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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Über Gräbern weht der Wind

Im Jahr 1943 waren wir 17-jäh­ri­gen Schü­ler der Lili­en­thal-Ober­schu­le in Anklam noch nicht reif für das Abitur, aber reif für den Kriegs­dienst. Wer nicht ris­kie­ren woll­te, zur Waf­fen-SS ein­ge­zo­gen zu wer­den, muss­te sich »frei­wil­lig« zu einer erwünsch­te­ren Waf­fen­gat­tung mel­den. So kam ich als dama­li­ger, in Pom­mern zuge­las­se­ner Forst­an­wär­ter zur »Divi­si­on Her­mann Göring«.

Mein erster Front­ein­satz fand im Janu­ar 1944 in Ita­li­en statt, das nach dem Sturz Mus­so­li­nis nicht mehr mit Hit­ler-Deutsch­land ver­bün­det, son­dern Fein­des­land gewor­den war. Süd­lich von Rom hat­ten ame­ri­ka­ni­sche Trup­pen den Brücken­kopf bei Nett­u­no gebil­det. Als wir in Rom anka­men, emp­fing uns die Nach­richt, dass ein Kame­rad, der in der Aus­bil­dungs­kom­pa­nie in den Nie­der­lan­den auf mei­ner Stu­be gele­gen hat­te und in einem frü­he­ren Trans­port eini­ge Tage vor uns in Ita­li­en ein­ge­trof­fen war, bei sei­nem ersten Front­ein­satz umge­kom­men war. Er war auf eine Mine gelau­fen. Er hat­te eine schö­ne Tenor­stim­me und uns oft mit sen­ti­men­ta­len Lie­dern wie »Mamat­schi, schenk mir ein Pferd­chen« erfreut. Wir erfuh­ren, dass er auf dem Ster­be­bett einen Brief an sei­ne Eltern dik­tiert hat­te, der nach sei­nem Tod vor der Kom­pa­nie als muster­gül­tig ver­le­sen wur­de, ein Hohe­lied auf den Sinn sei­nes Lebens und Ster­bens im Sin­ne der damals herr­schen­den Ideo­lo­gie. Wenn er län­ger hät­te leben dür­fen, wäre aus ihm wahr­schein­lich ein Sän­ger von Pete See­gers Lied »Sag mir, wo die Blu­men sind« gewor­den, aus dem ich eine Zei­le als Über­schrift die­ses Tex­tes gewählt habe.

Unser Leben ging mit dem bewaff­ne­ten Kampf gegen ame­ri­ka­ni­sche Sol­da­ten wei­ter, die sich die­ses mör­de­ri­sche Hand­werk eben­so wenig wie wir aus­ge­sucht hat­ten. Da stan­den wir in Schüt­zen­lö­chern, die wir bei Dun­kel­heit in gerin­ger Ent­fer­nung gegen­über einer ame­ri­ka­ni­schen Schüt­zen­li­nie gegra­ben hat­ten. Den dazu nöti­gen Klapp­spa­ten hat­te ich mir von einem Kame­ra­den gelie­hen, da er in mei­ner Aus­rü­stung fehl­te. Er war im Stel­lungs­krieg ein lebens­wich­ti­ges Gerät. Etwa 50 Meter ent­fernt lag im Schuss­feld der ver­fein­de­ten Lini­en ein toter ame­ri­ka­ni­scher Sol­dat mit einem Klapp­spa­ten am Gür­tel. Den muss­te ich haben. Es war gewagt, in der Nacht zu dem toten Sol­da­ten zu rob­ben, denn man muss­te damit rech­nen, dass die Ame­ri­ka­ner in der Nacht ver­su­chen wür­den, ihren toten Kame­ra­den zu ber­gen. Was wür­de bei einer nächt­li­chen Begeg­nung der Fein­de gesche­hen? Aber ich hat­te Glück und kam den Ame­ri­ka­nern zuvor, nahm den Klapp­spa­ten und kehr­te heil zurück. Dem unbe­kann­ten toten Kame­ra­den, der mir zu einem Klapp­spa­ten ver­hol­fen hat­te, bewahr­te ich ein dank­ba­res Angedenken.

Der Auf­ent­halt im Schüt­zen­loch war nicht ange­nehm. Die uns gegen­über ein­ge­gra­be­nen Ame­ri­ka­ner ent­deck­ten die vor unse­ren Schüt­zen­lö­chern auf­ge­wor­fe­nen Erd­hü­gel und gaben ab und zu Schüs­se ab, die Erde auf­wir­bel­ten. Da zog man den Kopf ein und konn­te stun­den­lang dar­über nach­den­ken, was pas­sie­ren wür­de, wenn ame­ri­ka­ni­sche Pan­zer über unse­re Schüt­zen­lö­cher rol­len und sich dar­über dre­hen und uns zer­mal­men wür­den. Unser ein­zi­ger Schutz war, dass die Ame­ri­ka­ner nicht wuss­ten, wie schutz­los wir ohne pan­zer­bre­chen­de Waf­fen waren.

Das­sel­be galt für eine schlaf­lo­se Nacht auf dem Bahn­damm von Lit­to­ria, wo wir die Erwei­te­rung des ame­ri­ka­ni­schen Brücken­kop­fes nach dem Prin­zip der Abschreckung ver­hin­der­ten. Da wur­den wir in loser Rei­he hin- und her­ge­scheucht, statt zu schla­fen, und muss­ten von Zeit zu Zeit Schüs­se in die Rich­tung abge­ben, aus der wir beschos­sen wur­den, ohne einen Feind zu sehen. Erst aus einem Buch von Ger­hard Zwe­renz, das ich lan­ge nach dem Krieg las, erfuhr ich, dass wir eine zusam­men­hän­gen­de Schüt­zen­li­nie vor­täu­schen sollten.

Als MG-Schüt­ze 3 war ich für das Tra­gen von Muni­ti­ons­kä­sten zustän­dig. Ich schlepp­te zwei Kästen, von denen jeder zehn Kilo wog, viel zu schwer für eine noch im Wach­sen befind­li­che Wir­bel­säu­le. Ich war schließ­lich so erschöpft und außer Atem, dass ich mit mei­ner Grup­pe nicht Schritt hal­ten konn­te und weit zurück­blieb. Der Bahn­damm lag unter Gra­nat­wer­fer­be­schuss. Aber ich war schließ­lich zu erschöpft, um mich jedes Mal, wenn sich eine Gra­na­te heu­lend näher­te, hin­zu­wer­fen und nach der Explo­si­on wie­der auf­zu­ste­hen. Ich erin­ne­re mich deut­lich an mei­nen Gedan­ken: Wenn mich eine Gra­na­te trifft und ver­wun­det oder tötet, ist die­se Quä­le­rei vorbei.

Da fand mich ein­sam einher­stap­fen­den Sol­da­ten mein Kom­pa­nie­füh­rer, Leut­nant Eich­horn, und ich mach­te mich auf einen »Anpfiff« gefasst. Aber der freund­li­che, aus dem Mann­schafts­stand zum Offi­zier auf­ge­stie­ge­ne Mensch erkann­te mei­ne kör­per­li­che Schwä­che und sprach mir Mut zu. Auch an ihn den­ke ich dank­bar zurück. Aber zugleich mit trau­ri­gen Gedan­ken und Gefüh­len, denn er ist einen Tag nach der Begeg­nung zu Tode gekommen.

Es war wohl am sel­ben Tag, als ich mich beim Arzt mel­de­te, um ihm mei­ne infol­ge drücken­der Stie­fel ver­ei­ter­ten Füße zu zei­gen. Der Arzt war ein Glücks­fall für mich, denn er erkann­te, dass der Grund für mei­nen Erschöp­fungs­zu­stand und mei­ne Atem­not eine Lun­gen­ent­zün­dung war, die ich mir in eis­kal­ten, schlaf­lo­sen Näch­ten zuge­zo­gen hat­te. Er sorg­te dafür, dass ich nach Orvie­to und von dort mit einem Laza­rett­zug nach Cor­ti­na d’Ampezzo trans­por­tiert wur­de, wo mich drei Mona­te in fried­li­cher Umge­bung erwar­te­ten und ich von einem kom­pe­ten­ten Arzt (Prof. Dr. Lapp aus Wien) und für­sorg­li­chen, hei­ter gestimm­ten Schwe­stern betreut wurde.

Kurz vor Kriegs­en­de wäre ich dann doch noch bei­na­he für den aus­sichts­lo­sen End­sieg »ver­heizt« wor­den, wie man das im mili­tä­ri­schen Slang nann­te. Die Rote Armee der Sowjet­uni­on rück­te inzwi­schen in Schle­si­en und Sach­sen vor. Ich erin­ne­re mich an eine Nacht in Baut­zen, wo ich mit zwei Kame­ra­den in einem ver­las­se­nen Wohn­haus an einem offe­nen Fen­ster saß, hin­ter dem wir ein schwe­res Maschi­nen­ge­wehr auf­ge­baut hat­ten. Wir sahen gegen­über eine bren­nen­de Schu­le, aus der rus­si­sche Sol­da­ten ver­geb­lich zu flüch­ten ver­such­ten. Eine ent­setz­li­che Erin­ne­rung. Wir ver­lie­ßen Baut­zen mit dem Gefühl, eine deut­sche Stadt zurück­er­obert zu haben. Auch an die Rück­erobe­rung eines Dor­fes erin­ne­re ich mich. Es war bereits von den Sol­da­ten der Roten Armee geräumt, als wir ein­rück­ten, ohne dass es unse­rer­seits irgend­wel­cher Hel­den­ta­ten bedurf­te. Aber dann sahen wir einen rus­si­schen Sol­da­ten, der offen­bar den Abzug sei­ner Kame­ra­den ver­schla­fen hat­te und nun mit über dem Kopf gefal­te­ten Hän­den im Vor­gar­ten eines Bau­ern­hau­ses knie­te und von deut­schen Sol­da­ten umge­ben war, von denen einer Rus­sisch konn­te und sich mit dem Mann unter­hielt. Der Rus­se erzähl­te von sei­ner Frau und sei­nen Kin­dern. Viel­leicht hoff­te er auf eine mensch­li­che Regung sei­ner deut­schen Kame­ra­den. Auch ich hoff­te dar­auf. Aber dann über­setz­te der deut­sche Sol­dat einen Satz, der alle Hoff­nung zunich­te­mach­te: »Ich weiß, dass ihr mich erschie­ßen wer­det.« Da habe ich mich hastig ent­fernt, um das nicht mitzuerleben.

Und dann kam mein letz­ter Kampf­tag, der 27. April 1945. Wir lagen in einem Wald­stück bei dem Dorf Lup­pe­du­brau. In einer mei­ner Schub­la­den befin­det sich ein Schreib­ma­schi­nen­durch­schlag auf hauch­dün­nem Papier mit einem allen Sol­da­ten des Batail­lons bekannt­ge­ge­be­nen »Tages­be­fehl« des Kom­man­die­ren­den Gene­rals unse­res Pan­zer­korps vom 20. April 1945, dem letz­ten Geburts­tag des »Füh­rers«. Da heißt es: »Mor­gen tre­tet Ihr erneut zum Angriff gegen den Bol­sche­wi­sten an, der, wenn auch unter sehr hohen Ver­lu­sten, wie­der in unse­re deut­sche Hei­mat ein­bre­chen konnte.«

»Wie­der ein­bre­chen«? Wer war am 22. Juni 1941 in wel­ches Land eingebrochen?

»Von jedem Ein­zel­nen von Euch hängt es ab, ob die vor­mar­schie­ren­den Feind­hor­den zum Ste­hen gebracht wer­den. In Eurer Hand liegt das Schick­sal von Mil­lio­nen deut­scher Frau­en und Kinder.«

Und so ende­te der Tages­be­fehl des Gene­rals: »Es lebe unser deut­sches Volk!

Es lebe unser Füh­rer Adolf Hitler!«

Adolf Hit­ler schoss sich drei Tage spä­ter eine Kugel in den Kopf. Und eine Woche dar­auf, am 8. Mai 1945, kapi­tu­lier­te die deut­sche Wehr­macht. Aber wir 19-jäh­ri­gen Jun­gen soll­ten noch in letz­ter Stun­de unser Leben ris­kie­ren und den deut­schen End­sieg errin­gen. Und das sah bei Lup­pe­du­brau so aus:

Wir soll­ten, wie wir das bei Kriegs­spie­len in der Hit­ler­ju­gend gelernt hat­ten, über eine Wie­se stür­men und die jen­seits am Wald­rand ste­hen­den rus­si­schen Pan­zer in Rich­tung Mos­kau zurück­drän­gen. Wir hat­ten nur Geweh­re in der Hand, mit denen wir gegen Pan­zer nichts aus­rich­ten konn­ten. Aber es gab ein rus­si­sches Geschütz, das irgend­wo ste­hen­ge­blie­ben war. Ein Kame­rad kann­te sich mit der Bedie­nung aus und gab einen Schuss ab. Er erziel­te einen Zufalls­tref­fer, ein Pan­zer ging in Flam­men auf. Wir jubel­ten. Erst spä­ter begriff ich, dass wir auch über den Tod von Men­schen geju­belt hatten.

Aber dann wur­den wir beschos­sen, und eine Gra­na­te explo­dier­te in mei­ner Nähe. Ein neben mir lau­fen­der Kame­rad, der mit mir befreun­de­te Ober­ge­frei­te Paul Hart­mann, stürz­te. Ein Gra­nat­split­ter war in sei­nen Kopf ein­ge­drun­gen, er war sofort tot. Mich traf ein Split­ter der­sel­ben Gra­na­te in die lin­ke Schul­ter und blieb dicht neben der Wir­bel­säu­le im Fleisch stecken, wo er noch heu­te im Rönt­gen­bild erscheint. Ein Gra­nat­split­ter, der mir viel­leicht das Leben ret­te­te, weil ich aus der Kampf­li­nie zurück­ge­zo­gen und abtrans­por­tiert wer­den musste.

Auf der Fahrt zum Trup­pen­ver­bands­platz wur­de das Sani­täts­fahr­zeug mit Gra­na­ten beschos­sen. Der Fah­rer stell­te den Wagen an der Wand eines Bau­ern­hau­ses ab. Er und sein Bei­fah­rer flüch­te­ten in den Kel­ler des Hau­ses. Ich blieb bewe­gungs­un­fä­hig auf der Bah­re im Wagen lie­gen. Eine Gra­na­te traf das Bau­ern­haus, Mau­er­schot­ter pras­sel­te auf das Dach des Fahr­zeugs. Auch durch­schlu­gen Gra­nat­split­ter das Blech des Wagens. Ich hat­te Todes­angst, erlitt aber kei­ne wei­te­ren Verletzungen.

Ich erreich­te schließ­lich den Trup­pen­ver­bands­platz, wo ich von einem Medi­zin­stu­den­ten namens Pasch­ke ver­sorgt wur­de, den ich aus Anklam kann­te. Auf der Lili­en­thal-Ober­schu­le war er eini­ge Klas­sen über mir gewe­sen, und in der Hit­ler­ju­gend hat­te er den Fan­fa­ren­zug als Tam­bour­ma­jor gelei­tet. Er zog eini­ge Klei­der­fet­zen aus mei­ner Wun­de und gab mir ein Glas Apfel­saft zu trin­ken, eine sel­te­ne Köst­lich­keit. Dann kam ich in eine kaum beleuch­te­te Höh­le, in der hun­der­te Ver­wun­de­te auf Stroh gela­gert waren und stöhn­ten. Ich erkann­te die Stim­me eines Ober­leut­nants, der offen­bar schwer ver­wun­det war und laut jam­mer­te. Ich hat­te kei­ne ange­neh­men Erin­ne­run­gen an ihn. Er hat­te mich ein­mal ein Tele­fon­ge­spräch mit­hö­ren las­sen, in dem er mei­ne sol­da­ti­schen Fähig­kei­ten bemän­gel­te und erzähl­te, dass ich nur zum Wache­ste­hen zu brau­chen sei. Aber als er jetzt nach sei­ner Mut­ter rief, tat er mir doch leid.

Pasch­ke sorg­te dafür, dass ich aus der fürch­ter­li­chen Höh­le geholt und in eine end­lo­se, mit Fahr­zeu­gen ver­se­he­ne Kolon­ne von Zivi­li­sten und Sol­da­ten auf­ge­nom­men wur­de, die durch die nörd­li­che Tsche­cho­slo­wa­kei nach Westen streb­te. Am 8. Mai 1945, dem Tag der deut­schen Kapi­tu­la­ti­on, ende­te mei­ne Flucht aus dem Krieg in Karls­bad, wo bei einem ame­ri­ka­ni­schen Posten Waf­fen und Sold­bü­cher abge­ge­ben wur­den. Dann kam ich in ein rie­si­ges Gefan­ge­nen­la­ger auf dem Flug­platz bei Eger, aus dem ich nach zwei Wochen in die Frei­heit ent­las­sen wurde.