fie. »Der Jun­ge aus Ausch­witz … eine Begeg­nung – Das Leben des Münch­ner Sin­to Peter Höl­len­rei­ner nach 1945« heißt sie. Höl­len­rei­ner hat in vie­len Sit­zun­gen der Jour­na­li­stin Maria Anna Wil­ler erzählt, was zu erzäh­len ihm mög­lich war. Oft bra­chen die Schil­de­run­gen jäh ab: »Das kann man nicht erzäh­len …« Oder: »Das kann man sich nicht vorstellen.«

Kurz vor dem Erschei­nen des Buches, im Juni 2015, ist Peters Bru­der Hugo Höl­len­rei­ner gestor­ben, ein enga­gier­ter Zeit­zeu­ge und Peters Vor­bild. Sei­ne Arbeit will Peter fort­set­zen. Dabei geht es ihm nicht nur um das Wohl­erge­hen der Sin­ti und Roma. Er weiß: Wie die Gesell­schaft mit Min­der­hei­ten umgeht, ist ein Maß­stab für den Zustand der Demokratie.

Im Juli 2016 kehrt er zum ersten Mal nach Ausch­witz zurück. Anläss­lich des katho­li­schen Welt­ju­gend­ta­ges in Kra­kau besucht Papst Fran­zis­kus die Gedenk­stät­te. Zwölf Über­le­ben­de dür­fen ihn beglei­ten. Einer davon ist Peter Höl­len­rei­ner – ein High­light im Leben des gläu­bi­gen Katho­li­ken. Anschlie­ßend nimmt er an der Gedenk­fei­er zum 72. Jah­res­tag der Liqui­die­rung des »Zigeu­ner­la­gers« und der Ermor­dung der dar­in ver­blie­be­nen mehr als 3000 Sin­ti und Roma teil. Am 2. August 2017 hält er die Anspra­che als Ver­tre­ter der Über­le­ben­den. Auch in den dar­auf fol­gen­den Jah­ren reist er, trotz sei­ner ange­schla­ge­nen Gesund­heit und den mit der Rei­se ver­bun­de­nen Stra­pa­zen, zu den Gedenk­fei­er­lich­kei­ten am 2. August nach Auschwitz-Birkenau.

Auch in die­sem Jahr woll­te er dabei sein. Es war ihm nicht mehr mög­lich. Weni­ge Tage davor starb er im Krei­se sei­ner Familie.